Einigung auf dem EU-Gipfel in Lissabon:Der Charme der Unschärfe

Lesezeit: 2 min

Überdruss statt Stolz: In Lissabon hat sich Europa nicht neu erfunden, aber immerhin hat man neue Kompromisse entdeckt.

Cornelia Bolesch

Einmal zeigen die Kameras Angela Merkel ganz nah bei Nicolas Sarkozy. Beide wechseln einige Worte. Die Stimmung des französischen Staatspräsidenten wirkt gedämpft. Merkel schaut ihn mitfühlend an. "Nimm's nicht so schwer", scheint sie dem Mann zu signalisieren, dessen Ehe gerade gescheitert ist. Ein europäisches Familienbild, entstanden auf dem Weltausstellungsgelände in Lissabon.

Der Gipfel hat gerade begonnen. Und es wird weitere solcher Szenen geben, die fast intim wirken. Als am Freitag kurz nach Mitternacht die Sektflaschen entkorkt werden und die Portugiesen ihren "Vertrag von Lissabon" feiern, umarmt der zierliche Premier José Socrates die rundliche Angela Merkel so fest, wie ein Sohn, der nach glücklich bestandenem Examen seine Mutter herzt.

In Lissabon weiß jeder, dass es die Kanzlerin und ihre Experten waren, die diesen Erfolg für Europa erst möglich gemacht haben. Der gründliche deutsche Verhandlungsentwurf ließ kaum Spielraum zum Streiten. "Wir wurden mit Dank überschüttet", freut sich Merkel. In Lissabon selbst hält die Kanzlerin sich zurück. Schon vor dem Gipfel aber ist sie fest eingebunden in die Produktion der notwendigen Antworten auf die Streitpunkte. Die Lösungen liegen vor, noch ehe der Gipfel begonnen hat.

"Völlig undramatisch"

"Niemand war unter uns, der meinte, er könne das ganze Ding noch aufhalten", sagt Angela Merkel in der Nacht. Wenn Europa sich diesen "Geist" bewahre, sei ihr vor der Zukunft nicht bange. Große Worte für einen europäischen Gipfel, der etlichen Teilnehmern gar nicht groß, sondern "völlig undramatisch" erschien, wie eine lästige Pflicht, um endlich in Europa voranzukommen.

Anstelle von Stolz und Euphorie ist ein anderes Gefühl deutlich zu spüren: Überdruss. "Wir haben es satt", platzt es irgendwann sogar aus Portugals sanftem Außenminister Luis Amado heraus: "Seit sechs Jahren mühen wir uns jetzt ab mit einem neuen Vertrag."

Draußen kündet die kühne Architektur der Weltausstellung von globalen Herausforderungen, drinnen zeigt die EU wenige Stunden lang wieder ihre provinziellste Seite: Um das große Ganze zu retten, werden kleinste nationale Geschenke verteilt: ein Parlamentssitz mehr für Italien - die rettende Idee, den Parlamentspräsidenten dafür extra zu zählen, kam aus dem Europaparlament selbst; eine Klausel für Polen, um Abstimmungen zu verzögern, die einerseits rechtsverbindlich ist, andererseits aber auch wieder nicht. Die für Europa so typische Unschärfe greift wieder Platz.

Es ist eine Aufführung ohne Drama. Dafür aber mit neuen Protagonisten und alten Darstellern in ungewohnten Rollen. Der britische Premier Gordon Brown erscheint erstmals persönlich auf einem Gipfel der ungeliebten EU. Sein Sprechtext besteht hauptsächlich aus dem einen Satz: "Wir haben unsere Interessen verteidigt." Er nennt die Fülle britischer Vetos. "Europa kann vorangehen", so Browns kühne Schlussfolgerung aus diesem Szenario. Mit solchen Freunden, murmeln einige, braucht Europa keine Feinde mehr.

Es gibt Momente, da wirkt Europa sehr zerbrechlich

Ein anderer Mann hält sich dafür ganz im Hintergrund, der sonst gewohnt ist, den Abläufen seinen Stempel aufzudrücken: Nicolas Sarkozy. Augenzeugen berichten, er beteilige sich kaum an den Verhandlungen, schaue dafür häufig in die Ferne und schreibe viele SMS.

Polens Staatspräsident Lech Kaczynski dagegen spielt wenigstens kurze Zeit die Rolle, die man von ihm gewohnt ist. Am Ende, als alles vereinbart ist und alle nur noch wegstreben, erhebt er sich am Konferenztisch und meldet weitere Bedenken an. Doch niemand hört ihm mehr richtig zu.

Es gibt Momente in Lissabon, da wirkt Europa sehr zerbrechlich - man merkt, wie sehr die nationalen Podeste wackeln, auf denen einige Regierungschefs in Szene setzen. Wird der Vertrag diesmal auch die letzte Runde überstehen?

Dem einen oder anderen Gipfelteilnehmer mag es irgendwann beim Sekt aufgehen, dass man noch keinen Schritt vorangekommen ist. Man steht genau wieder da, wo man vor drei Jahren schon einmal angelangt war - als 2004 in Rom alle Staaten die Verfassung unterzeichneten, die nur wenige Monate später in zwei Referenden unterging.

© SZ vom 20.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: