Europäische Union:Verzögerungstaktik

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Der türkische Präsident Erdoğan gilt nicht gerade als lupenreiner Demokrat. Doch verprellen will Brüssel ihn nicht - wegen der Flüchtlingskrise. (Foto: Kayhan Ozer/AP)

Die EU-Kommission verschiebt erneut einen kritischen Türkei-Bericht - offenbar wird noch gerungen, wie deutlich er ausfallen darf.

Von D. Brössler, A. Mühlauer, Brüssel

Eigentlich war der Plan klar: An diesem Donnerstag wollte die Europäische Kommission die alljährlichen Zeugnisse der EU-Beitrittskandidaten veröffentlichen. Doch daraus wurde nichts. Die Fortschrittsberichte werden weiter unter Verschluss gehalten. Es gibt EU-Kreisen zufolge noch Auffassungsunterschiede, der "kollegiale Prozess" dauere noch an. So kann man das natürlich diplomatisch formulieren. Im Kern geht es aber um nichts anderes als die Frage, wie deutlich die EU die Türkei kritisieren wird - und damit den Mann, auf den sie in Brüssel zur Bewältigung der Flüchtlingskrise angewiesen sind: Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Die EU braucht die Türkei zurzeit mehr, als ihr lieb ist. Frans Timmermans, der Vize-Präsident der Kommission, wird am Dienstag nach Ankara reisen, um weiter an der Umsetzung eines Aktionsplans zu arbeiten. Diesen hatte er der türkischen Regierung vorgestellt, um sich deren Hilfe in der Flüchtlingskrise zu versichern. Die Vereinbarung soll dafür sorgen, dass weniger Flüchtlinge sich von der Türkei aus auf den Weg Richtung Europa machen. Der Plan steht vereinfacht gesagt unter der Überschrift Geld gegen Grenzschutz. Am liebsten hätte Timmermans die Türkei noch vor der Wahl Anfang November zu einer Übereinkunft gedrängt. Doch in Ankara lehnte man sich zurück, genoss die neue Zuneigung aus Brüssel und verwies darauf, dass man keine Dringlichkeit sehe, diesen "Entwurf" zu unterzeichnen.

In Brüssel reagierte die Kommission auf ihre Weise. Um die Türkei nicht öffentlich vor der Wahl am vergangenen Sonntag zu brüskieren, wurde die Vorstellung der kritischen Fortschrittsberichte auf den 5. November verschoben. Traditionell wurden diese sonst stets im Oktober präsentiert. Doch selbst der Termin an diesem Donnerstag konnte nicht eingehalten werden - womöglich gab es Streit um die genauen Formulierungen.

Noch am Montag hatte die Sprecherin von Erweiterungskommissar Johannes Hahn der Süddeutschen Zeitung mitgeteilt, der Termin für die Veröffentlichung der Fortschrittsberichte an diesem Donnerstag sei nun "endgültig bestätigt". Auch an anderer Stelle in der Kommission wurde versichert, die Veröffentlichung am 5. November stehe fest. Auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, Elmar Brok (CDU), war über die bevorstehende Veröffentlichung unterrichtet worden. Ursprünglich am kommenden Montag sollten die Fortschrittsberichte im Ausschuss präsentiert werden. Nun sieht der neue Zeitplan offenbar so aus: Die Berichte werden am Montagabend final formuliert und am Dienstag im Ausschuss präsentiert.

Sobald das Abschlusszeugnis für Ankara ausgestellt ist, dürfte der Bericht das Dilemma offenbaren, in dem sich die EU-Staaten befinden. Die Europäische Union ist Erdoğan entgegenkommen und hat eine Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen versprochen. Aber sie wird auch, wie schon in den vergangenen Jahren, die Türkei kritisieren. Dem Vernehmen nach dürfte das neue Sicherheitsgesetz moniert werden, das die Befugnisse der Polizei bei Festnahmen, Durchsuchungen und Schusswaffengebrauch erweitert. Auch Einschränkungen der Medienfreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz dürften sich im Fortschrittsbericht wiederfinden.

Neben einem positiven Signal in puncto Beitrittsverhandlungen drängt die Türkei vor allem auf eine Liberalisierung der Visabestimmungen. Drei Milliarden Euro verlangt Erdoğan zum Ausgleich der Lasten, die sein Land mit der Aufnahme von mehr als zwei Millionen Flüchtlingen aus Syrien vollbringt. Und bald schon soll es einen EU-Türkei-Gipfel geben, vielleicht sogar noch in diesem Jahr.

Wie stark sich das Kräfteverhältnis umgekehrt hat, bewies kürzlich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Ja, es gebe ungelöste Fragen etwa bei Menschenrechten und Pressefreiheit, sagte er, aber: "Das bringt nichts. Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen mit der Türkei zusammenarbeiten."

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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