Franz Müntefering:Sunderner Etüden

Lesezeit: 5 min

Vor vierzig Jahren schrieb Franz Müntefering rasante Prosa, die ungedruckt im Archiv verschwand - eine Wiederentdeckung.

Hilmar Klute

Die Kleinstadt Sundern war in jenen Jahren - und sie ist es wohl auch heute noch - in literaturgeschichtlicher Hinsicht ein unauffälliger Ort. Wir reden vom Sauerland, wo sich schwarze Hügelwälder wie böse Träume um den kalten dunklen Möhnesee versammeln und wo die Menschen das Reden nicht gerade erfunden haben.

Franz Müntefering: "Wenn Schalke absteigt, wenn sie dem Neuss eins in die Fresse hauen, wenn die Edith Piaf verfault, wenn man bei uns unehelicher Abkunft und norwegischer Uniform wegen nicht Bundeskanzler werden kann, wenn die Amis Kommunisten frikassieren." (Foto: Foto: dpa)

Als der junge Schriftsteller Franz Müntefering in seinem stillen Haus im Brandhagen 30 in den späten Sechzigerjahren seine stakkatoartigen, elliptischen und rauen Sätze in die Schreibmaschine hieb, da waren in das dunkle Land zwischen Arnsberg und Hagen immerhin bereits ein paar schöne kulturelle Lichtungen geschlagen worden.

Ein knappes Jahrzehnt zuvor hatte sich in dem südöstlich von Sundern gelegenen Schmallenberg eine wilde literarische Debatte entfacht, bei welcher junge, dem kritischen Denken verpflichtete Autoren wie Josef Reding, Ernst Meister und Paul Schallück - sie alle hatten Krieg und Nazizeit erlitten und folglich satt bis zum Hals - den alten, reaktionären Provinzpoeten den Kampf ansagten. Zielscheibe war hier vor allem die wahrhaft monströse Sauerland-Nazisse Josefa Berens-Totenohl, deren Roman "Der Femhof" oder die Gedichte "Das schlafende Brot" Paradebeispiele der Blut-und-Boden-Ideologie darstellten.

Kurz und gut: Die alte Leier kam weg, und die jungen Experimentierer kamen zum Zug: Westlich von Münteferings Sundern, in Hagen-Haspe, residierte der löwenhäuptige Lyriker Ernst Meister, einer der großen Solitäre der deutschen Dichtkunst, der raunend verlangte: "Sage vom Ganzen den Satz, den Bruch, das geteilte Geschrei."

Könnte diese Formel nicht auch über dem geschriebenen Frühwerk und, selbst um den Preis allzu großer Kühnheit sei es gemutmaßt: dem gesprochenen Spätwerk Franz Münteferings stehen? Einen umfangreichen Sachverhalt in einen möglichst knappen Satz zu stecken und diesen auch noch so zu meißeln, dass er wie ein frischer Steinbruch wirkt? Und ist nicht der Camus'sche Sisyphos, der alte glückliche Steinewälzer, von frühan ein Maskottchen Franz Münteferings gewesen?

Mag alles sein, aber im Augenblick brennt doch die Frage: Wie ging das Ganze denn eigentlich los damals an jenem unberühmten Ort - oder auf Münteferingisch gesprochen: getz an dieser Stelle?

Am 29. März 1967 sandte der 27-jährige Industriekaufmann Franz Müntefering ein Konvolut mit Prosatexten nach Dortmund an Fritz Hüser, den großen Impresario der Arbeiterliteratur und Mitbegründer der damals schon legendären Gruppe 61: "Wenn meine Arbeiten nicht gefallen, schicken Sie sie bitte so bald wie möglich zurück. In jedem Fall wäre ich für einen kurzen Kommentar dankbar."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Fritz Hüser an dem frühen Müntefering gestört haben könnte.

