Geiseldrama:Behörden korrigieren Opferzahlen stündlich nach oben

Lesezeit: 2 min

Einen Tag nach dem blutigen Ende des Geiseldramas wird das Ausmaß der Tragödie in Beslan langsam deutlich. Putin erklärte, der Einsatz von Gewalt sei nicht geplant gewesen.

Das Ausmaß des Blutbads von Beslan ist weit verheerender als befürchtet. Bis zum Samstagnachmittag bargen die Helfer 322 Leichen aus der zum Teil zerstörten und verminten Schule. Unter den Toten sind 155 Kinder.

Es werden weitere Tote unter den Trümmern des am Vortag gestürmten Gebäudes vermutet. Inoffiziell schloss man die Zahl von fast 500 Toten nicht aus. Die Behörden korrigierten die Gesamtzahl der Geiseln von ursprünglich 400 auf 1200.

Insgesamt wurden 704 Menschen verletzt, darunter mehr als 200 Kinder. Dutzende von verzweifelten Eltern warteten am Samstag noch immer auf Informationen über das Schicksal ihrer vermissten Kinder. In den Kliniken kämpfen die Ärzte noch um das Leben von fast 100 schwer verletzten Kindern.

"Sie haben gnadenlos auf die liegenden Menschen geschossen"

Alle 26 Geiselnehmer sind nach russischen Regierungsangaben ums Leben gekommen. Medienberichten zufolge soll dagegen vier Terroristen die Flucht gelungen sein.

"Unter den Toten sind Kinder, ihre Eltern, Lehrer sowie Angehörige der Sicherheitskräfte, die an der Aktion zur Befreiung der Geiseln beteiligt waren", zitierte die russische Agentur Interfax einen Vertreter des Krisenstabs in Beslan. "Mit Anbruch der Dämmerung haben die Rettungsmannschaften begonnen, die Trümmer zu beseitigen."

Viele der Geiseln sind offenbar durch die Explosionen im Schulgebäude sowie den Einsturz des Daches getötet worden. Eine Augenzeugin berichtete aber auch, dass die Terroristen unmittelbar nach der ersten Explosion in der Turnhalle wahllos aus automatischen Waffen auf die am Boden liegenden Kinder geschossen hätten.

"Sie haben gnadenlos auf die Menschen geschossen", erzählte die 34-jährige Alla Gadsijewa. Nach ihrer Schätzung waren zu diesem Zeitpunkt fast 1000 Geiseln in der Halle. "Und auch als sich die Terroristen in Richtung Kellertreppe zurückzogen, schossen sie weiter auf die Liegenden." Schon am Freitagabend hatten Sanitäter berichtet, dass ungewöhnlich viele der Geiseln Schusswunden im Rücken hatten.

Präsident Wladimir Putin kam am frühen Samstagmorgen zu einem Kurzbesuch in die Stadt im Kaukasus und sprach in einem Krankenhaus mit Opfern der Geiselnahme.

Der Einsatz von Gewalt zur Lösung des Geiseldramas sei nicht geplant gewesen, sagte Putin. Der Kremlchef ordnete die Abriegelung der betroffenen Teilrepublik Nordossetien an.

Die Sicherheitskräfte sollten gezielt nach Terroristen fahnden, forderte Putin. Der Präsident warnte seine Landsleute davor, mit den Geiselnehmern zu sympathisieren. "Wer sich von den Provokationen der Terroristen beeinflussen lässt, wird als ein Helfershelfer von uns betrachtet", drohte der Kremlchef in Beslan.

Die Geiselnehmer hätten beabsichtigt, den Hass zwischen den Völkern in der Region zu schüren und das Pulverfass Nordkaukasus in die Luft zu jagen.

Nach offiziellen Angaben dauerten die Gefechte mit einzelnen Terroristen bis zum Samstagmorgen an. Gegen 2.00 Uhr Ortszeit seien die letzten beiden Geiselnehmer im Schulgebäude getötet worden.

Einer der beiden Männer hatte sich im Keller verschanzt, der andere im ersten Stock. Der Einsatzstab sprach von insgesamt 27 erschossenen Terroristen. Nach vier weiteren Geiselnehmern werde in der Stadt Beslan gesucht. Auch unter den Polizisten, Soldaten und Rettungshelfern gab es mindestens zehn Tote.

Am Mittwochmorgen hatten mehrere Dutzend schwer bewaffnete Terroristen die Schule von Beslan überfallen und Kinder, Lehrer und Eltern in ihre Gewalt gebracht.

Mehr als 48 Stunden mussten die Geiseln unter dramatischen Bedingungen ohne Nahrung und Medikamente in dem Gebäude ausharren.

Nach Angaben des Einsatzstabes habe man am Freitagmittag das Gebäude stürmen müssen, nachdem die Terroristen auf fliehende Geiseln geschossen hätten. Zudem seien Sprengsätze in dem Gebäude gezündet worden. Nach der Räumung der Schule hätten Spezialisten vier scharfe Sprengsätze im Gebäude entschärft, hieß es.

Der blutige Ausgang des Geiseldramas löste weltweit Erschütterung aus. Der amerikanische Präsident George W. Bush sicherte Russland die Unterstützung der USA beim Kampf gegen Terroristen zu. Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer verurteilten die Tat der Geiselnehmer als abscheuliches Verbrechen.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: