Folge 6: Rubikon:Der Würfel ist gefallen - nur wo?

Lesezeit: 5 min

Die Menschen an drei italienischen Flüsschen streiten sich, wer Anspruch erheben darf auf jenen Strom, den Cäsar einst überquerte.

Von Christiane Kohl

(SZ vom 6.9.2003) - Neblig und kalt soll die Nacht am Rubikon gewesen sein, als Cäsar dort im Jahr 49 vor Christus mit seinen Soldaten biwakierte. "Alea iacta est", so lauteten seine berühmten Worte, was bedeutet: "Der Würfel ist gefallen".

Dann überschritt der Feldherr ein kleines Flüsschen bei Rimini und so begann sein Siegeszug gen Rom, das er bald mit unbeschränkter Macht regieren sollte.

Jeder Gymnasiast kennt diese Geschichte, eine Pflichtlektüre im Lateinunterricht, die als Beispiel für entschiedenes, unwiderrufliches Handeln gilt.

Weil die Geschichte so gut für Cäsar ausging, folgten im Laufe der Jahrtausende allerlei berühmte Männer seinen Spuren. Karl der Große zum Beispiel und Garibaldi, Napoleon, Dante und Boccaccio - die Geschichtsbücher nennen illustre Namen.

Ob die hohen Herren freilich immer denselben Fluss überschritten, ist ungewiss. Im Laufe der Zeit firmierten nämlich verschiedene Bachläufe unter dem Namen Rubikon.

Zweifel

Für die prominenten Besucher hatte das kaum Bedeutung, ihnen kam es ja auf die Außenwirkung an. Und das Raster der Weltatlanten war viel zu groß, als dass ein solch kleiner Fluss darin eine nennenswerte Rolle hätte spielen können.

Doch in der Region wurden immer neue Zweifel laut, wo der berühmte Fluss der Entscheidung geografisch genau zu orten war. Drei Bäche streiten sich bis heute um die Ehre, und das schon seit etwa einem Jahrtausend.

Wissenschaftler, Päpste und Politiker beschäftigten sich mit der Frage; Landkarten wurden gezeichnet und umgezeichnet, Flussläufe mit Schildern markiert, die man später wieder abmontierte - ein Ende der Auseinandersetzungen ist nicht abzusehen.

Nach den historischen Schriften schlängelte sich der Rubikon irgendwo zwischen Ravenna und Rimini zur Adria, Quelle und Mündung gelten noch als vergleichsweise unstrittig. Alle drei Flüsschen entspringen etwa 30 Kilometer vom Meer entfernt beim Bergdorf Strigara, wo die flache Adriaküste sich zu steilen, mit Wald bewachsenen Felsspitzen erhebt.

Fluvio rubicum

Etwas südöstlich von Cesenatico, einer kleinen Küstenstadt, deren Hafen einst Leonardo da Vinci konzipierte, ergießen sich die Wasserläufe in zwei Strömen ins Meer. Doch wo ist das historische Flussbett zu finden, das Quelle und Mündung miteinander verband?

Auf einer uralten Landkarte, der Peuteringischen Tafel, die aus dem dritten bis fünften Jahrhundert stammen soll, ist der "fluvio rubicum" zwölf Meilen nordwestlich von Rimini eingezeichnet, mithin knapp 18 Kilometer von der Küstenstadt entfernt.

Doch diese Distanz lässt sich zu allen drei in Rede stehenden Flüsschen errechnen, vom Pisciatello ganz im Westen bis zum weiter östlich gelegenen Uso - je nachdem, wie man das Lineal auf das Messtischblatt hält.

Auf den Landkarten von heute firmiert allerdings nur der mittlere Flusslauf als "Rubicone". Das Wasser schlängelt sich zwischen sanften Hügeln hindurch, sein Ufer säumen Weinberge und Sonnenblumenfelder, bis es schließlich im Städtchen Savignano vier uralte Brückenpfeiler umspült.

Über den Rubikon in die Sommerfrische

Und diese sind vermutlich der Grund, warum der Bach, der bis 1933 ganz profan Fiumicino hieß, den ehrenvollen Namen Rubikon bekam.

Die Brücke stammt noch aus der Römerzeit. Zwei Jahrtausende später aber rollte der Wagen des italienischen Diktators Benito Mussolini häufiger darüber hinweg, wenn dieser von seinem Heimatort Predappio im Westen von Forli zu seiner Strandvilla in Riccione bei Rimini fuhr.

"Mussolini ist oft hier gewesen", erzählt Alberto Casadei, der Vize-Bürgermeister von Savignano, "das war doch seine Straße."

Bei einer Kaffeepause in dem Städtchen muss dem Duce wohl der brennende Wunsch der Kommunalverantwortlichen zu Ohren gekommen sein, dass nach Jahrhunderten des Streits endlich das Flüsschen Fiumicino mit dem geschichtsträchtigen Namen ausgezeichnet werde. Die Idee gefiel ihm.

Längst hielt sich Mussolini für einen neuen Cäsar, weshalb er natürlich lieber den Rubikon in Richtung Sommerfrische überschritt als irgendein gewöhnliches Flüsschen.

Neue Erkenntnisse

Am 4. August 1933 verfügte er per Dekret den neuen Namen. Zum Dank stifteten die örtlichen Stadtväter einen Gedenkstein für den Diktator und nannten das Städtchen fortan Savignano sul Rubicone.

Doch damit fand der Streit um den echten Rubikon noch lange kein Ende. Kaum war Mussolini gestürzt und der Zweite Weltkrieg vorbei, da traten die alten Zweifler wieder auf den Plan.

