Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos:Die große Lösung

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Die Karriere war ihm in die Wiege gelegt. Doch lange deutete nichts darauf hin, dass der Präsident Kolumbiens vom Falken zur Taube werden würde.

Von Boris Herrmann, Bogotá

Als der erste Anruf aus Norwegen kam, hat Juan Manuel Santos noch geschlafen. Das kann ihm keiner vorhalten, in Kolumbien war es vier Uhr morgens. Selbstverständlich ließ man den Staatspräsidenten schleunigst wecken, man wird schließlich nicht alle Tage mit dem Friedensnobelpreis bedacht. Drei Stunden später trat Santos in seiner Residenz Casa de Nariño mit kleinen Augen vor die Presse und verkündete: "Liebe Kolumbianer, dieser Preis ist für euch!" Die Auszeichnung begreife er als Mandat, um bis ans Ende seiner Tage für den Frieden zu arbeiten. An diesem Morgen war Kolumbien ausnahmsweise ein geeintes Land. Erfolg verbindet.

So schnell kann es gehen. Vor fünf Tagen hatten die Kolumbianer denselben Präsidenten noch für jene Arbeit abgestraft, die ihm jetzt Ruhm und Ehre brachte. Mit demokratischer Mehrheit stimmten sie gegen sein mühsam ausgehandeltes Friedensabkommen mit der Farc-Guerilla, das einen 52 Jahre alten Bürgerkrieg mit über 200 000 Toten beenden sollte. Noch am Sonntag stand Santos wie ein Idiot da, jetzt wird er als der zweite kolumbianische Nobelpreisträger neben dem Schriftsteller Gabriel García Márquez bejubelt. Sogar der prominenteste Friedensgegner, der frühere Präsident Álvaro Uribe, gratulierte am Freitagmorgen artig.

Juan Manuel Santos, 65, wurde schon in Kindheitstagen eine große Karriere vorhergesagt. Wie ein Cyborg, ein Mischwesen aus Organismus und Maschine, das darauf programmiert war, an die Macht zu gelangen, hat ihn ein Weggefährte einmal beschrieben. Der Weg war gar nicht so weit. Santos wurde in das Zentrum der Macht hineingeboren. Sein Großonkel Eduardo regierte Kolumbien von 1938 bis 1942, sein Cousin Francisco brachte es immerhin zum Vizepräsidenten. Sein Vater Enrique war 50 Jahre lang Herausgeber von El Tiempo , der größten Zeitung des Landes, ein weiterer Cousin ist Chef des einflussreichen Wochenmagazins Semana. Dem Vernehmen nach stand der junge und streberhafte Juan Manuel vor der kniffligen Frage: Soll er eines Tages El Tiempo übernehmen oder gleich das ganze Land? Nach einem Kurzausflug in den Journalismus entschied er sich für die große Lösung.

Si - Ja - zum Frieden hat in Kolumbien am vergangenen Sonntag nur eine Minderheit gesagt. Vielleicht reißt der Friedensnobelpreis nun einige aus Apathie und Ablehnung. (Foto: Fernando Vergara/AP)

Was niemand vorhersagen konnte: dass sich der Staatspräsident Santos, der wie kaum ein anderer die kolumbianische Oligarchie verkörpert, einmal dem Vorwurf ausgesetzt sehen würde, er sei ein Linksextremist. Einer, der aus Kolumbien ein zweites Venezuela machen wolle, indem er das Land den marxistischen Rebellen ausliefere. So sieht das sein Erzfeind Uribe und offenbar ein großer Teil jener 6,5 Millionen Bürger, die am 2. Oktober "Nein" sagten, Nein zum Friedensvertrag, Nein zu Santos.

Uribe ist damit ein populistisches Meisterwerk gelungen. Er hat es geschafft, das Referendum über den Frieden zu einer Abstimmung über Santos umzufunktionieren. Der wurde schon vor dem Nobelpreis aus allen Teilen der Welt mit Lob überhäuft, zu Hause aber hat er schlechte Umfragewerte, trotz (oder gerade wegen) der Aussöhnungsversuche mit den Farc. Uribes Kampagne nahm bizarre Züge an. Auf der Tatsache, dass in dem 300 Seiten dicken Friedensvertrag von Kämpferinnen und Kämpfern die Rede war, dass - wie man so sagt - durchgegendert wurde, gründete sich der Vorwurf, das Dokument sei ein Angriff auf das christliche Familienbild. Diese Strategie zog viele Evangelikale ins Lager der Neinsager.

Natürlich ist Santos weit davon entfernt, ein Linker zu sein. Er schrieb zwar ein Buch, das er in Anlehnung an Tony Blair "Der dritte Weg" nannte. Im Gegensatz zum früheren britischen Labour-Chef näherte er sich der Mitte allerdings von rechts an. Er war Handels-, Finanz- und Verteidigungsminister und fiel auf keinem Posten durch eine sozialpolitische Agenda auf. In seiner Zeit als Präsident wuchs die Volkswirtschaft durchschnittlich um fünf Prozent, umverteilt wurde vom neuen Reichtum aber wenig.

Ein ideologisch flexibler Konservativer: Präsident Juan Manuel Santos. (Foto: Jose Miguel Gomez/Reuters)

Den Rechten ist er zu links, und den Linken zu rechts. Man könnte ihn als einen ideologisch flexiblen Konservativen beschreiben. Die Meinungen gehen auseinander, wann Juan Manuel Santos die Liebe zum Frieden für sich entdeckte. Spätestens in seiner zweiten Amtszeit ab 2014 ordnete er diesem Thema alles unter.

In seiner ersten Regierungserklärung 2010 hatte er indes noch einen Triumph der "Politik der Demokratischen Sicherheit" verkündet. Unter diesem Titel bekämpfte sein einstiger Mentor Uribe die Farc bedingungslos. Es war die blutigste Phase des Bürgerkriegs, in der die Uribe nahestehenden paramilitärischen Milizen grausame Massaker anrichteten. Auch Teile der Streitkräfte beteiligten sich an dem Gemetzel. Die ganze Niedertracht offenbarte sich im Skandal der sogenannten Falsos Positivos, der falschen Erfolgsmeldungen. Soldaten ermordeten zwischen 2006 und 2009 systematisch Zivilisten, deren Leichen sie hinterher in Guerilla-Uniformen steckten - für die Erfolgsstatistik im Kampf gegen die Farc und für staatliche Kopfprämien. Santos trug in dieser Zeit als Verteidigungsminister Verantwortung.

Santos wirkt distanziert, doch beim Feiern bleibt er länger sitzen als andere

Später zeigte er sich reumütig und sprach von Einzelfällen. Es handelte sich allerdings um mehr als 3000 Einzelfälle. Nicht nur der venezolanische Präsident Hugo Chávez beschimpfte seinen Kollegen damals als Kriegstreiber. In Ecuador wurde Santos wegen mehrfachen Mordes angeklagt. Im März 2008 hatte er als Verteidigungsminister die Bombardierung eines Farc-Lagers im Nachbarland angeordnet. Dabei starben 23 Menschen, darunter vier mexikanische Studentinnen.

Auch als sich die Prophezeiungen erfüllten und Santos in den Präsidentschaftspalast einzog, deutete zunächst wenig darauf hin, dass ausgerechnet er eines historischen Tages 2016 dem Farc-Anführer Rodrigo Lodoño eine Anstecknadel in Form einer Friedenstaube überreichen würde. Dessen Vorgänger Alfonso Cano hatte er fünf Jahre zuvor noch von einer Spezialeinheit töten lassen. Lodoño alias Timochenko reagierte am Freitag leicht beleidigt auf die Preisverkündung, möglicherweise weil er selbst leer ausgegangen war. "Der einzige Preis, den wir anstreben, ist der Frieden mit sozialer Gerechtigkeit ohne Paramilitarismus, ohne Vergeltung und Lügen", teilte er mit. Daran lässt sich erkennen, dass auf den Friedensnobelpreisträger reichlich Arbeit bis zum endgültigen Frieden wartet.

Es mussten unzählige Faktoren zusammenkommen, damit überhaupt ein Abkommen zwischen dem Staat und der Farc möglich wurde. Der erstaunliche Wandel des Präsidenten vom Falken zur Taube ist gewiss der bedeutendste von allen. Im Umfeld Uribes gilt er seither als Verräter.

Santos wirkt bei öffentlichen Auftritten kalt und distanziert, im privaten Umfeld soll er zu jenen gehören, die beim Feiern länger sitzen bleiben als andere. Es heißt, er sei ein begnadeter Pokerspieler. Undurchsichtig ist er allemal. Nur eines scheint festzustehen: das mit dem Frieden meint er ernst. Wieder tritt er wie ein Cyborg auf, der sich von keinem Hindernis von seinem Programm abbringen lässt. Nach der Niederlage im Referendum rechneten viele mit seinem Rücktritt. Santos aber wirkt seither umso entschlossener. Während der Woche hat er sich sogar mit Uribe getroffen, nachdem sich die beiden führenden Politiker des Landes zuletzt fünf Jahre lang erfolgreich aus dem Weg gegangen waren. In dem großen Drama um den verschmähten Frieden steckt also auch eine kleine Chance: Es gibt in Kolumbien jetzt wieder Dialoge, die bis vor Kurzem noch undenkbar waren. "Wir müssen die Polarisierung überwinden, die diesem Land so viel Schaden zugefügt hat", sagt Santos. Damit spricht er ausnahmsweise der Mehrheit aus dem Herzen.

© SZ vom 08.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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