Geheimniskrämerei des kommunistischen Regimes:Flammen in der Drachenstadt

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Einen Tag nach dem verheerendem Zugunglück sind die Nachrichten noch immer widersprüchlich, die Zahlen verwirrend, die Bilder unklar. Der relativ schnelle Hilferuf an die Adresse der internationalen Hilfsorganisationen zeigt aber, wie gewaltig die Katastrophe sein muss.

Von Kai Strittmatter und Henrik Bork

Dandong/Tokio, 23. April - Hier kam er durch, der Zug des Geliebten Führers, auf der Heimreise von Peking nach Pjöngjang. Am frühen Donnerstagmorgen, es war noch nicht hell, keine neugierigen Augen in der Nähe, passierte der gepanzerte Sonderzug Kim Jong Jls den Bahnhof Dancing.

Der Bahnhof Ryongchon nahe der chinesischen Grenze (Foto: Foto: dpa)

Der Zug: ein Geschenk des großzügigen Stalin an seinen Vater, den verstorbenen Großen Führer, den Gründer der Demokratischen Volksrepublik Korea. Dandong: die letzte Stadt auf chinesischem Boden, Außenposten des chinesischen Reiches am Nordufer des Yalu-Flusses. In der Schalterhalle des Bahnhofs von Dandong ein großes Banner: "Wenn du auf Reisen gehst, ist nichts sicherer als Zug fahren!"

Dann ging es über den Fluss, über die Grenze. Von einer Welt in eine andere. Drüben, am Südufer des Flusses, wurde der Zug langsamer: Die Gleise im Reich des Geliebten Führers lassen wenig mehr als Schritttempo zu.

Und 25 Kilometer später rollte der Sonderzug durch die Drachenstadt: Ryongchon. Da muss es ungefähr vier Uhr in der Frühe gewesen sein, wahrscheinlich schlief Kim Jong Jl, erholte sich von anstrengenden Tagen in Peking, wo er einen Toast nach dem anderen auf die chinesisch-nordkoreanische Freundschaft ausgebracht hatte. "Fest wie ein Fels" sei sie, hatte Kim Jong Jl bei seinem Bankett diese Woche mit Chinas Staatspräsident Hu Jintao gesagt. Was man bei Banketten eben so sagt.

So langsam fahren die Züge in diesem Staat, dass Kim Jong Jl wahrscheinlich noch immer nicht in seiner Hauptstadt Pjöngjang angelangt war, als ihn diese Nachricht erreichte: Drachenstadt ist explodiert, der Bahnhof dort aufgegangen in Flammen und Rauch. Ein Inferno für Tausende von Menschen - am Donnerstagmittag um 12.10 Uhr Ortszeit, nur acht Stunden nach seiner Durchfahrt.

Riesige Rauchwolken

Einen Tag später sind die Nachrichten noch immer widersprüchlich, die Zahlen verwirrend, die Bilder unklar. Sind es 3000 Tote, wie die Südkoreaner in der ersten Aufregung meldeten, sind es 54 oder 150, wie die Nordkoreaner in ihren ersten öffentlichen Äußerungen dagegenhalten?

Züge, mit Flüssiggas und Öl beladen, seien gegeneinander gestoßen, hieß es aus Südkorea. Nein, zwei mit Sprengstoff beladene Waggons hätten an einer Oberleitung Funken gefangen, lassen die Nordkoreaner über internationale Helfer mitteilen. Einem "Schlachtfeld" gleiche die Szenerie, zitiert Südkoreas Nachrichtenagentur Yonhap anonyme angebliche Augenzeugen, Trümmer seien noch Meilen entfernt niedergegangen.

Auf Satelliten-Fotos sieht man gewaltige schwarze Rauchwolken aufsteigen über der rund 130.000 Einwohner zählenden Stadt, die auch viele Stunden nach dem schrecklichen Ereignis noch halb verhüllt ist.

Und was sagen sie in Dandong, gerade mal 25 Kilometer entfernt, auf der chinesischen Seite der Grenze? "Die Züge fahren wie normal, so schlimm kann es nicht sein", meint die Obstverkäuferin am Bahnhof. "Schau mal, wir sind hier so nah und haben nichts mitbekommen."

Genau. So ein Land ist Nordkorea: dass der Satellit näher dran ist an Ryongchon als der chinesische Nachbar. Am Freitagmorgen um 9.30 Uhr sei der reguläre Zug von Peking nach Pjöngjang hier durchgefahren, wie er das viermal die Woche tut, sagen die Leute hier. Und auch Donnerstagnachmittag sei der Zug aus Pjöngjang noch angekommen. Wie immer.