Ein solcher Kommentar erreichte den jungen Sunderner beinahe postwendend. Fritz Hüser schickte die Texte zwar nicht zurück, leitete sie aber elegant an einen Kollegen weiter, von dem aus sie im Archiv des nach Hüser benannten Dortmunder Instituts für Arbeiterliteratur zu lagern kamen.

Skript von Franz Müntefering: Klicken Sie auf die Lupe, um das Popup-Fenster zu öffnen. (Foto: Foto: oh)

Hüser selbst bescheinigte dem jungen Autor Müntefering einen eigenen Stil, anerkannte dessen vorangegangene Veröffentlichung in der Zeitschrift Pro, schlug aber Münteferings Bitte, ihm Kontakte zur Gruppe 61 zu verschaffen, mit dem Hinweis auf die neuerliche Exklusivität der Literaturvereinigung ab: vor einem Kreis von geladenen Kritikern sollten ausschließlich die bekannten Autoren der Gruppe lesen.

Was Müntefering seinerzeit wohl nicht recht einzuschätzen vermochte: Hüsers Gruppe 61 war inzwischen ähnlich populär geworden wie die Gruppe 47, die ehemaligen Arbeiterschriftsteller Max von der Grün, Günter Wallraff und Erika Runge konnten zu Stars avancieren, das Fernsehen berichtete über sie und große Verlage druckten ihre Bücher. Für den unbekannten Müntefering blieb damals bloß die Sunderner Schublade.

Vielleicht mochte Fritz Hüser den frühen Müntefering auch deshalb nicht drucken, weil er - wie es in der Verlagslektorensprache heißt - nicht recht ins Programm passte, denn was in diesen eigentümlichen Prosaeskapaden steht, ist so kühn, so frisch und hell, dass man lesend die Ärmel hochkrempeln, den Rücken durchdrücken und mit geballter Faust rufen möchte: Ja, so etwas fehlt uns doch heute im neo-biedermeierlichen Schulze-und-Tellkamp-Zeitalter - eine Literatur der klaren Kante.

Hier, solche Sätze: "Wenn Schalke absteigt, wenn sie dem Neuss eins in die Fresse hauen, wenn die Edith Piaf verfault, wenn man bei uns unehelicher Abkunft und norwegischer Uniform wegen nicht Bundeskanzler werden kann, wenn die Amis Kommunisten frikassieren."

Frikassieren? Hatte Franz Müntefering nicht erst kürzlich in der ARD-Literatursendung "Beckmann" seinen alten Lieblingsfeind Oskar Lafontaine einen "Parteifrikassierer" genannt?

Reinhold Beckmann hatte ja in dieser Sendung mit philologischem Bienenfleiß ein paar typische Müntefering-Zitate auf den Screen projizieren und vom Autor selbst lesen lassen. Es waren die berühmten Partei-gut-Heißes-Herz-ist-besser-als-Hosevoll-Sätze, die, ja sicher, auch schön sind, aber längst nicht so wunderbar ätzend wie zum Beispiel das "Leck-mich-am-Arsch-ist-doch-alles-Beschiß-Pharisäertum-wenn-ich-mein-Taschengeld-damit-aufbessern-kann-um-so-besser-Gefühl" in der Kurzgeschichte Knobeln von 1966; und längst nicht so apokalyptisch taumelnd wie folgende Sätze aus Münteferings bislang unveröffentlichtem Stück bratkartoffelspiegelung: "schon liegt er im grab. aus seinem grab sprießt ein schößling. der schößling trägt am baum die todesfrucht. die todesfrucht heißt bratkartoffeln mit leichengift."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was es mit "skaten auf dem umgestülpten Kochtopf" auf sich hat.

Ach, übrigens, Müntefering-Exegeten, aufgepasst! Folgende kleine philologische Rätselaufgabe: Was meint der Autor, wenn er schreibt, die Köche "skaten auf dem umgestülpten Kochtopf"? Dass sie auf Haushaltsgeräten Skateboard fahren?

