Ein Mörder als Nachbar:Im Grunde seines Wesens ein Sadist

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August Siebecke wohnte in München neben einem unauffälligen Herrn. Es war einer der schlimmsten Schinder des Konzentrationslagers Dachau.

Es war etwa im Jahr 1935, als in unser Münchner Haus in der Adamstraße ein Ehepaar einzog, das sich nach späteren Aussagen der Hausmeisterin erkundigt hatte, ob auch in diesem Haus nicht aktive Nazis wohnten. Denn das wäre ihnen nicht besonders angenehm. Dieser Mann mit Namen Franz Böttger war groß, immer gut gekleidet und nach meiner Erinnerung Handelsvertreter für Schmuck und Edelsteine. Er lebte mit seiner Frau ruhig und zurückgezogen im Hause, gehörte mit Sicherheit nicht der Partei oder irgendeiner der vielen Nazi-Organisationen an, denn er trug nie ein entsprechendes Abzeichen oder irgendeine Uniform und nahm nach unseren Beobachtungen weder an den damals ständigen Nazi-Veranstaltungen noch an den entsprechenden Kundgebungen teil.

Ungefähr zwei Jahre nach Kriegsbeginn lief er plötzlich in der Uniform der Waffen-SS herum, und alle Mitbewohner des Hauses glaubten, er sei jetzt in seinem Alter von etwa 50 Jahren zum Wehrdienst eingezogen worden. Da er aber oft abends nach Hause kam, meist fuhr er mit seinem Fahrrad, dachten wir, er sei sicher irgendwie in einer Verwaltungsstelle tätig. Bei einem Luftangriff auf München wurde unser Haus von etlichen Brandbomben getroffen, die Hälfte des Daches brannte ab. Nach etwa vier Wochen kamen zwei oder drei Lastwagen mit neuem Dachstuhl und den dazugehörigen Dachplatten am Haus vorgefahren. Zum großen Erstaunen des ganzen Hauses saßen auf diesem Lastwagen KZ-Häftlinge aus Dachau, die unter dem Kommando unseres Hausmitbewohners von SS-Leuten bewacht wurden. Sie mussten unseren Dachstuhl neu errichten und dann eindecken.

Nun wussten wir, in welcher "Verwaltung" Böttger tätig war. Aber während dieser Arbeiten an unserem Dach gingen er selbst und auch die übrigen Bewacher so moderat mit den Häftlingen um, dass wir alle glauben mussten, dass er auch sonst in Dachau zumindest menschlich auftrat.

Aber nun war unserer Familie klar, dass Böttger über unser Verhältnis zum Dritten Reich sicher informiert war, besonders auch nach der Verhaftung meines Vaters. Dabei war er immer sehr freundlich und zuvorkommend, ja wir bekamen sogar große Stücke Hartwurst geschenkt. Auch bot er mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit, meist bei den immer öfteren nächtlichen Fliegeralarmen, in kumpelhafter Art Zigaretten an.

Kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner traf ich Böttger in seinem Kellerabteil in voller SS-Uniform an. Er wolle, sagte er, von seinen Sachen mitnehmen und sich dann ganz schnell davonmachen. Nach kurzer Zeit schwang er sich mit etlichem Gepäck auf sein Fahrrad und wurde von uns nie mehr gesehen. Wenige Tage, nachdem die Amerikaner München besetzt hatten, kam eine Gruppe befreiter KZ-Häftlinge, noch in ihren gestreiften Anzügen, in unseren Keller und befragte uns eindringlich nach dem Verbleib von dem "Schwein Böttger". Im November 1945 wurde der KZ-Prozess vor dem US-Militärgericht Dachau eröffnet. Einer der Hauptangeklagten war Franz Böttger, der sich vor diesem Gericht mit 39 weiteren Angeklagten als Rapportführer verantworten musste. Was ihm zur Last gelegt wurde, war für uns, die wir glauben, ihn einigermaßen zu kennen, absolut unglaublich. Der Zufall wollte es, dass in die Arztpraxis, wo ich Praktikum machte, zwei polnische Geistliche als Patienten kamen, die sechs Jahre im KZ Dachau überlebt hatten. Beide bestätigten mir einmütig, dass alle Vorwürfe, die in der Anklage geschildert waren, den von ihnen erlebten Tatsachen entsprächen. So sei Böttger persönlich für unzählige Ermordungen von Dachauer Häftlingen verantwortlich, ja hätte sie sogar teilweise selbst durchgeführt. Auch habe er unter anderem ein Gehege mit abgerichteten scharfen Hunden erstellen wollen, um dort Häftlinge hineinzutreiben, dies sei ihm aber vom KZ-Kommandanten untersagt worden. Franz Böttger wurde 1946 zum Tode durch den Strang verurteilt und bald darauf mit vielen seiner Komplizen in Landsberg am Lech hingerichtet. Uns, die wir diesen Mann sehr hautnah erlebt hatten, war es völlig unverständlich, dass dieser Mensch sich zu solchen Verbrechen benutzen ließ. Was kann einen sich sonst als zivilisierten, soliden und hilfsbereit darstellenden Menschen zu diesen unmenschlichen Taten veranlasst haben? Da bleibt nur die Erklärung, dass Böttger im Grunde seines Wesens ein grausamer Sadist war, dem durch seine KZ-Karriere Gelegenheit gegeben war, seinen extremen Sadismus auszuleben. Aber diese "Krankheit" ist während des Dritten Reiches nachweislich sehr weit verbreitet gewesen.

August Siebecke, Herrsching

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