Was auch immer da explodiert ist in Drachenstadt, den Verkehr in Dandong hat es nicht durcheinander gebracht. Das heißt, ein Bus mit Touristen habe am Donnerstagnachmittag kehrt gemacht, weiß Frau Yang zu berichten, die am Fluss nordkoreanische Zigaretten verkauft und herrliche Briefmarken, auf denen der Geliebte Führer die Hände anderer großer Staatsmänner schüttelt. "Wir hatten wohl Angst", sagt Frau Yang. "Aber heute ist schon wieder alles normal."

War sie, die Händlerin nordkoreanischer Memorabilien, schon einmal drüben in Nordkorea? Nein, sagt sie, dazu hätte sie keine Lust. "Die sind viel zu arm." Obwohl: "Arbeitslose haben die keine. Und wohnen können die noch immer kostenlos, oder?"

Weltmeister im Verheimlichen

Sie sind ahnungslos in Dandong, und dabei war doch die Explosion so gewaltig, dass die ganze Welt aufhorchte. Nicht einmal Nordkoreas Kommunisten, sonst Weltmeister im Verheimlichen, konnten da noch eine Nachrichtensperre verhängen. Um genau zehn nach zwölf Uhr Ortszeit (5.10 Uhr MEZ) am Donnerstagmittag flog der gesamte Bahnhof von Ryongchon in die Luft.

Arbeiter hatten gerade mehrere Waggons hin- und herrangiert. Sie waren mit Dynamit beladen, angeblich unterwegs zur Baustelle eines Bewässerungskanals. "Einer der Waggons soll mit einer defekten Oberleitung in Kontakt gekommen sein, und ein Funke soll dann die Explosion ausgelöst haben", sagt Massod Hyder, Chefrepräsentant der Vereinten Nationen in Pjöngjang, am Telefon.

Er gibt damit die offizielle Version des Ereignisses wieder, wie sie ihm am Freitagnachmittag im nordkoreanischen Außenministerium in Pjöngjang mitgeteilt worden ist.

"Wie nach einem Bombenangriff" sieht die rund 200 Kilometer nordwestlich von Pjöngjang gelegene Kleinstadt nun aus, zitierte die südkoreanische Nachrichtenagentur Yonhap Berichte von Augenzeugen. Das Flammenmeer und die Druckwelle verschlangen nicht nur den Bahnhof, sondern auch umliegende Stadtviertel. "1800 komplett oder teilweise zerstörte Häuser" bestätigte die nordkoreanische Regierung nach ersten Inspektionen vor Ort.

Die genaue Zahl der Opfer war, wie oft bei solchen Katastrophen, nicht auf Anhieb zu ermitteln. "50 geborgene Leichen und mehr als 1000 Verwundete" zählte Nordkoreas Außenministerium rund 28 Stunden nach der Explosion.

Doch es wurde allgemein erwartet, dass zahllose weitere Opfer aus dem Geröll der eingestürzten Häuser geborgen werden. "Ich hatte klar den Eindruck, dass dies ganz vorläufige Zahlen waren", sagt Massod Hyder von der UN.

Die Nordkoreaner hätten gesagt, das die Bergungsarbeiten noch nicht abgeschlossen seien. Inoffiziell war noch am Freitagabend von 150 Toten die Rede.

Etwas detaillierter als die Version der Regierung, aber sehr ähnlich, lautete der erste Schadensbericht des nordkoreanischen Roten Kreuzes. "850 Haushalte sind komplett und 6350 Haushalte teilweise zerstört, zwölf öffentliche Gebäude völlig zerstört worden," zitiert John Sparrow vom Internationalen Roten Kreuz in Beijing aus den ersten Berichten seiner nordkoreanischen Kollegen.

Ganze Schulen in der Nähe des Bahnhofs sollen eingestürzt sein. Über die Versorgung der Opfer, der Schwerverbrannten und sonstwie Schwerverletzten, war auch anderthalb Tage nach dem großen Knall noch nichts in Erfahrung zu bringen. Denn dies ist noch immer eines der geheimniskrämerischsten Regime der Erde.