So meldete sich ein Professor aus Lausanne mit neuen Erkenntnissen zur Lokalisierung des Rubikon zu Wort. Ein Wasserwirtschaftler spürte Veränderungen der Flussläufe auf, Archäologen gruben römische Münzen und Pflastersteine aus, Historiker entdeckten uralte Pergamente in den Archiven.

Geänderter Grenzverlauf

Demnach hatte es schon im Jahr 1205 einen aktenkundigen Krach in der Rubikon-Frage gegeben. Damals stritten die Städte Rimini und Cesena um Grenzverschiebungen auf ihren Territorien - die Streitigkeiten hatten mit dem Verlauf des Rubikon zu tun.

Seit Cäsars Zeiten war der Fluss eine Grenzlinie gewesen. Bei den alten Römern markierte er die Grenze zwischen der unter römischer Herrschaft stehenden Region Italia und der von Cäsar regierten Provinz Gallia Cisalpina, dem südlich der Alpen gelegenen Teil Galliens.

Später steckten die Diözesen Rimini und Cesena ihre Territorialgrenzen entsprechend des Flusslaufes ab. Indes hatte irgendwann im Ersten Jahrtausend eine Periode von schweren Überschwemmungen in der Gegend um Cesena eingesetzt, die offenbar durch eine vermehrte Gletscherschmelze in den Alpen hervorgerufen worden war.

Als Folge verließ der Rubikon sein Flussbett und schlug neue Wege ein. Entsprechend veränderten sich plötzlich die Grenzen zwischen den zu Cesena und Rimini gehörenden Ländereien.

Umgeleitet

Auch in späterer Zeit überschwemmte der Rubikon immer wieder das Saatgut der Bauern in der Ebene. Deshalb machten sich Wasserwirtschaftler daran, nun ihrerseits das Flussbett zu verlegen. Bald waren so viele Teile des Wasserlaufes umgeleitet, dass kaum jemand mehr wusste, wo der ursprüngliche Rubikon entlang geflossen war - der Bach verlor nicht nur sein Bett, sondern auch den Namen.

Mitte des 18. Jahrhunderts verlangten einige Geistliche daher, das Flüsschen Uso, den am weitesten westlich gelegenen Bachlauf, zum Rubikon zu erklären. In dem Dorf Santarcangelo am Uso gab es nämlich, ganz wie in Savignano, auch eine alte Römerbrücke - und ein paar ehrgeizige Kommunalobere.

Der Papst gab seinen Segen und so wurde 1748 ein Gedenkstein an der Brücke angebracht. Freilich brachte es der neue Uso-Rubikon nicht mal bis in die besseren Landkarten jener Zeit.

Der Pfad Cäsars

Dort firmierte unter dem ehrenvollen Namen Rubikon bald nur noch ein kleiner, wenige Kilometer kurzer Bergbach, dessen Wasserstrom dem Pisciatello zufloss. Im Volksmund heißt das Flüsschen noch heute "Urgon", was eine Dialektform von Rubikon sein könnte.

Überdies passiert der Bach ein Dorf namens Calisese, ein Name, der vom lateinischen "Callis Caesaris", Cäsars Pfad, abgeleitet sein könnte, wie der Lokalhistoriker Rino Zoffoli glaubt.

Der Professor aus Cesena kämpft seit Jahrzehnten für den Urgon alias Pisciatello, mit durchaus nachvollziehbaren Argumenten. So habe sich die Diözesangrenze zwischen Rimini und Cesena trotz aller Überschwemmungen stets am Lauf des Pisciatello orientiert.

Dasselbe treffe für die Landverteilung der alten Römer zu, der so genannten "Centuriazione", bei der jeder Legionär bei der Ausmusterung ein etwa 710 mal 710 Meter großes Fleckchen Erde zur Bebauung bekam: "Das Muster der Landverteilung verändert sich genau dort, wo das alte Flussbett des Pisciatello-Rubicone war," , behauptet Zoffoli.

Münzen und ein Sarkophag

Auch im Dorf Calisese gibt es natürlich eine alte Römerbrücke, dazu eine im Ersten Jahrtausend errichtete Kirche, die noch heute den Namen San Martino in Rubicone trägt. Ihr zur Seite steht ein Glockenturm, dessen Fundament nach Meinung von Zoffoli zu einer alten römischen Wehranlage gehören könnte.

Überdies hat der Lokalhistoriker eine Legende wieder ausgegraben, die man sich über Jahrhunderte im Dorf erzählt haben soll. Sie handelt von der "malanotte", der schlimmen Nacht eines großen Feldherrn, dem ein schwerer Kampf bevorstand. Passend dazu fand man auch noch alte römische Münzen und einen Sarkophag. Wichtige Indizien für ein Nachtlager des Feldherrn, meint Zoffoli: "Er selbst sagt ja leider kein Wort über den genauen Ort".

War Caesar also in Calisese? "Alles Quatsch", meint Vizebürgermeister Caladei aus Savignano dazu: "Die Geschichte verändert man nicht!" Deshalb haben sie in Savignano diesen Sommer mit viel Pomp eine mannshohe Cäsar-Statue enthüllt, die unter anderem der örtliche Lions-Club gestiftet hat.

Doch da konnten die Nachbarn aus Calisese nur müde lachen: Sie weihten schon zwei Jahre vorher eine freilich etwas kleinere Cäsarenbüste ein. Mag das Städtchen Savignano auch mit Cäsars berühmtem Würfelsatz im Briefkopf werben, die Gegend um Calisese hat sich derweil im Internet als Tal des wahren Rubikon etabliert.

Ob Pisciatello, Urgon oder Fiumicino - vermutlich, so meint Zoffoli, "handelt es sich sowieso um ein und denselben Fluss". Der Rubikon war eben schon immer mehr in der Vorstellung existent als auf der Landkarte.

(sueddeutsche.de)

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: