Fünf Jahre nach 9/11:Der Himmel über Ground Zero

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Geblieben ist ein Loch und viel Leid - aber man muss die Narben der Geschichte schon suchen in dieser Stadt, die wie aus Trotz boomt

Adrian Kreye

New York, 3. September - "Zwanzig Minuten bis Ground Zero!" Mit seinem Befehlston kann der Oberleutnant der New Yorker Nationalgarde Paul Fanning auch eine Busfahrt durch das sommerliche New York wie eine Kampfhandlung ankündigen. Er meint das nur gut, denn an den Gesichtern seiner Männer kann er ablesen, dass dieser Vormittag für die dreißig Uniformierten von der 42.Infanteriedivision nicht leicht werden wird.

Blauer Himmel über der Baustelle. (Foto: Foto: AP)

Da schafft so ein Befehl Halt und Ordnung. Vor fünf Jahren haben sie dort unten die Aufräumarbeiten geleitet. Seitdem haben einige in Afghanistan, die meisten im Irak gekämpft, und trotzdem sind die schlimmsten Bilder im Kopf immer noch die Trümmer, der Schutt und die Leichenteile von Ground Zero.

Mann für Mann drücken sich die Soldaten vor dem historischen Zeughaus der Infanterie an der Madison Avenue in die Polstersessel des Busses. "Oh oh, da sind wieder diese Schmetterlinge im Bauch", murmelt Sergeant Timothy O'Brien, ein Hüne aus der Kleinstadt Troy im Norden. Vier Monate tat er damals Dienst auf Ground Zero. Ein Jahr später versetzte ihn seine Division in den Irak.

Flucht in die Professionalität

Die Zeit in Bagdad war halb so schlimm. Sicher, da gab es Scharfschützen, Bombenanschläge und Mörserangriffe. "Aber die Presse bläst das immer so auf. Niemand hat gezeigt, wie wir Fußbälle an Kinder verteilen und Abflussrohre reparieren." Dann lacht er kurz auf und sagt: "Wir hätten uns sicher mehr Freunde in der Welt gemacht, wenn wir den Krieg nicht im Alleingang geführt hätten."

Doch er will lieber nicht darüber reden, ob die Zeit auf Ground Zero seine Perspektive vom Krieg verändert hat. Dabei geht ihm das sehr wohl nahe. Gerade eben hat er einen seiner Kameraden von damals zum ersten Mal seit fast fünf Jahren wiedergesehen. Sie haben sich umarmt und ganz kurz festgehalten, als ob sie sich dabei gegenseitig helfen müssten, die Tränen zu unterdrücken, die ihnen ganz kurz in die Augen schossen.

Die Soldaten der 42. haben mit einer Art doppeltem Veteranensyndrom zu kämpfen. Wie alle Frontsoldaten leiden sie darunter, dass kein Zivilist nachempfinden kann, was sie in Afghanistan oder dem Irak durchgemacht haben, weil niemand den Krieg versteht, der ihn nicht auch erlebt hat. Allerdings konnten nicht einmal ihre kriegserfahrenen Kameraden aus den Divisionen aus Texas, Georgia oder Oklahoma nachvollziehen, was es hieß, auf Ground Zero zu arbeiten.

Da hilft dann oft nur die Flucht in die Professionalität. Sergeant Arvedo zum Beispiel, ein schmaler Junge aus Queens, der zur Feier des Tages als Einziger seine frisch gebügelte Wüstenuniform angelegt hat, beendet die Fragen nach dem Irak und nach Ground Zero mit dem Satz: "Wir sind Profis. Wir tun unseren Dienst und fragen nicht lange." So ganz glaubt man ihm das nicht, weil der schmerzvolle Ausdruck um seine Augen mit jedem Meter Richtung Süden noch etwas leidvoller wirkt.

Schließlich kommt der Bus neben der Kapelle des Heiligen Paul zum Stehen, einer neobarocken Kirche, in der schon George Washington betete, und die nach den Anschlägen den Nothelfern und Räumtrupps über Monate hinweg als Refugium diente, in denen sie von Therapeuten und Masseuren betreut wurden.

Sergeant Arvedo und O'Brien nehmen Haltung an, bevor sie gemeinsam mit ihren Kameraden im Gänsemarsch den Stahlzaun von Ground Zero entlangmarschieren. Stumm starren sie dabei in die Grube, in der Bautrupps schweres Gerät bewegen. Dann stehen sie vor dem verhüllten Tor zur Aussichtsplattform für Familien am Südrand von Ground Zero.

Je besser das Wetter, desto schwerer das Herz

"Oh Mann, ich muss jetzt sicher weinen", sagt Sergeant O'Brien. Aber dann muss er schon Haltung annehmen. Es geht ja nicht nur ihm so. Es gibt einen eigenartigen Reflex zum 11. September. Je besser das Wetter, desto schwerer das Herz.

