EU-Verfassungskrise:"Ohrfeige von links, Ohrfeige von rechts"

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Nach dem Nein der Franzosen und Niederländer kämpft die Europäische Union gegen die Verfassungsdämmerung. Dass die EU ihren Kurs ändern muss, ist klar, nicht aber wie. Linke und Rechte wollen die Krise auf ganz unterschiedliche Weise kurieren.

Die EU-Verfassungskrise wird immer mehr zum Schauplatz ideologischer Grabenkämpfe. "Frankreich hat Europa eine Ohrfeige von links gegeben, die Niederländer von rechts", sagte der Fraktionschef der Liberalen im Europäischen Parlament, Graham Watson, nach dem für die EU desaströsen Ausgang des niederländischen Referendums.

José Manuel Barroso (Foto: Foto: AFP)

Vor allem aus dem Parlament werden die Rufe nach einem Politikwechsel immer lauter: weniger wirtschaftsliberal, fordern die Linken, Vorsicht bei neuen Erweiterungen, mahnen die Rechten.

"Der Alternativplan B kann nach dem doppelten Nein nur lauten: Politikwechsel auf der europäischen Ebene", mahnte der deutsche CSU-Politiker Ingo Friedrich. "Die EU-Osterweiterung vor gut einem Jahr ist noch nicht einmal organisatorisch bewältigt, geschweige denn in den Herzen und Köpfen der Menschen verankert." Ein Beitrittsmoratorium sei erforderlich, "um die Wertegemeinschaft Europas vertiefen zu können".

Am 3. Oktober dieses Jahres sollen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen, am 1. Januar 2007 sollen Bulgarien und Rumänien der EU beitreten. Beides ist beschlossene Sache.

Rückgängig kann dies nicht mehr gemacht werden - es sei denn, die Kandidaten verhageln sich ihre Perspektive selbst, in dem sie noch ausstehende Reformen unterlassen.

Barroso setzt auf Liberalisierung der Märkte

Aber Europa ist nicht nur dem Druck von Rechts ausgeliefert, der sich in der Frage der Erweiterung entlädt. Auch von Links prallt der Unmut der Bürger gnadenlos an die Brüsseler Türen. Zum Symbol für den vielfach befürchteten neoliberalen Kurs der EU-Kommission ist die geplante Richtlinie zur Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes geworden.

Wie die Erweiterung hat auch die Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes direkt zwar nichts mit der EU-Verfassung zu tun. Dennoch ist für Brok klar, dass Kommissionspräsident José Manuel Barroso früher hätte reagieren müssen. "Barroso hätte den Vorschlag für die Richtlinie zurückziehen müssen." Dies müsse jetzt endlich verstanden werden. "Ich hoffe, dass die Kommission einen Befreiungsschlag macht."

Danach sieht es freilich nicht aus. Barroso machte nach dem Ergebnis aus den Niederlanden am Mittwochabend deutlich, dass die EU-Kommission an ihrem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung festhalten werde. Und für das geeignete Rezept dafür sieht der konservative Politiker aus Portugal die Liberalisierung der Märkte.

Lettland ratifiziert als zehntes Land

Gespannt wartet Brüssel jetzt auf den EU-Gipfel am 16. und 17. Juni. Dann müssen die EU-Staats- und Regierungschefs entscheiden, wie es mit der Verfassung weitergeht. Als sicher gilt aber heute schon, dass der Ratifizierungsprozess fortgesetzt wird. "Alle europäischen Bürger müssen die Gelegenheit haben, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen", mahnte der Präsident des Europäischen Parlaments, Josep Borrell.

Tatsache ist auch, dass Lettland am Donnerstag als zehntes EU-Land die Verfassung ratifiziert hat. Die EU-Kommission hat wiederholt darauf hingewiesen, dass diese zehn Länder rund die Hälfte der EU-Bevölkerung repräsentieren. So recht demokratisch wäre es deshalb nicht, den Ratifizierungsprozess zu beenden und die Verfassung in den Mülleimer zu werfen. Das wird erst dann der Fall sein, wenn gemäß eines Zusatzprotokolls zur Verfassung sechs EU-Staaten das Vertragswerk abgelehnt haben.

Der nächste Wackelkandidat zeichnet sich allerdings schon ab. Am 10. Juli stimmen die Luxemburger in einem Referendum über den Vertrag ab. Eigentlich ist das Großherzogtum europafreundlich, Probleme wurden dort ursprünglich nicht erwartet. Der amtierende EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker, hauptamtlich Luxemburger Regierungschef, fürchtet allerdings, dass sein Land in den Sog der Euroskeptiker hineingezogen werden könnte. Bis dahin übt sich Juncker in Zweckoptimismus: "Europa hat schon oft am Boden gelegen, und es ist Europa immer gelungen, wieder auf die Beine zu kommen."

Die Präsidenten der drei wichtigsten EU-Institutionen - Parlament, Ministerrat und Kommission - hatten am Mittwochabend eine Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses gefordert. Die Bürger und Parlamente in allen Mitgliedstaaten hätten das Recht, ihre Stimme zur europäischen Verfassung abzugeben, sagte Juncker in Brüssel.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärte, zunächst solle beim EU-Gipfel das Ergebnis der beiden Volksentscheide untersucht und dann gemeinsam das weitere Vorgehen abgestimmt werden.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) erklärte, er nehme das deutliche Nein der niederländischen Wähler "mit Respekt, aber auch mit großem Bedauern zur Kenntnis". Er sei weiterhin überzeugt, "dass wir die Verfassung brauchen, wenn wir ein demokratisches, soziales und starkes Europa wollen".

Setzt Blair britisches Referendum ab?

Die Krise um die Ratifizierung der Europäischen Verfassung dürfe nicht zur allgemeinen Krise Europas werden, betonte Schröder. Die Bundesregierung wolle sich darüber "intensiv" mit ihren Partnern auf dem bevorstehenden EU-Gipfel austauschen.

Berichten der britischen Presse zufolge will Premierminister Tony Blair das in Großbritannien für Frühjahr 2006 angesetzte Verfassungsreferendum nach dem Nein der Niederländer kommende Woche absetzen. Der britische Außenminister Jack Straw sagte, das Nein werfe "tiefgreifende Fragen" zur Zukunft Europas auf. Großbritannien übernimmt am 1. Juli von Luxemburg die EU-Ratspräsidentschaft.

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