Ein russischer Flieger gerät in deutsche Gefangenschaft:"Wenn er krepiert, werfe ich ihn in den Graben!"

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Peter Baron von der Osten-Sacken befand sich im April 1945 in der Nähe von Strausberg bei Berlin. Der Wehrmachtsleutnant sollte den örtlichen Rückzug koordinieren. Er erinnert sich bis heute an den abgeschossenen Schlachtflieger-Piloten, dessen Leben er zu retten versuchte.

Es ist wohl allgemein bekannt, dass das Gedächtnis im Alter Kapriolen schlägt. Da gibt es Einiges, das so zu Tage tritt, "als wäre es gestern gewesen". Und dann kann man sich an etwas "total nicht erinnern".

Beim Erinnern an Vergangenes scheiden sich die Geister:

Da gibt es diejenigen, die sich aus dem Vergangenen das Heitere herausfischen und herrlich dabei lachen oder die Anderen, die in der Erinnerung "im Trüben fischen", in Schwermut versinken und sich selbst und ihre Umgebung belasten und darunter leiden.

Ich würde mich irgendwo "mitten drin" einordnen.

Es gibt viele, viele Erinnerungen lustiger Art bei mir, aber auch einiges Traurige, Bedrückende, ja Quälende.

Besonders ein Bild lässt mich nicht los. Ich versuche zu vergessen, aber es gelingt mir nicht - vielleicht will ich es auch nicht vergessen. -

Mitte April 1945 ist die 1. Weißrussische Front unter dem Befehl von Marschall Georgi K. Schukow nach einer gewaltigen Feuervorbereitung aus dem Brückenkopf bei Küstrin zu einem Angriff auf Berlin angetreten. Die deutsche Abwehrstellung wurde durch die riesige Übermacht der Roten Armee an Mensch und Material durchbrochen.

Mein direkter Vorgesetzter, Generalmajor Spengler, hatte den Auftrag bekommen, aus den Resten der zerschlagenen deutschen Divisionen Widerstandsnester zu bilden und diese "bis zur letzten Patrone" zu verteidigen. Ein Befehl, der von vornherein undurchführbar war. Diese "Nester" wurden von den Russen umgangen und der Widerstand schnell beseitigt. Eine rechtzeitige Flucht war der einzige Ausweg. General Spengler war mit seinem engeren Stab und einigen motorisierten Gruppen in Richtung Strausberg bei Berlin abgefahren, wo eine neue Auffangstellung gebildet werden sollte. Ich sollte mit etwa zwei Dutzend Männern am Ort dafür sorgen, dass die versprengten Soldaten und Teile der zurückflutenden Verbände ebenfalls nach Strausberg geleitet wurden. Auch sollte ich dafür sorgen, dass wichtiges Aktenmaterial nicht dem Feind in die Hände fiel. Mein Auftrag war illusorisch. Weder lagerten am Ort wichtige Schriftstücke, noch war es möglich, in die zurückflutende Menschenmenge aus Soldaten und Flüchtlingen Ordnung zu bringen. So musste ich vor allem daran denken, mit meinen Männern mit heiler Haut aus dem Schlamassel herauszukommen.

Ich bin in einem Ort nordöstlich von Strausberg. Es könnte Wriezen gewesen sein. Ich sitze an einem kleinen, wackligen Tisch mit drei Beinen, sein viertes Bein liegt angebrochen einsam in einer Ecke des Zimmers. Obgleich es noch heller Tag ist, herrscht hier ein Halbdunkel: Die Fensterläden sind halb geschlossen und lassen nur spärliches Licht auf die heillose Unordnung im Zimmer fallen. Neben einigen leeren Munitionskisten liegen zerschlissene Aktendeckel und etliche Papierfetzen.

In einer Ecke kauert auf einer Kiste Unteroffizier Born, meine Ordonanz. Er stützt seinen etwas zu groß geratenen Kopf auf die Hände. Sein Gewehr liegt neben ihm am Boden. Zuweilen hebt er den Kopf und schaut mich mit seinen gutmütigen Augen mit einem fragenden Blick an. Wenn es draußen wieder einmal laut kracht, mischt sich auch etwas Angst in seinen Blick.

Mir gegenüber sitzt auf einem noch relativ heilen Stuhl ein jüngerer gut aussehender Mann. Er hat seinen Waffenrock über die Schulter gelegt. Die Schulterstücke zeigen mir, dass es sich um einen Leutnant der Roten Armee handelt. Über der Brust trägt er einen Verband, der an einer Stelle durchgeblutet ist. Neben dem Russen sitzt, ebenfalls auf einer Kiste, Feldwebel E.; Er ist eigentlich der wichtigste Mann in unserem Quartett, denn er hat den verwundeten Leutnant mit seinem Motorrad im Beiwagen hergebracht.