Denn da ist um diese Jahreszeit wieder dieses phantastische New Yorker Spätsommerlicht, das die Konturen der Skyline mit ihren barocken Wolkenkratzern und gläsernen Türmen unter dem strahlenden Blau des Atlantikhimmels noch etwas schärfer nachzeichnet, und wegen dem so viele Touristen zu dieser Jahreszeit angereist kommen, weil die Stadt im September nach der drückenden Sommerhitze ein paar Wochen lang aufatmen kann, bevor die eisigen Nordoststürme des Winters aus Kanada heruntergefegt kommen. Das war schon immer die beste Zeit hier in New York.

Doch seit den Anschlägen des 11. September vor nunmehr fünf Jahren erinnert dieses Kaiserwetter für immer an das Grauen, das sich an diesem Tag in der Stadt ausbreitete. Nie werden sie die Erschütterungen vom Einschlag der zwei Jets ins World Trade Center vergessen, das sie am eigenen Leib spürten, nie dieses tiefe Prasseln, mit dem die Türme einstürzten, in denen 2752 Menschen starben.

Hillary Clinton hat dieses Gefühl vor gut einem Jahr in Worte gefasst. In einem roten Kleid stand sie damals in der Grube von Ground Zero, ein Farbflecken zwischen den anthrazitfarbenen Anzügen der Honoratioren und dem schmutzigen Grau der Ruinen. Das war zu einem der unzähligen Anlässe, zu dem sich die Politiker dort unten einfanden, um jeden neuen Bauvorgang mit salbungsvollen Worten zu begleiten. Hillary Clinton war die Einzige, die sagte: "Und dieser blaue Spätsommerhimmel wird uns für immer an das Trauma erinnern." Aber dann sprach auch sie von der Stärke und Hoffnung der amerikanischen Nation.

Inzwischen kommen sie kaum noch hierher. Längst ist Ground Zero zum Symbol für die lähmende Bürokratie des Landes geworden. Fünf Jahre nach dem Trauma kann man immer noch kaum etwas vom Wiederaufbau erkennen. Zum Spatenstich für das Denkmal und Museum vor zweieinhalb Wochen ließen sich die Honoratioren dann auch nicht mehr blicken, der Bürgermeister, der Gouverneur, die Minister und Stadträte, die sonst kaum eine Gelegenheit ausließen, jeden noch so kleinen Fortschritt für sich zu beanspruchen.

Auch zur Eröffnung des neuen World Trade Center Nummer sieben kamen sie nicht. Den Glasturm am Nordrand der Grube hatte der Pächter Larry Silverstein im Alleingang gebaut. Das passte nicht zu seiner Rolle als geldgieriger Spekulant, auf den die Politiker ihre Schuld schieben können.

Depressionen und Gewinne

Längst ist Ground Zero ein nationaler Schandfleck geworden. Der Bürgermeister von New Orleans, Ray Nagin, wehrte sich vorvergangenen Sonntag beim Interview in der Fernsehsendung "60 Minutes" gegen die Vorwürfe, seine vom Hurrikan zerstörte Stadt liege immer noch in Trümmern, man solle sich bloß New York ansehen, das sei nach fünf Jahren immer noch ein großes Loch.

Das brachte ihm Ärger ein, und doch sprach er vielen aus der Seele. Denn da ist immer noch der Phantomschmerz, wenn man auf der Brooklyn Promenade steht und auf die Skyline hinüberschaut, in der zwischen der Brooklyn Bridge und der Freiheitsstatue im altgewohnten Blick immer noch die Zwillingstürme fehlen, die dort damals über fünfhundert Meter hoch in den Himmel ragten.

Das können viele nicht vergessen. Craig Katz, der am Mount Sinai Krankenhaus die Abteilung für Notfallpsychiatrie leitet, zu der auch das Programm für die Spätfolgen des 11. September gehört, sagt jedenfalls: "Wir sollten ursprünglich nur für ein Jahr als Notfallprogramm existieren. Aber es gibt uns noch heute. Und wir bekommen immer noch neue Patienten." Gerade in diesen Tagen. Weswegen die Stadtverwaltung im lokalen Fernsehen auch dazu aufruft, sich bei Anzeichen von Depressionen an eine der Notrufnummern zu wenden.

"Da lauert immer noch ein Schmerz im Nervenkostüm der Stadt, auch wenn man ganz genau hinschauen muss, um die Narben zu erkennen", sagt Katz. Das kann die verwitterte Postkarte mit den Zwillingstürmen hinter der Ladenkasse eines Delis sein, der gerahmte Zeitungsausschnitt mit den Konterfeis verstorbener Feuerwehrleute, der im Gleason's Boxing Gym zwischen den Weltmeistern hängt, das Mahnmal für die gefallenen Feuerwehrleute an der Feuerwache 10 in der Greenwich Street, oder auch nur die kleinen Sternenbanner im Fenster, die gar nicht patriotisch gemeint sind.

Versteckte Narben

Besucher bemerken diese Narben nicht, weil New York sie schon längst wieder blenden kann. Die Stadt ist wieder zum Durchlauferhitzer für Geld und Menschen geworden. Noch nie gab es so viele neue Lokale, Hotels und Luxusapartmentgebäude, so viele Kulturereignisse, neue Museen und Konzertsäle. Spricht man mit den Menschen, die hier Geld verdienen, dann bekommt man schon bald ein ganz anderes Bild von New York.

