Europäische Union:Identitätskrise nach der Gipfel-Pleite

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Bundeskanzler Schröder hat nach dem Scheitern des EU-Gipfels eine breite Debatte darüber gefordert, ob Europas künftig ein reines Marktmodell oder weiterhin eine politische Union sein soll. CDU und CSU wollen jetzt die EU-Erweiterung stoppen und die Brüsseler Bürokratie beschneiden.

Ähnlich hatte sich der amtierende EU-Ratsvorsitzende und luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker geäußert. Bis in die Nacht hatte er mit immer neuen Vorschlägen versucht, die gegensätzlichen Positionen zur künftigen Finanzierung der EU zu vereinbaren. Während der Diskussionen hätten sich zwei Ideen von Europa gezeigt, die aufeinander geprallt seien und "immer aufeinander prallen werden", sagte Juncker.

Bundeskanzler Gerhard Schröder machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung über das Scheitern des EU-Gipfels (Foto: Foto: AP)

Es gebe Staaten, die ausschließlich einen großen Markt wollten, und es gebe welche, die die politische Integration Europas wollten. Er habe bereits seit langem das Gefühl, dass diese Auseinandersetzung eines Tages eskalieren werde. Kurz vor Mitternacht erklärte Juncker den Gipfel dann für gescheitert.

Schröder will politische Integration vorantreiben

Schröder machte deutlich, dass er die politische Integration weiter vorantreiben will. "Der Markt selbst kennt keine Solidarität", sagte der Bundeskanzler. "Die politische Union ist der Ort von Solidarität der Starken mit den Schwachen, und wer die politische Union in Frage stellt, der stellt die Solidarität in Frage."

Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) forderte eine grundlegende Neuorientierung der Europapolitik. Es müsse Schluss sein mit der überstürzten Erweiterungspolitik und der überbordenden Bürokratie in Europa, sagte er.

Stoiber sieht Erweiterung als Grund für Vertrauenskrise

Eine Vertrauenskrise habe die Mehrheit der Bürger in Europa erfasst, daher müssten die Fehlentwicklungen korrigiert werden. Eine unionsgeführte Regierung würde entsprechend handeln, sagte er. So würden die Gespräche mit der Türkei dann auf eine privilegierte Partnerschaft statt auf eine EU- Mitgliedschaft des Landes zielen.

Voraussetzung für eine Abkehr von den beschlossenen Verhandlungen über eine EU-Vollmitgliedschaft wäre jedoch ein einstimmiger Beschluss der europäischen Staats- und Regierungschefs.

Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) sprach von einer Identitätskrise der EU. Hauptgrund seien die Ausweitungsbestrebungen, die weder homogen noch nachvollziehbar seien. "Damit werden die Menschen überfordert", sagte Koch.

Sachsens Landeschef Georg Milbradt (CDU) befürchtete nach dem Scheitern der Finanzverhandlungen negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands.

Schwarzer Peter für Blair

Die Staats- und Regierungschefs hatten sich in Brüssel nicht auf einen Kompromiss zum EU-Haushalt einigen können. Der luxemburgische Premierminister und amtierende EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker machte vor allem den britischen Premier Tony Blair für das Scheitern des Gipfels verantwortlich.

Blair hatte bis zuletzt eine grundlegende Reform der EU-Finanzstrukturen gefordert. Dazu waren die meisten Staaten bei diesem Treffen nicht bereit. "Europa ist nicht in einer Krise - es ist in einer tiefen Krise", konstatierte Juncker. Sichtlich angeschlagen fügte er hinzu: "Meine Europabegeisterung hat einen tiefen Knacks bekommen."

Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sprach von "einer der tiefsten Krisen, die Europa je erlebt hat". "Das ist kein guter Tag für Europa", sagte er. Er sei darüber "traurig". Ein Ergebnis wäre bei gutem Willen aller erreichbar und ein wichtiges Signal für die Handlungsfähigkeit der Union gewesen, sagte Schröder.

Eine Einigung sei aber an der "völlig uneinsichtigen Haltung" Großbritanniens und der Niederlande gescheitert. Vor allem London habe keinerlei Kompromissbereitschaft gezeigt. Die Niederlande hatten eine erhebliche Reduzierung ihrer Nettozahlungen in die EU-Kasse gefordert.

Großbritannien strebt Finanzkompromiss im Herbst an

Blair sagte: "Ich hoffe, wir können von hier aus vorwärtskommen." Europa müsse "die Geschwindigkeit ändern, um sich der Welt anzupassen, in der wir leben".

Sein Außenminister Jack Straw kündigte an, Großbritannien werde sich während seines EU-Vorsitzes in der zweiten Jahreshälfte um eine Einigung im Finanzstreit bemühen. Blair bestritt, dass Großbritannien isoliert von seinen EU-Partnern sei: "Wir saßen nicht allein am Tisch." Auch Schweden, Spanien und Finnland lehnten den Kompromiss ab.

Entgegenkommen der neuen Mitglieder

Die zehn neuen Mitgliedsländer forderten selbst nach dem erklärten Scheitern noch eine Fortsetzung der Verhandlungen. Sie hätten sogar angeboten, auf einen Teil ihrer EU-Hilfen zu verzichten, berichteten Juncker und Schröder. Sie hätten sich "geschämt", als sie dies hörten. Die neuen Länder glaubten "an die Union, an die Solidarität" in der Gemeinschaft, sagte Schröder.

Auch in der Verfassungskrise fanden die Staats- und Regierungschefs der EU keine echte Lösung. Sie beschlossen, den Zeitplan für die Ratifizierung des Vertragswerks zu strecken. Dänemark, Schweden, Finnland, Tschechien und Portugal kündigten daraufhin eine Verschiebung der Ratifizierung an. Konkrete Daten wurden aber noch nicht genannt.

Presseberichten zufolge will auch Irland das Referendum aufschieben. In Estland soll dagegen das Parlament wie geplant im Herbst die Verfassung bestätigen. In Luxemburg soll das Parlament entscheiden, ob das für den 10. Juli geplante Referendum verschoben werden soll. Ministerpräsident Juncker hatte angekündigt, er werde zurücktreten, sollten seine Landsleute gegen die Verfassung stimmen.

Eine Neuverhandlung über die Verfassung schloss der EU-Gipfel bereits am Donnerstag aus. "Einen besseren Vertrag gibt es nicht", sagte Juncker. In allen Ländern müsse nun eine Denkpause zum Überlegen, Erklären und Diskutieren eingelegt werden.

(sueddeutsche.de/dpa/AP/AFP)

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