Falsch. Sie spielen Skat, so wie die kleinen Leute in den Kneipen von Sundern, Schmallenberg, Dortmund und weiter nördlich, welche das Personal für die frühen Kurzgeschichten Franz Münteferings stellen. Männer wie Horst - "zigmal trainierter Hecht hinters Steuer" - mit dem es raus zum Autobegutachten geht. Kerle wie Manni, der gegen Kondome ist, weil "beim Füßewaschen läßt man ja auch nicht die Socken an".

Dann aber auch wieder - krasses Gegenbeispiel - Mädchen wie die siebzehnjährige Betty, die im Café Kornmarkt mit einem jungen Mann Zigaretten raucht, und hinterher ist sie schwanger: "Der Satan wirft die Angel aus. Die Leere macht sich breit."

Den Freunden literarischer Spurensuche muss man getz an dieser Stelle zumindest den unverbindlichen Hinweis geben, dass es bis zum heutigen Tag ein "Café am Kornmarkt" im nordhessischen Wolfhagen gibt. Überhaupt erstreckt sich das literarische Feld Münteferings topographisch ziemlich weit übers Sauerland hinaus, wie die Short Story Sonntags nach drei in Ehra-Lessien - das Städtchen liegt in Niedersachsen - belegt.

Es lastet oft etwas Bedrückendes, Verschwitztes auf diesen Geschichten über Menschen, die aus dem Krieg heimkehren, Leute, die nach Arbeit fragen, die kein Vertrauen in die Zukunft haben. Aber Müntefering bricht in ihre verrottete Welt mit Sätzen ein, die wie Salven aus einer Uzi klingen: "Hartmut Hartmann aus Hartburg harrt härterer Härten. Ausgeharrt, eingescharrt."

Und wenn einmal von echter Liebe die Rede ist - wie in Rapunzel -, dann ist die Welt drumrum mit Eis und Schnee umgeben. Harte Kante.

Feilen an der Reduktion der Sprache

Münteferings literarisches Frühwerk, nennen wir es die Sunderner Periode, zeigt, wie genau und vor allem wie lange der Mann bereits an der Reduktion seiner Sprache feilt: "meine prinzessin und darling. darling ist schönste von allen", lautet in der bratkartoffelspiegelung die sprachliche Urzelle des später so berühmten "SPD-Vorsitzender ist das schönste Amt nach Papst".

Und es muss derjenige schon mit einer besonders hartnäckigen Taubheit geschlagen sein, der aus der Sunderner Prosa "brozzeln lassen kartoffeln drüber schneiden. drüberschneiden wenden. wenden brozzeln lassen" nicht den Sound der Münchner Rede vom 3. September 2008 heraushört: "Mithelfen, dass klar ist: am 28.9. wird der Huber auf Maß geschrumpft."

Bei Reinhold Beckmann gab Franz Müntefering einen (bemerkenswert anrührenden und ehrlichen) Werkstattbericht, in welchem er schilderte, wie er die Vorlagen seiner Redenschreiber mit Schmackes kleinmeißelt, bis am Ende der harte Kern, die bare Münze, ergo der reine Münte übrigbleiben. Dieses literarische Verfahren also hat Franz Müntefering bereits vor vierzig Jahren entwickelt.

Philologen werden das künftig wahrscheinlich vor allem an der Urfassung seiner Prosaphantasie "Haltung im März 67" festmachen, deren Schlusssatz in der ersten Version "Ich habe eine gute Haltung, sagen alle" lautete. Der Sunderner Schriftsteller Müntefering, moralisch gewachsen im verwehenden Pulverrauch des Schmallenberger Dichterstreits und mit Camus' steinewälzendem Sisyphos - er strich die ersten vier Wörter durch und schrieb darunter schlicht mit der Hand: "Meine Haltung ist gut."

© SZ vom 03.01.2009/bica - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: