Europa und das Mittelmeer:Der Fortschritt und die See

Lesezeit: 3 min

Europa war immer eine mittelmeerische Zivilisation - von ihren großen Hafenstädten aus beeinflusste sie die ganze Welt.

Gustav Seibt

Das Mittelmeer, laut Fernand Braudel, seinem größten Historiker, "nichts weiter als ein Riss in der Erdkruste, eine schmale Spindel, die sich von Gibraltar bis zum Isthmus von Suez und zum Roten Meer erstreckt", dieses kleine, von der italienischen Halbinsel in zwei Hälften geteilte Binnenmeer mit seinen Spaltungen, Absenkungen und Erdfaltungen, ist der Raum, in dem die Zivilisation entstand, die heute über den ganzen Globus verbreitet ist.

Nachbau des Kolumbus-Schiffes "Nina" (Foto: Foto: AP)

Jerusalem, Athen und Rom, die Ursprungsorte dieser dynamischen Kultur, sind küstennahe Städte; allerdings liegen sie nicht direkt am Wasser, denn sie mussten befestigt sein gegen Überfälle aus den Weiten der See.

Krieg und Handel gleichermaßen haben diesen europäischen Kernraum zusammenwachsen lassen, und zwar schon im ersten Jahrtausend vor Christus. Die ältesten Erzählungen der Europäer, Homers "Ilias" und "Odyssee", sind nicht zuletzt Seemannsgarn, den beiden Formen der maritimen Verbindungen gewidmet, der kriegerischen und der kolonisatorischen.

Unvorstellbar weite Räume

Die Kulturen des alten Orient waren Land- und Flusszivilisationen, erst wagten sich Phönizier und Griechen, dann die Römer auf das unsichere, aber weit tragende Element und griffen in zuvor unvorstellbar weite Räume aus. Stadtkultur und Seefahrt gehörten dabei zusammen: Die Schiffer, die sich erst an den Küsten entlang, später direkt über die Meere wagten, kamen aus festen Orten mit großen, arbeitsteiligen Häfen.

Von dort aus verbreiteten sie Pflanzen, Tiere und Waren, beispielsweise den Weinbau, der auf den vielen treppenartigen Abhängen der vulkanischen Landmassen am Mittelmeer betrieben wurde.

Dass das Mittelmeer frühzeitig in große Einflusssphären, am Ende der Antike gar in einen einheitlichen Friedensraum verwandelt wurde, ist diesen mächtigen Städten zu verdanken, die bald Töchter gründeten und ganze Netze von Kolonien über die Küsten auswarfen, Konkurrenten erbarmungslos zerstörten - man denke an Karthago, das von Rom vernichtet wurde - und die Piraten bis in die letzten Schlupfwinkel verfolgten.

Die strategischen Durchgangspunkte- die Straße zwischen Sizilien und Afrika, Gibraltar mit den "Säulen des Herkules", der Bosporus, wo mit Konstantinopel die vierte Weltkapitale der Antike entstand, erst viel später der Suez, die neben Panama wichtigste Verbindungsstelle des kolonialen Zeitalters - waren die umkämpften Brennpunkte dieses energetischen Kernraums der Weltgeschichte.

Das gilt für alle Zeiten, von den Persern, die am Beginn des 5. Jahrhunderts vor Christus von Kleinasien nach Griechenland drängten, bis zur Seeschlacht von Trafalgar im Jahr 1805, in der Napoleons Hegemonieträume an der britischen Flotte scheiterten.

Paulus war ein Schiffreisender

Weltgeschichte wurde in mittelmeerischen Seeschlachten geschrieben: in Actium, wo Augustus 31 vor Christus seinen Feind Antonius samt seiner ägyptischen Verbündeten Kleopatra besiegte und damit die römische Ökumene rettete, oder bei Lepanto, wo Spanien und Venedig 1571 das osmanische Reich daran hinderten, zur mittelmeerischen Vormacht zu werden.

In all diesen Kriegen ging es um die Einheit und Zugänglichkeit des Mittelmeers. Ohne den friedlichen Verkehr zwischen seinen Küsten hätte das Christentum nie zur Weltreligion aufsteigen können - Paulus, der erste Missionar, war ein Schiffsreisender.

Und das Mittelalter begann, so haben es die Historiker Leopold Ranke und Henri Pirenne geschildert, nicht einfach mit dem Untergang des Römischen Reichs, sondern erst zweihundert Jahre später, als die Anhänger Mohammeds in reißendem Siegeslauf Nordafrika eroberten, bis nach Spanien und Südfrankreich vordrangen und so für mehrere Jahrhunderte das Mittelmeer in eine islamische und christliche Sphäre zertrennten.

Der Norden musste in Wäldern zurechtkommen, die Stadtkulturen an den Küsten zerfielen. Erst italienischer Seehandel und adelige Kreuzzüge stellten im Hochmittelalter die Verbindungen der Küsten teils friedlich, teils blutig wieder her. Von neuem wurde Europa eine Stadtkultur, man nennt sie heute Renaissance.

Dass der christliche Nordrand der mediterranen Welt am Ende siegreich blieb, hängt auch damit zusammen, dass der Islam es nicht schaffte, an die Küsten- und Stadtkultur der Antike so anzuknüpfen wie Venedig, Genua, Pisa und selbst Florenz dies vermochten.

Kolumbus wagte Dantes Traum der Hölle

Es war ein Genueser in spanischen Diensten, Christoph Kolumbus, der den mittelmeerischen Raum verließ und das historische Modell - Kolonisierung, Durchdringung, Handel, globalen Austausch -, das die Binnensee gegeben hatte, nun auf den ganzen Erdball ausdehnte.

Kolumbus wagte, was bei Dante nur ein Traum der Hölle ist: Er fuhr geradeaus nach Westen zu den Antipoden der Erdkugel und entdeckte nicht den Eingang zur Unterwelt, sondern Amerika. Portugiesen umfuhren zur selben Zeit Afrika und erschlossen die fernöstlichen Insel- und Halbinselreiche.

So endete die mittelmeerische Epoche der europäischen Menschheit, aber nicht ihr Geist, der kriegerisch und profitgierig und erbarmungslos im Wettbewerb blieb. Italien und seine Städte erlebten einen kunstseligen Nachsommer im Windschatten der neuen Routen, das Gold und die Waren nahmen nun andere Wege, erst nach Spanien, dann nach England, wo sie halfen, die Industrialisierung in Gang zu setzen.

So hat in der reißenden Weltminute der Menschheit seit 3000 Jahren immer das Meer den Takt des Fortschritts angegeben, träge Landmächte blieben auf Dauer ohne Chance.

Auch China wird heute zu einer Küstenmacht, Zehntausende Containerschiffe bringen seine billigen Waren nach Amerika und Europa. Und die Zukunft der Europäischen Union wird sich auch daran entscheiden, ob das Mittelmeer eine Ökumene bleibt oder sogar noch stärker wird. Der Fortschritt und die See, sie gehörten immer zusammen.

© SZ vom 12.07.2008/aho - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: