Flüchtlingskrise:Beim Massensterben sehen alle weg

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Boote mit Migranten gehen auf dem Mittelmeer nun häufiger unter, weil libysche Schlepper die Zahl der Passagiere erhöhen.

Von Oliver Meiler, Rom

Auf einem Friedhof im süditalienischen Reggio Calabria haben die Behörden vor einigen Tagen 45 Leichen bestattet. Als Grabsteine dienten kleine Holzstücke, an die weiße Papierblätter mit den Nummern geheftet wurden. Der nächste Regen wird sie wahrscheinlich wegschwemmen. Es sind die Grabstätten namenloser Flüchtlinge, umgekommen auf ihrer Fahrt über das Mittelmeer, geborgen irgendwo zwischen Libyen und Italien und danach in den Hafen von Reggio Calabria gebracht. 36 Frauen, sechs Männer, drei Kinder. In den ersten fünf Monaten des Jahres sind auf dem Mittelmeer 2918 Flüchtlinge ums Leben gekommen oder verschollen. Das besagen die Statistiken des "Missing Migrants Project" der Internationalen Organisation für Migration. Es ist ein dramatischer Anstieg. Im gesamten Vorjahr starben 3770 Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen.

Obwohl sich die Unglücke auf dem Mittelmeer stark häufen, finden sie kaum noch Medieninteresse. Das hängt auch damit zusammen, dass Überlebende zwar von vielen ertrunkenen Mitpassagieren berichten, deren Leichen aber sehr viel später oder gar nicht geborgen werden. Europäische Regierungspolitiker äußern sich in letzter Zeit zudem kaum noch zum Massensterben der Flüchtlinge. Möglicherweise befürchten sie, dass populistische rechte Politiker das Thema missbrauchen.

So wiederholt Italiens Premier Matteo Renzi, dass Alarmismus fehl am Platz sei. Es kämen nicht mehr Flüchtlinge über den Kanal von Sizilien als in den Jahren zuvor. Rein statistisch stimmt das: Bis zum 3. Juni sind 47 820 gezählt worden; im selben Zeitraum 2015 waren es 47 643 gewesen. Niemand weiß aber, wie viele Migranten im von Krieg und Chaos zerrütteten Libyen noch auf die Überfahrt warten. Gerätselt wird auch, warum die Zahl der Havarien so stark steigt, obwohl gar nicht mehr Flüchtlinge in Italien eintreffen als früher. Offenbar zwängen die Schlepper in Libyen - und neuerdings auch in Ägypten - für weniger Geld noch viel mehr Flüchtlinge auf ihre seeuntüchtigen Boote. Oftmals mit Gewalt, berichten Überlebende. Besonders viele Migranten kommen unter Deck um, in den überfüllten Maschinenräumen. Zur Abschreckung von Flüchtlingen will der österreichische Außenminister Sebastian Kurz Migranten im Mittelmeer abfangen und sofort zurückschicken oder auf Inseln festhalten. Die Europäische Union solle "Teile des australischen Modells" übernehmen, sagte Kurz der Presse am Sonntag. Sollte ein konsequentes Abfangen nicht gelingen, sollen die aus dem Mittelmeer geretteten Menschen nach Kurz' Vorstellungen in "Asylzentren" untergebracht werden, "idealerweise auf einer Insel". Von dort müsse ihre Rückkehr organisiert werden.

© SZ vom 06.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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