"Wohin sollen Sie den Gefangenen bringen? Was ist Ihr Auftrag?" frage ich ihn.

"Genau weiß ich es auch nicht" sagt er und zuckt mit den Schultern, "zu einer Dienststelle, die aus ihm etwas Wichtiges herauspressen könnte - eine Kommandantur oder ein Stab. Gibt es so etwas hier bei Ihnen?"

"Nichts gibt es hier außer einem Durcheinander. Die Russen sind schon bald hier und die Kommandostellen sind alle zurückverlegt worden. Ich soll hier mit ein paar Mann dafür sorgen, dass nichts Wichtiges dem Iwan in die Hände fällt. Dann hauen wir auch ab."

E. schüttelt den Kopf, "so ein Unsinn! Und was soll ich mit dem da machen?" Er zeigt mit der Hand auf den Russen. "Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihn gleich erledigt. Er ist ein Schlächter, ein Schlachtflieger, der mit seinem Maschinengewehr Jagd auf alles macht, was er erwischen kann. - Auch auf die Zivilisten schießt der Saukerl. Den da haben wir abgeschossen. Wenn er auch Ihnen nicht nützt, mach' ich ihn kalt." Um das zu bekräftigen, macht er mit dem Finger eine Bewegung wie beim Schuss mit einer Pistole.

"Nee, das dürfen Sie nicht", sage ich und hebe abwehrend die Hände, "er ist ein Kriegsgefangener und muss als solcher entsprechend behandelt werden. Außerdem könnte er vielleicht Informationen von Bedeutung geben."

"Na gut, so lange warte ich noch - außerdem krepiert er sowieso bald" und zeigt auf die Blutlache unter dem Stuhl des Russen, die sich immer mehr vergrößert. Der Feldwebel hat Recht - lange hält er es nicht mehr durch. Ständig tropft es aus seiner Wunde. Auch sein Gesicht wird deutlich blasser. Er müsste unbedingt neu verbunden werden, dann könnte man ihn vielleicht noch retten.

"Born, haben wir noch irgendwo ein Verbandspäckchen?" frage ich meinen Burschen.

"Das fehlt mir noch!" schreit E. mit seiner etwas heiseren Stimme und haut aus lauter Wut mit der Faust auf die Kiste, "für ihn ist doch jeder Fetzen Verbandszeug zu viel. Ich habe auch keine Zeit mehr zu warten, ich muss zu meiner Einheit zurück, ich werde da mit meinem Krad gebraucht. Und den Russen nehme ich mit, das ist mein Befehl. Wenn er unterwegs krepiert - werfe ich ihn in den Graben."

"Das ist doch Unsinn, was Sie da reden. Sie haben eben noch gesagt, dass Sie ihn loswerden wollen - Sie wollten ihn erschießen. Und jetzt wollen Sie ihn unbedingt wieder mitnehmen. Warum wollen Sie ihn denn nicht hier lassen?"

"Das will ich Ihnen sagen, Herr Leutnant. Ich merke schon, was Sie vorhaben. Sie wollen ihn womöglich noch gesund pflegen. Und das lasse ich nicht zu. Er hat den Tod dreimal verdient. Wenn er nur auf unsere Soldaten geschossen hätte - aber nein!" Seine Stimme wurde immer lauter, "auch auf unsere Zivilbevölkerung hat das Schwein Jagd gemacht." Seine Augen sprühten wütende Blitze.

Vielleicht war seine Wut verständlich. Aber er ging da zu weit.

"Ich sagte Ihnen schon," erwiderte ich mit erhobener Stimme, "dass ich nicht zulasse, dass Sie ihn töten. Hier am Ort habe ich zu befehlen und trage auch, was den Russen anbetrifft, die Verantwortung".

"Mir egal. Wir machen keine Gefangenen. Den knall ich gleich ab, dann ist der Fall erledigt!" Seine Stimme überschlug sich. Mit seiner rechten Hand griff er in seine Pistolentasche. Auch Born hatte diese Handbewegung bemerkt. Er hob sein am Boden liegendes Gewehr auf und legte es auf die Knie. Es war unmissverständlich, was das zu bedeuten hatte. Die Situation drohte zu eskalieren.

"Der Russe bleibt hier," sagte ich und versuchte dabei, einen bestimmten, aber eher beruhigenden Ton anzuschlagen. Vorsichtshalber legte ich meine Hand auch auf meine Pistole. E. merkte, dass er zu weit gegangen war.

"Na, meinetwegen, bis Sie ihn ausgefragt haben, bleib' ich noch hier."

Inzwischen tauchte einer meiner Leute, die sich im Hof aufgehalten hatten, auf und brachte ein Verbandspäckchen. Das war Borns Verdienst. Er hatte schon zu Beginn der Auseinandersetzung nach einem Sanitäter gerufen. Der Mann untersuchte den Russen: "Da ist nicht viel zu machen", sagte er und schüttelte seinen weißhaarigen Kopf. "Da muss ein richtiger Arzt her. Ich werde einen zusätzlichen Verband draufwickeln, um das Bluten etwas zu mindern."

E. wollte von all dem nichts wissen: Demonstrativ ging er in den Hof und knallte die Tür zu. "Ich hole bald den Kerl ab," hatte er noch gerufen.

Es war nun höchste Zeit, sich um den russischen Offizier zu kümmern. Trotz des neuen Verbandes fallen immer noch Blutstropfen auf den Boden.

"Haben Sie Schmerzen?" frage ich ihn auf Russisch.

"Ich kann es aushalten", sagt er. Hin und wieder zuckt es in seinem Gesicht. Zuweilen schließt er für einige Sekunden die Augen. Sicher hat er Schmerzen. Aber er will sie nicht zeigen. Man merkt ihm einen gewissen Stolz an. Trotz seiner Lage zeigt er in seiner Haltung eine Überlegenheit, nicht eine Überheblichkeit, aber einen Stolz. Er hat etwas an sich, das eine Achtung abverlangt. Er kann leiden, er kann leiden, wie sein Volk seit Jahrhunderten zu leiden gelernt hat. Wenn er als Gefangener nichts mehr für sein Volk tun kann, hier kann er zeigen, dass er auch in dieser Situation die Ehre eines russischen Offiziers hochhalten kann. Vielleicht übertreibe ich etwas. Vielleicht ist er nicht ein Held. In jedem Fall will ich ihm, wenn möglich, helfen. Ich muss ihm helfen, denn ich will ihm zeigen, dass auch ein deutscher Offizier seiner Ehre verpflichtet ist, aber wie?

"Sprechen Sie deutsch?" frage ich ihn.

"Nein, ich kenne nur einige Wörter."

Ich setze die Befragung in russischer Sprache fort. "Haben Sie etwas von unserem Gespräch verstanden?"

"Ja, man will mich töten."

"Ist das wahr, dass Sie auch auf deutsche Zivilisten geschossen haben?"

"Das könnte sein, aber das ist nicht unsere Absicht. Wir fliegen tief, wir sehen unter uns Soldaten. Ob darunter Zivilpersonen sind, können wir bei der großen Geschwindigkeit nicht feststellen. Wir Schlachtflieger haben einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der Kampfhandlungen. Aber nach Möglichkeit schonen wir die Zivilbevölkerung."

Sicher hatte er zum Teil Recht. Die Zivilbevölkerung ist hier noch nicht evakuiert worden und Verluste unter Zivilpersonen müssen in Kauf genommen werden. Andererseits ist es bekannt, dass die sowjetische Luftwaffe gezielt auch auf friedliche Einwohner angesetzt worden ist.

"Haben Sie irgendwelche Dokumente bei sich?"

"Ich hatte welche, die hat man mir gleich nach dem Abschuss abgenommen. Einen kleinen Rest hab ich noch bei mir." Mit einer schmerzverzerrten Bewegung reicht er mir ein Bündel mit Papieren.

"Ist das auf dem Foto Ihre Frau?"

"Ja."

"Und das hier, Ihre Kinder?"

"Ja, das sind meine älteren Kinder - ein Mädchen und ein Junge, meine jüngste Tochter ist bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen."

Ich blätterte die anderen Schriftstücke durch. - Alles nichtssagende Dokumente, ein persönlicher Brief, den seine Frau geschrieben hatte und in dem sie beklagte, dass sie nirgends feste Schuhe bekommen konnte. Auch Lebensmittel seien schwer zu bekommen. Es werde gesagt, dass die Russen nach dem Sieg von den Deutschen vieles Notwendige bekommen würden.

Mit knatterndem MG-Feuer streicht ein Tiefflieger über uns hinweg. Verletzte scheinen nicht zu sein. Einige Kugeln erzeugen auf dem steinigen Pflaster Funken. Einige Querschläger fliegen uns um die Ohren. Der Kanonendonner rückt näher. Wir müssen handeln.

"Wo ist E." frage ich Born.

"Weg ist er," sagt er und zeigt mit der Hand in die Richtung nach Westen. "Er ist einfach abgehauen mit seinem Krad, aber nicht zu seiner Einheit nach Osten. Hier spielt er sich als Vaterlandsverteidiger auf, und wenn es darauf ankommt, haut er ab."

Den sind wir also los. Aber was machen wir mit dem verwundeten Russen?

Die militärische Lage ist völlig chaotisch geworden. Kampfkommandanten werden auch in kleinen Orten eingesetzt. Kampfkommandanten ohne Kämpfer, denn es stehen den Kommandostellen nur wenige, meist versprengte Soldaten zur Verfügung. Jede Rückwärtsbewegung ist streng verboten. Wer in Richtung Berlin erwischt wird, hängt durch die Kettenhunde - wie die Feldpolizei genannt wird - am nächsten Baum. Ob der Feldwebel mit seiner Flucht Erfolg gehabt hat, ist fraglich.

Mich trifft diese Anordnung nur bedingt. Meine direkten Vorgesetzten sind schon in Berlin. Ich kann also weitgehend selbständig handeln. Meine mir unterstellte Handvoll Männer habe ich mit Fahrrädern ausgestattet, und so kann ich hoffen, unter Vermeidung der Hauptstraßen auf Nebenwegen nach Westen durchzukommen.

Was soll ich mit dem Russen machen? Ihn mitnehmen, etwa auch mit einem Rad, entfällt, da es sich herausgestellt hat, dass er sich bei seinem Abschuss ein Bein gebrochen hat. Er kann nicht gehen. Allenfalls auf einem Bein humpeln, wenn ihn jemand stützt. Wenn ich ihn einfach an Ort und Stelle sitzen lasse, wird er mit Sicherheit von einem Fanatiker, der im Vertrauen auf den Endsieg sich als Kampfkommandant fühlt, erschossen. Solche "Helden" sind immer noch in großer Zahl vorhanden. Lazarette oder Verwundetensammelstellen gibt es schon lange bei dem Durcheinander nicht mehr.

"Ich möchte Ihnen helfen", sage ich zu dem immer noch etwas blutenden Russen. "Ich muss mit meinen Leuten jetzt weg, aber ich kann Sie nicht mitnehmen. Wenn hier nach unserer Abfahrt nicht andere deutsche Soldaten oder Polizeieinheiten wären, hätten Sie hoffen können, durch die eigene Truppe befreit zu werden, aber so ..."

"Ich weiß, ich muss sterben, es gibt keinen Ausweg". Eine tiefe Traurigkeit liegt in seinem Blick. - "Dass ich sterbe, ist nicht so schlimm, damit hab' ich mich abgefunden - aber ich denke an meine Frau und meine Kinder. Wir haben im Kriege alles verloren. Alles müsste neu gemacht werden, wer könnte meiner Familie helfen, am Leben zu bleiben, wenn ich nicht da bin?"

"Ich verstehe Ihre Sorgen, mir geht es übrigens auch nicht viel anders. Meine Chancen, den Krieg zu überleben, sind auch bei mir gering."

"Sie haben sicher Hunger, und getrunken haben Sie wahrscheinlich auch lange nicht mehr."

"Wenn Sie mir etwas bringen könnten, wäre ich sehr dankbar."

Henkersmahlzeit - denke ich.

Mit Hilfe von Born organisiere ich etwas Essbares von unserer Marschverpflegung, und eine Feldflasche mit Wasser wird auch besorgt.

Aber jetzt ist Eile geboten. Der Gefechtslärm wird immer bedrohlicher. Muss ich ihn seinem Schicksal überlassen? Ihn als Gefangenen mitzuführen, erlauben die Umstände nicht. Wenn ich nichts zu seiner Rettung tue, stirbt er.

Ich habe eine Idee. Wenn ich ganz schnell handle, gibt es vielleicht eine Lösung. Ich will versuchen, ihn zu verstecken, bis die Russen kommen. "Vielleicht kann ich Sie doch retten", sage ich ihm mit leiser Stimme, damit es kein Fremder hört. "Vielleicht gelingt es mir, Sie zu verstecken". Er macht seine müden, halbgeschlossenen Augen auf. Einen Funken von Hoffnung, glaub ich, in seinem Blick zu entdecken.

