Flüchtlinge in Ungarn:Treck der Verzweifelten

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Die Situation in den Notlagern ist chaotisch, Züge nach Westen fahren nicht mehr. Jetzt machen sich Flüchtlinge in Ungarn zu Fuß auf den Weg in Richtung Grenze.

Von Cathrin Kahlweit, Budapest

Ungarn, so viel ist gewiss am Ende dieser dramatischen Woche, hat die Flüchtlingskrise nicht mehr unter Kontrolle. Gleich an mehreren Brennpunkten im Land ist die Lage dramatisch eskaliert - in Röszke an der Südgrenze, in dem am Donnerstag gestoppten Zug in Bicske und dem Aufnahmelager im selben Ort und natürlich auch am Budapester Bahnhof Keleti, wo die Menschen seit Tagen und Wochen ausharren. Doch jetzt, da sie merken, wie die ungarische Regierung mit ihnen Politik zu machen versucht, beginnen sich immer mehr Flüchtlinge zu wehren. Sie leisten Gegenwehr gegen eine Behandlung, die sie als inakzeptabel bezeichnen. Die Behörden wiederum lassen ihnen kaum Hilfe zukommen. Bewusst tun sie das, ganz gezielt. Und die Flüchtlinge marschieren nun einfach zu Fuß los, in großen Trecks - aus Röszke, aus Bicske, aus Budapest. Eine Eskalation, von der keiner weiß, wie sie enden soll.

So sind in Röszke an der Grenze zu Serbien gleich mehrere Hundert Flüchtlinge aus dem Lager ausgebrochen. Hierher bringt die Polizei die Migranten zur Registrierung, nachdem sie den neuen Stacheldraht-Grenzzaun überwunden haben. Die Zustände dort sind, wie auch in Budapest, für die Flüchtlinge schwer zu ertragen: Helfer dürfen das Lager in Röszke, das eingezäunt und bewacht ist, nicht betreten. Es gibt kaum Nahrung und Waschgelegenheiten, die Flüchtlinge bleiben dort oft tagelang eingepfercht bis zum Weitertransport. Offenbar haben nun Hunderte nach massiven Protesten den Zaun um das Gelände überwunden und sich in zwei Wellen zu Fuß auf den Weg nach Norden gemacht. Nur weg. Die Polizei konnte sie offenbar nicht aufhalten.

Einige der Migranten blockierten nach Angaben der Online-Zeitung Pester Lloyd auch die Autobahn nach Budapest. Die Polizei soll sich zurückgezogen haben, sucht aber nach den Flüchtigen. Hunderte Zurückgebliebene drohen, dem Vorbild der anderen zu folgen und ebenfalls loszumarschieren. Beobachter und Journalisten wurden von der Polizei aus der Umgebung des Erstaufnahmelagers abgedrängt. Reporter des ungarischen Nachrichtenportals Index.hu hatten kurz zuvor noch berichtet, dass die Flüchtlinge Steine auf die Polizisten in Schutzausrüstung werfen würden. Die Beamten antworteten mit Tränengas. Index.hu schätzt, dass etwa 2800 Flüchtlinge 200 Polizisten gegenüberstünden.

In Bicske, wo die Behörden am Donnerstag einen Zug aufgehalten hatten, der eigentlich bis zur Westgrenze fahren sollte, verbrachten mehrere Hundert Menschen die Nacht im Zug. Die Mehrheit von ihnen weigert sich seit Donnerstag, Wasser und Nahrung anzunehmen, das ihnen die Polizei stellt. Helfer, die mit Essen herbeigeeilt sind, werden von den Behörden weiterhin nicht vorgelassen. Der Hungerstreik könnte ein Druckmittel sein, um die Polizei zum Abzug zu zwingen. Am Nachmittag durchbrechen auch hier Hunderte den Polizeikordon und rennen auf den Gleisen davon. Die Menge sei, heißt es, plötzlich aus einem Zug gekommen und habe die Polizei überrascht.

Etwa hundert Menschen hatten schon am Vorabend aufgegeben. Sie hatten den Zug in kleinen Gruppen freiwillig verlassen und sich mit Bussen in ein Flüchtlingslager im Ort transportieren lassen, wie es die Behörden von Anfang an für alle Passagiere vorgehabt hatten. Aber auch aus diesem Aufnahmelager, das für 800 Menschen geplant ist, hat sich am Freitag eine Gruppe von Menschen zu Fuß auf den Weg nach Westen gemacht.

"Steht auf, steht auf", skandieren sie, "nach Deutschland!"

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(Foto: Frank Augstein/AP)

Wenn nicht mit dem Zug, dann eben zu Fuß: Tausende Flüchtlinge machen sich von Budapest aus auf den Weg nach Österreich und weiter nach Deutschland.

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(Foto: Balazs Mohai/dpa)

Sie fliehen auch davor, in ein ungarisches Flüchtlingslager gesteckt zu werden.

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(Foto: Attila Kisbenedek/AFP)

Wie die ungarische Polizei sie behandelt, bezeichnen sie als inakzeptabel. Und sie wehren sich immer häufiger.

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(Foto: Valdrin Xhemaj/dpa)

An der Grenze zu Mazedonien: Bis syrische Flüchtlinge in Ungarn ankommen, haben sie schon die Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien durchquert.

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(Foto: Alkis Konstantinidis/Reuters)

Oder sie sind über die Mittelmeerroute mit Zwischenstation auf der griechischen Insel Kos gekommen.

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(Foto: Zsolt Szigetvary/dpa)

Am Keleti-Bahnhof in Budapest warten dann Tausende auf die Weiterfahrt. Aus ihrem Ziel machen sie kein Geheimnis: Deutschland, das Land Angela Merkels.

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(Foto: Matt Cardy/Getty Images)

Anführer der seit Tagen anhaltenden Proteste rufen schließlich dazu auf, zu Fuß weiterzugehen.

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(Foto: Matt Cardy/Getty)

Bis in die Nacht hinein laufen Flüchtlinge in Richtung der österreichischen Grenze. Irgendwann kündigt Ungarn an, Busse zu schicken.

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(Foto: Laszlo Balogh/Reuters)

Mit ihnen sollten die Wandernden zur Grenze gefahren werden.

Der größte Treck aber zieht am Freitagmittag aus Budapest-Keleti los. Hier und an den anderen Bahnhöfen der Hauptstadt warten derzeit Tausende auf die Weiterfahrt nach Westen. Nun haben sich etliche Hundert per Fußmarsch auf den Weg nach Österreich und weiter nach Deutschland begeben. Ihre Anführer, die schon seit Tagen rund um den Bahnhof Proteste organisiert und Sprechchöre intoniert hatten, rufen am Freitag mit Megafonen dazu auf, in Massen mitzugehen. "Kommt mit uns, eure Söhne und Töchter werden es euch danken", sagt einer. Andere feuern ihn an. "Steht auf, steht auf", skandieren sie, "lasst uns zu Fuß nach Deutschland gehen." So weit sind sie nun schon gekommen. Und hier am Bahnhof in Budapest soll Endstation sein? Sie sind überzeugt, dass bis auf Weiteres keine Züge über die Grenze nach Westen fahren werden und die Polizei jeden, der es auf einen Regionalzug Richtung Grenze schafft, herausholt und ins Lager bringt. Bis zum Abend jedenfalls greift die Budapester Polizei nicht ein. Wohl 600 Menschen sind da auf der Autobahn Richtung Wien unterwegs. Am Bahnhof verhindern Polizisten immerhin, dass ungarische Fußball-Hooligans die Flüchtlinge angreifen.

Ungarns Außenminister Peter Szijjarto weist jede Verantwortung der Regierung für die katastrophale Lage zurück. "Wir haben in Budapest eine dramatische Situation, weil einige Migranten, was Fingerabdrücke und Fotos angeht, eine Kooperation mit den ungarischen Behörden verweigern", sagt Szijjarto beim EU-Außenministertreffen in Luxemburg. Ein Bahnhof sei eben keine Flüchtlingsstation. Die Asylsuchenden, so gibt der Minister zu verstehen, hielten sich einfach nicht an die Regeln. Sie sollten den Bahnhof verlassen und in Flüchtlingszentren gehen. "Wir haben Transitzonen eingerichtet, in denen Migranten ihre Asylanträge stellen können." Bis zur Behandlung ihrer Anträge müssten die Menschen eben in den Transitzonen bleiben. Nach wie vor gibt es aber etwa in Keleti weder sanitäre Anlagen noch eine Versorgung durch die Behörden.

Ungarische Medien melden, das Flüchtlingshilfswerk der UN habe angeboten, diese Versorgung zu übernehmen; die Regierung habe das abgelehnt. Es handele sich um eine "nationale Angelegenheit".

Und "nationale Angelegenheiten" verfolgt die Regierung von Premier Viktor Orbán gerne mit Härte. Deshalb stimmt das Parlament ausgerechnet an diesem Freitag einem Gesetzespaket zu, das die Verhängung einer Art Ausnahmezustandes ermöglicht. Er soll der Armee erlauben, "physische Maßnahmen zu ergreifen, um die Grenze zu schützen". Am 15. September soll das Gesetz in Kraft treten. Dann müssen sich alle Flüchtlinge direkt an der Grenze registrieren lassen und sich während eines verkürzten Asylverfahrens innerhalb eines schmalen Streifens unmittelbar dort aufhalten: Ganze 60 Meter breit soll der sein. Wer den Korridor verlässt, gilt künftig automatisch als "illegaler Eindringling" und kann mit Haft von bis zu drei Jahren bestraft werden. Flüchtlingspolitik auf ungarisch. Strafbar macht sich dann auch jeder, der einem Flüchtling hilft, diese Zone zu verlassen. Wer kein Asyl bekommt (und das sind in Ungarn derzeit mehr als 90 Prozent aller Asylbewerber), soll direkt von der Grenze wieder abgeschoben werden.

Premier Orbán macht unterdessen weiter Deutschland für die Eskalation verantwortlich. Am Freitag heißt es in einer Erklärung seines Büros, der Aufruhr rund um Keleti sei Folge schlechter Kommunikation. Die Deutschen, so gibt er zu verstehen, hätten erst versprochen, alle aufzunehmen, und dann wollten sie die Einladung gar nicht so gemeint haben. Wenn Ungarn Flüchtlinge weiter nach Westen ziehen lasse, werde Österreich seine Grenze schließen. Also müsse Berlin Visa für diese Flüchtlinge ausstellen, nur "dann dürfen wir sie aus dem Land lassen".

© SZ vom 05.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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