In den Nachrichten mit keinem Wort erwähnt

Nordkoreas kommunistische, komplett gleichgeschaltete Staatsmedien haben die Explosion nach 30 Stunden noch mit keinem Wort erwähnt. Das halbe Dutzend ausländischer Korrespondenten in Pjöngjang darf sich nicht frei im Land bewegen.

Doch es gehört nicht viel Phantasie dazu und nur ein wenig allgemeines Wissen über die übliche Unterversorgung nordkoreanischer Krankenhäuser, um sich Szenen fürchterlichen Leidens vorzustellen. Dies ist auch eines der ärmsten Länder der Erde. Viele Menschen, vor allem Alte und Kinder, sind chronisch unterernährt.

Das einst vorbildliche Gesundheitswesen liegt nach einem Jahrzehnt wirtschaftlichen Niedergangs völlig am Boden. "Der Normalzustand hier ist die medizinische Dauerkrise", sagt Eigil Sorenson, Chefrepräsentant der Weltgesundheitsorganisation WHO in Pjöngjang, am Telefon.

Eingriffe ohne Anästhesie

Vor allem in Provinzkrankenhäusern, von einigen Militärspitälern abgesehen, fehlt es am Notwendigsten. Es gibt kaum Antibiotika, keine sterilen Spritzen, nicht genug Verbandszeug. Chirurgische Eingriffe völlig ohne Anästhesie sind der Alltag. In bruchreifen Operationssälen fällt häufig der Strom aus.

Mitarbeiter von internationalen Hilfsorganisationen und Diplomaten, die in Pjöngjang arbeiten und wohnen, warteten daher mehr als einen Tag lang ungeduldig auf ihre Chance, helfen zu dürfen. "Wir haben medizinische Güter in Pjöngjang gelagert, die für den Einsatz in anderen Provinzen gedacht waren. Die könnten wir ohne Probleme nach Ryongchon transportieren", sagt Eigil Sorenson von der WHO.

Das Ausland um Hilfe zu bitten ist allerdings für jedes kommunistische Land ein politisch sensibler Schritt. Im ideologischen Zweikampf mit dem Kapitalismus könnte dies als eine partielle Kapitulation ausgelegt werden, fürchten die Betonköpfe in Partei- und Staatsführung. Nordkorea aber, dessen offizielle JucheStaatsideologie eine heile Welt "kompletter Autarkie" vorgaukelt, muss ein solches Hilfsgesuch besonders schwer fallen.

So war es eine Überraschung, als die Regierung in Pjöngjang am Freitagnachmittag einen offiziellen Ruf nach Hilfe an das Ausland richtete. "Wir werden am Samstagmorgen ein Untersuchungsteam aus Mitgliedern der UN, des Roten Kreuzes und verschiedener Nichtregierungsorganisationen nach Ryongchon schicken", sagt Masood Hyder von der UN.

Im Interesse der Schwerverletzten vor Ort hätte dieser Hilferuf sicher früher kommen sollen. Doch vor dem Hintergrund der notorisch verkrusteten, hierarchisch auf den "Geliebten Führer" Kim Jong Il ausgerichteten Bürokratie in Nordkorea war es eine untypisch schnelle und aus humanitärer Sicht lobenswerte Reaktion.

Diplomaten und professionelle Helfer in Pjöngjang zeigten sich daher angenehm überrascht. "Nach Flut- und Dürrekatastrophen hat sich Nordkorea früher zu Hilferufen durchgerungen, aber noch nie nach einem Industrieunfall. Das zeigt klar, dass man dies für eine Katastrophe gewaltigen Ausmaßes hält", sagt Eigil Sorensen von der WHO.

Das Internationale und das nordkoreanische Rote Kreuz bereiteten sich auf eine gemeinsame Großaktion vor. "Wir wollen so schnell wie möglich je 10.000 Erste-Hilfe-Pakete und Decken, je 2000 Wärmefolien und Wassercontainer, 27.000 Wasserreinigungstabletten und 2000 Sets von Kochtöpfen und Stäbchen verteilen", sagt eine Sprecherin des Roten Kreuzes in Pjöngjang.

All das liegt in einem Vorratslager des Roten Kreuzes in Sinuiju bereit, nur wenige Kilometer vom Explosionsort entfernt. Die WHO plante am Freitagabend die Versendung von 30 Kubikmetern medizinischer Güter in das Katastrophengebiet: Kanülen für Spritzen, chirurgische Instrumente und Desinfektionsmittel.

Die Katastrophe löst nicht nur bei den Hilfsorganisationen vielfältige Überlegungen aus, sondern auch bei Diplomaten und politischen Beobachtern. War es nur ein Zufall, dass der "Geliebte Führer" am Tag der Explosion im gepanzerten Sonderzug durch Ryongchon gekommen war? Aus Angst vor Bombenangriffen seines Erzfeindes George W. Bush in Washington schläft Kim Jong Il selten zwei Mal hintereinander im selben Haus.

Auch ändert er seine Reisepläne oft in letzter Minute, um mögliche Anschläge zu vereiteln. Die Reise nach China war geheimgehalten und erst kurz nach seiner Rückkehr in den Staatsmedien kurz erwähnt worden.

Die Katastrophe von Ryongchon ließ daher sofort Spekulationen entstehen, es habe sich um einen Anschlag auf den Diktator gehandelt. "Es gibt Berichte, dass es sich in Ryongchon um ein fehlgeschlagenes Attentat auf Kim Jong Il handelt, in das mehrere nordkoreanische Generäle verwickelt sind", sagt eine chinesische Quelle mit guten Kontakten zu Militär- und Geheimdienstkreisen.

Ob diese These von einem Attentat mehr ist als ein Gerücht, ist schwer zu verifizieren. "Alle Hinweise deuten bisher daraufhin, dass es sich in Ryongchon lediglich um einen Unfall gehandelt hat", sagte Paul Beijer, der Schwedische Botschafter in Pjöngjang, dem Fernsehsender CNN.

Spekulation um den Führer

Auf dem Bahnhofsvorplatz von Dandong: eine riesige Mao-Statue, eine der letzten in China, Überbleibsel aus einer Zeit, da sie noch füreinander wie "Lippen und Zähne" waren, China und Nordkorea, der eine konnte nicht ohne den anderen, der eine zog für den anderen in den Krieg.

Fremd ist man sich mittlerweile. China hat den Sozialismus beerdigt, in Dandong blickt die Mao-Statue auf eine riesige Videowand, wo Werbung läuft für den neuesten DVD-Spieler.

Dass die Herrscher in Peking den Gast aus Pjöngjang noch mit Bruderküssen verwöhnen, hat nur mehr strategische Gründe; in Wirklichkeit ist Peking verzweifelt über die Sturheit des Ideologen Kim, dessen Land wirtschaftlich darniederliegt. Nordkorea hängt am Tropf von China. Und am Grenzort Dandong findet der Infusionsschlauch den Weg zum Patienten: Züge und Lkws transportieren hier Mensch und Material über die Grenze. Nicht Ideen und Informationen.

Der chinesische Lkw-Fahrer Liu ist eben aus Sinuiju zurück, der nordkoreanischen Nachbarstadt am Südufer des Yalu, den Lkw hat er voller Kartons, bedruckt mit "Pierre Cardin, Paris. Made in DPR Nordkorea." "Eine Explosion? Wo?", fragt er. "Nein, da weiß ich nichts davon. Wir fahren unsere Laster in einen großen Hof, aus dem wir uns nicht hinausbewegen dürfen. Wir haben keinen Kontakt zu Nordkoreanern."

Noch am Freitagmorgen waren die Krankenhäuser in Dandong angewiesen worden, sich auf Hunderte oder gar Tausende von möglichen Patienten einzustellen. Doch an den Kliniken herrscht Routine. "Von nordkoreanischen Patienten weiß ich nichts", bescheidet uns eine Rezeptionistin im Krankenhaus Nummer 2.

Es gibt unbestätigte Berichte, wonach Pjöngjang das chinesische Angebot abgelehnt haben soll, Patienten in die gut ausgestatteten Krankenhäuser Dandongs zu schicken. Die Kliniken in Sinuiju am anderen Ufer hingegen sollen überfüllt sein. Auch das: eine andere Welt.

Die Züge und Lkws fahren in Dandong über die einst unter Bruderschwüren eingeweihte "Freundschaftsbrücke". Ein Zeichen sollte sie sein - aber mittlerweile hat vielleicht die kleine Fußgängerbrücke in ihrem Schatten mehr Symbolkraft: Des Nachts hell bestrahlt, führt sie von Dandong in den Fluss hinein - und bricht genau in der Mitte ab: Sackgasse, hier beginnt Nordkorea.

Jenes Land, das die Nacht stets verschluckt, denn es hat die Energie nicht für all das Neon, das in China mittlerweile noch das kleinste Kaff zum Glühen bringt.

© SZ vom 24.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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