Europas Sozialdemokratie:Warum nur so bescheiden?

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Sie müssten vor Kraft nur so strotzen, denn Kapitalismuskritik ist wieder in Mode wie seit 1968 nicht mehr. Doch die europäischen Sozialdemokraten sind zu zaghaft und sie schaffen es nicht, sich engagiert um die Verlierer zu kümmern.

Von Sebastian Schoepp

Vernünftiges zu tun und sich dabei selbst zu demontieren, ist eine ganz spezielle sozialdemokratische Fähigkeit. Das hat Spaniens PSOE gerade wieder vorgemacht. Sie hat eine fast einjährige Blockade im Parlament durch die historische Entscheidung beendet, eine Minderheitsregierung der konservativen Volkspartei zu dulden. Damit geht sie einen Schritt weiter als die deutsche SPD in der großen Koalition: Sie verhilft ihren Gegnern zur Macht, ohne daran beteiligt zu sein. Die ruhmreiche PSOE läuft dadurch Gefahr, den Weg in die Versenkung zu gehen wie die griechische Pasok.

Das Tragische dabei: Die PSOE hat im Sinne der Staatsraison korrekt gehandelt. Der Haushalt muss verabschiedet werden, ein europäisches Krisenland kann nicht lange ohne Regierung sein. Doch viele ihrer Wähler sind entsetzt, vor allem jene, die dem Sparkurs der Regierung kritisch gegenüberstehen. Der Schriftsteller Javier Cercas hat mal den Begriff "Helden der Selbstdemontage" eingeführt für Politiker, die um der Vernunft willen politischen Selbstmord begehen.

Suizidale Haltung ist verbreitet in Europas Sozialdemokratie; François Hollande begann links, ließ sich aber - nicht zuletzt auf Drängen Deutschlands - auf einen liberaleren Wirtschaftskurs führen. Seine Wiederwahl gilt als unwahrscheinlich. In Italien wird Matteo Renzi von vielen als Erfüllungsgehilfe Brüssels wahrgenommen. In Deutschland handelt Sigmar Gabriel, als wäre sein Motto das eines Songs von Sven Regener: "Immer unter Strom, immer unterwegs - und überall zu spät." Die rot-rot-grüne Mehrheit, die Gabriel jetzt skizziert, existiert ja bereits seit drei Jahren, die SPD hatte nur nicht den Mumm, sie zu nutzen. Es ist sehr fraglich, ob es diese Option 2017 wieder geben wird.

Kritik am Kapitalismus ist in Mode wie seit 1968 nicht mehr

Spaniens Ex-Parteichef Pedro Sánchez hat immerhin eine Koalition mit Linken angepeilt. Er scheiterte nicht nur an mangelnder Führungsstärke, die mit seinem Ehrgeiz nicht mithalten konnte. Gestürzt wurde er, weil wesentliche Kräfte in seiner Partei der Meinung sind, als Mehrheitsbeschaffer oder Dulder sei man auf der sichereren Seite. Das mag stimmen, aber Begeisterung entfacht man so nicht. Dabei müsste die Sozialdemokratie eigentlich gerade jetzt vor Kraft nur so strotzen. Kapitalismuskritik ist en vogue wie seit 1968 nicht mehr. Soziale Ungleichheit produziert gewaltigen Unmut; die Massen protestieren gegen ungezügelten Freihandel, Jeremy Corbyn in Großbritannien ist einer der wenigen, der es schafft, hier zu punkten, gerade bei jungen Leuten. Doch die Mehrheit in Europas Sozialdemokratie hat sich noch nicht von der Ära Schröder, Blair, Zapatero gelöst, die sie auf smart und unternehmerfreundlich trimmten. Der Optimismus des Jahrzehnts nach dem Fall der Mauer schien dazu einzuladen, denn damals galt Eigenverantwortung alles und der Staat wenig. Es waren Sozialdemokraten, die in Deutschland die Existenzangst zur Grundlage sozialstaatlicher Reformen machten.

Auch das war für den Moment das Vernünftige und Richtige, weil es die Wirtschaft anschob. Doch heute lebt Europa nicht im Boom, sondern im Jahrzehnt des Burn-outs. Das erfordert andere Lösungen. Im Süden befürchten die Menschen, dass der Sparzwang sie kaputt macht. Sie bezahlen für die Exzesse der guten Jahre - fast wie jene Deutschen, die sich in der Euphorie der 1990er-Jahre eine private Krankenversicherung aufschwatzen ließen und jetzt die Beiträge nicht mehr zahlen können.

Nur wenn es der Sozialdemokratie gelingt, politische Vernunft und Staatsräson wieder mit dem Engagement für die Verängstigten, die Abgehängten, die Sparkursverlierer glaubhaft zu verbinden, hätte sie eine Machtoption. Spaniens Beispiel gibt wenig Hoffnung, dass sie das schafft.

© SZ vom 26.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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