"Wirklich? - vielleicht ist mein Leben doch nicht zu Ende". Er richtet sich etwas auf. In seinen Worten, seinem Blick liegt Hoffnung. Hoffnung und eine Bitte, ein Klammern an einen blassen Schimmer, eine Rettung. Eine Hoffnung auch für mich, etwas Gutes tun zu können. Für einen Feind, aber auch für einen Menschen. Ein Gegner, der vielleicht die Menschlichkeit, das Gute im Menschen auch vor die teuflische Grausamkeit und das Verderben, das Verderben jeglicher Moralempfindung und die Gewissenlosigkeit stellt. Dass er wagt in der Erkenntnis des Bösen, sich der Pflicht zu blindem Gehorsam zu widersetzen.

Dieses Bild des hilflosen russischen Offiziers mit seinem hilfesuchenden Blick - dieses Bild ist bei mir in Erinnerung geblieben. Es hat sich tief eingeprägt, so tief, dass es oft auch nachts wie ein Schatten auftaucht.

Der Rest ist schnell erzählt:

Mit vereinten Kräften schleppten Born und ich den verwundeten Russen zum Marktplatz, in der Hoffnung, für ihn ein Versteck zu finden. Das war nicht ganz einfach, da der Russe mit dem gebrochenen Bein nicht auftreten konnte und auch die Wunde - ein Lungendurchschuss - bei dem Transport sichtlich schmerzten. Er hielt aber durch. Nur wenn wir ihn auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes schleppten, war ein kurzes unterdrücktes "Au" zu hören. In einem größeren, gut aussehenden Haus, in dem einige Räume bewohnt schienen, versuchten wir unser Glück. Auf mein wiederholtes energisches Klopfen öffnete sich bis auf einen schmalen Spalt die Tür. Eine ältere Frau blickte uns verstört an. "Wir haben hier einen Verwundeten, der bei Ihnen untergebracht werden muss, bis er von einem Sanitäter abgeholt wird. Bitte lassen Sie uns herein!"

"Das ist ja ein Russe," - sagte sie erschreckt, "um Gottes Willen, das ist für mich viel zu gefährlich. Wer weiß, was der noch anstellt. Nein, nein, das kann ich nicht." Sie schlug die Tür zu. Da war nicht viel zu machen. Gewalt wollten wir schließlich auch nicht anwenden.

Unser Versuch ein paar Häuser weiter scheiterte auf ähnliche Weise.

Doch bei einem älteren, halb zerfallenen Haus entdeckten wir einen Kellereingang, dessen Tür sich öffnen lies. Das war die Lösung. Im Keller standen einige noch brauchbare Möbelstücke. Er konnte sich auf einem alten Sofa hinlegen. Vorsorglich hatten wir ihm noch einen neuen Verband angelegt, und eine Portion Marschverpflegung bekam er auch. Sogar eine Flasche Wein ließ sich auftreiben. Hier würde ihn von deutscher Seite sicher keiner finden, und wenn er Glück hätte, würde es nicht lange dauern, bis die Russen kämen. Vielleicht könnte er gerettet werden.

"Dank, dann viele Mal Dank", sagt er beim Abschied, und ich glaube fast, eine Träne in seinen Augen entdeckt zu haben. "Das hätte ich von einem Deutschen nie erwartet." Er hebt die Hand, als wolle er etwas wegwischen. "Was ist uns alles über Eure Grausamkeit erzählt worden. Was ist da in diesem teuflischen Krieg alles gelogen worden!"

"Viele Scheußlichkeiten sind aber von beiden Seiten begangen worden," warf ich ein, "die da oben hetzen nur die Menschen auf. Das Zwischenmenschliche bleibt auf der Strecke."

"Wenn ich mit dem Leben davonkomme, kann ich mich irgendwie dankbar erweisen? Können Sie mir Ihren Namen sagen?"

"Leutnant von der Osten-Sacken," sage ich, "es ist ein langer Name. Ob Sie den behalten können? Vielleicht können Sie ihn später aufschreiben. Ihren Namen habe ich ja in Ihren Papieren gelesen."

"Osten-Sacken - den Namen vergesse ich nie," sagte er und bekräftigte seine Worte, indem er mit seinem Zeigefinger an die Stirn tippte.

"Vielleicht will es der Zufall, dass wir uns wiedersehen," sage ich, "also, dann viel Glück," ich gebe ihm die Hand, die er mit einem festen Griff entgegennimmt.

Ein dankbarer warmherziger Blick war das Letzte, was ich von ihm erfahren habe.

Peter Baron von der Osten-Sacken, Lübeck

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