Die meisten Investmentbanker können 2006 den höchsten Jahresbonus ihres Berufslebens verbuchen. Die Immobilienmakler fahren bei Durchschnittspreisen von mehr als zwei Millionen Dollar für eine Dreizimmerwohnung in Manhattan die höchsten Gewinne aller Zeiten ein. In den Medien- und Computerbranchen jagen die Headhunter nach sogenanntem kreativen Kapital, und wer beispielsweise als Grafiker an einem Montag seinen Job verliert, hat am Donnerstag schon wieder Arbeit.

Wäre New York ein Land, dann wäre das bei einem jährlichen Bruttosozialprodukt von rund 500 Milliarden Dollar die Wirtschaftsmacht Nummer 17 in der Welt. Damit verdienen die New Yorker mehr Geld als die Schweiz und fast so viel wie Russland. Da verschiebt sich der Kontext mit der Zeit - und wenn man die Menschen fragt, die hier mit Geld zu tun haben, dann waren nicht der 11. September und seine Folgen die große Krise der Stadt, sondern die Beinahepleite der siebziger Jahre, der Börsencrash von 1987 und die geplatzte Dotcom-Blase im März 2000.

Seit gut drei Jahren dauert der Boom nun an. Er hat auch Hunderttausende in die Stadt gebracht, für die der 11. September nur noch ein Ereignis der jüngeren Geschichte ist, eine Ansammlung von Fernseh- und Zeitungsbildern. Jennifer zum Beispiel, die vor einem Jahr nach New York kam und dort für eine angesehene Werbeagentur arbeitet. Am 11. September 2001 war sie siebzehn Jahre alt und ging in einen Vorort von Los Angeles auf die High School. Sie erinnere sich sehr wohl an diesen Tag, sagt sie. Doch wenn sie heute aus ihrem Bürofenster in Midtown nach Süden blickt, dann sieht sie nur das Bankenviertel von Manhattan, das Loch in der Skyline sieht nur, wer schon damals hier lebte.

Ein letzter Blick in die Grube

So zieht das Veteranensyndrom immer tiefere Gräben durch die New Yorker Gesellschaft. Und eigentlich war das von Anfang an so. Der Chefredakteur des Wall Street Journal, Paul Steiger, der heute wieder in einem der Bürotürme am Westrand von Ground Zero residiert, erinnert sich zum Beispiel noch gut an jenen Morgen. Da hatte der Einsturz der Türme seine Redaktionsräume in Schutt und Asche gehüllt. Es wurde evakuiert, und so stand der heute 63-jährige Chef der weltweit führenden Wirtschaftszeitung direkt im Zentrum des Weltgeschehens - und konnte nichts ausrichten.

Die Straßen waren gesperrt, Handys funktionierten nicht, und erst Stunden später bekam er einen Platz in einem Bus, der ihn in die Nähe seiner Wohnung auf der Upper Westside brachte. "Ich war über und über mit Staub bedeckt, sah aus wie eine Mumie", erzählt er. "Aber fünf Meilen nördlich von Ground Zero hat mich kein Mensch beachtet." Heute muss er darüber lachen. "Da wurde mir bewusst, wie sprichwörtlich die Nonchalance der New Yorker ist, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen."

Deswegen weiß man auch nicht so recht, warum die Aussichtsplattform vor Ground Zero mit schwarzen Stoffbahnen verhängt ist. Sollen hier die Familien der Toten von Ground Zero ungestört trauern? Oder soll die geschäftige Stadt nicht von der Trauer gestört werden? Auch die Zeremonie der Nationalgardisten findet fern aller Blicke statt. In zwei Reihen bauen sich die Soldaten auf. Rechts neben ihnen steht eine Art Altar mit Dienstmützen und Plaketten von Polizei und Armee. Dahinter ein Transparent: "Danke Amerika für die Gebete und die Unterstützung." Gezeichnet hat die Polizei der Hafenbehörde, der das Gelände immer noch untersteht.

Der General der Nationalgarde Taluto hält eine Rede. Er bedankt sich für Einsatz und Mut. Dann sprechen die Soldaten ihren Fahneneid. Eine Ehrengarde zieht das Sternenbanner ein und übergibt es der Einheit. "Nicht geweint", sagt Sergeant O'Brien stolz, als der General das "Abtreten!", befiehlt. Er blickt noch einmal in die Grube hinunter. "Es ist gut zu sehen, dass hier so etwas wie ein Heilungsprozess beginnt", sagt er. Nein, von den bürokratischen Querelen hat er nichts mitbekommen. Er war doch im Irak. Er hatte noch die Trümmer im Kopf, die Leichenteile, die Staubwolken. Da ist eine saubere Grube schon ein großer Fortschritt.

So gesehen lässt der Phantomschmerz hier vor Ort schon nach. Bald sollen auf Ground-Zero Prachtbauten von Stararchitekten wie Norman Foster und Santiago Calatrava stehen. Dann muss man über den Fluss hinüber auf die Brooklyn Promenade, um den Schmerz noch einmal zu erleben. Denn dort kann man das Loch im Himmel am deutlichsten sehen.

© SZ vom 4. September 2001 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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