Erweiterungskommissar Günter Verheugen:"EU-Beitritt der Türkei frühestens im Jahr 2015"

Lesezeit: 2 min

Einen EU-Beitritt der Türkei vor dem Jahr 2015 hält Brüssels Erweiterungskommissar Verheugen für ausgeschlossen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung trat er grundsätzlich für Verhandlungen mit Ankara ein: "Ein absolutes Nein wäre durch nichts gerechtfertigt."

Von Christian Wernicke

Brüssel - Verheugen ließ offen, ob er den EU-Regierungen schon jetzt den Beginn von Beitrittsgesprächen empfehlen werde. In der Brüsseler Kommission brach ein offener Streit aus. Agrarkommissar Franz Fischler befürchtet Zusatzkosten von 11,3 Milliarden Euro pro Jahr. Er warnte, das Land sei "weit mehr orientalisch als europäisch".

Im Gespräch mit der SZ zeigte sich Verheugen beeindruckt vom Tempo der Veränderungen in der Türkei. Diese "Revolution" werde zwar von der Bevölkerung mitgetragen, benötige aber einen europäischen Rahmen.

Trotz Mängeln bei der Umsetzung von Gesetzesreformen und Vorwürfen staatlicher Folter genüge der Wandel, "um jetzt eine Entscheidung zu treffen".

Nach Meinung von Verheugen wäre es "katastrophal", falls Europa der Türkei nun "den Stuhl vor die Tür" stelle. "Das Ergebnis wäre doch, dass Schluss ist mit den Reformen", warnte der deutsche Kommissar.

Verheugen hatte in dieser Woche die Türkei bereist, um sich ein eigenes Bild von den Reformen zu machen. Dem für die EU-Erweiterung zuständigen Politiker fällt Anfang Oktober eine Schlüsselrolle bei Europas Entscheidung über einen Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Ankara zu.

Auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse wird dann die Brüsseler Kommission befinden, ob die Türkei die Bedingungen erfüllt. Das letzte Wort haben dann die Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Staaten bei ihrem Gipfeltreffen im Dezember. Stimmen sie zu, könnten die Gespräche bereits im Frühjahr 2005 beginnen.

Lange Debatte

Verheugen räumte ein, dass die EU-Bürger bisher nicht auf eine solche Entscheidung vorbereitet seien: "Da ist Brüssel der gesellschaftlichen Diskussion um Lichtjahre voraus."

Er habe Europas Regierungen "wieder und wieder aufgefordert, zuhause das zu erklären, was sie auf EU-Gipfeln beschließen". Eine solche Debatte werde "sich hinziehen, bis zum Ende der Verhandlungen vergehen ja noch acht oder zehn Jahre".

In Brüssel machte derweil der österreichische Kommissar Franz Fischler seine massiven Bedenken gegen eine mögliche Aufnahme der Türkei deutlich.

In einem Brief, den der EU-Agrarkommissar bereits Ende Juli an all seine 29 Kollegen geschickt hatte, bezifferte Fischler allein die Kosten für Brüssels Agrarbudget auf jährlich 11,3 Milliarden Euro.

Zudem sei "der Masse der türkischen Bevölkerung nicht bewusst", welchen Kurs die Regierung in Ankara verfolge. Fischler fürchtet, das "asiatische Land" könne sich nach einem Beitritt "zu einer mentalen Barriere" gegen eine vertiefte EU-Integration werden.

Erst zu Beginn dieser Woche hatte der niederländische Kommissar Frits Bolkestein vor einer "Islamisierung Europas" gewarnt.

Verheugen benötigt zur Billigung seines Türkei-Bericht im Oktober die Stimmen von mindestens der Hälfte seiner 30 Kollegen. Kenner der Stimmung im Brüsseler Kollegium glauben, mindestens sechs Kommissare seien "Türkei-Skeptiker".

Verheugen plant, der Kommission die Auswirkungen eines möglichen Beitritts in einer gesonderten Studie darzulegen. Nach SZ-Informationen enthalten die bisherigen Entwürfe dieses Papiers jedoch keine Schätzungen über die möglichen Kosten des Türkei-Beitritts.

Dies, so heißt es in der Kommission, sei "seriös nicht möglich", da sich in den nächsten zehn Jahren die Agrar- und Strukturpolitik noch deutlich verändern werde.

Verheugen hofft, westeuropäische Sorgen vor einer hohen Zuwanderung türkischer Arbeitnehmer nach einem Beitritt zerstreuen zu können. Dazu plant er offenbar, Ankara schon jetzt eine "dauerhafte Schutzklausel" vorzuschlagen: Bei "Störungen auf dem Arbeitsmarkt" könnten demnach die Regierungen die grundsätzlich im EU-Vertrag garantierte Freizügigkeit aussetzen und einen Zuwanderungsstopp verhängen.

Offen ist noch, wann die Verhandlungen mit der Türkei im Falle eines positiven Bescheids beginnen würden. Berater der derzeit amtierenden niederländischen EU-Ratspräsidentschaft hatten kürzlich angeregt, erst in zwei Jahren die Gespräche aufzunehmen. Dies lehnt Kommissar Verheugen jedoch ab.

© SZ vom 11.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: