Die SPD und die Agenda 2010:Vorwärts geht's nach links

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Wie Kurt Beck seine Pläne für ein längeres Arbeitslosengeld dem Volk und selbst Gerhard Schröder als "Weiterentwicklung" der Agenda 2010 verkauft.

E. Roll, T. Denkler und D. Esslinger

Die Metaphern der deutschen Sprache sind gelegentlich etwas ungenau. Zum Beispiel kann man einen Scherbenhaufen in Wirklichkeit ja gerade nicht unter den Teppich kehren, das würde doch sehr knarzen und knirschen, wenn dann jemand drübergeht.

Altkanzler Schröder herzt SPD-Chef Beck (Foto: Foto: ddp)

Das wurde deutlich, noch bevor der Agenda-2010-Zurücknehmer Kurt Beck am Abend der deutschen Einheit vor sehr vielen Schaulustigen und Kameras den Agenda-2010-Erfinder Gerhard Schröder trotz allem ausgerechnet für dessen "Wagnis der Zäsur" loben musste in einer lange verabredeten Preisrede.

Vor der Komischen Oper, in der die Quadriga-Preisverleihung 2007 zelebriert wurde, war ungeschickterweise ein Tablett mit gefüllten Champagnergläsern auf den roten Teppich gefallen. Also versuchten dienstbare Geister mit Besen und Dreckschaufel die gröbsten Trümmer und spitzesten Splitter schnell noch zu entfernen, bevor Beck und Schröder dort schaulaufen mussten.

In der Welt der inszenierten Politik heißen Besen und Dreckschaufel: Wortkosmetik und Schauspielkunst. Wortkosmetik kann Kurt Beck, also nennt er seinen Plan, das Arbeitslosengeld I zu verlängern und damit Schröders Agenda 2010 ein bisschen rückgängig machen zu wollen, an diesem Abend beharrlich: Weiterentwicklung der Agenda 2010. Diese Floskel scheint ihm so gut zu gefallen, dass er sie auch noch am Donnerstag bei zwei weiteren Auftritten in Berlin und Leipzig zum Besten gibt.

Der Nach-nach-nachfolger

Für die Schauspielkunst ist naturgemäß Gerhard Schröder zuständig, weswegen der auch deutlich viel später als Beck zur Quadriga-Preisverleihung in die Komische Oper kommt. Auf dass allen noch einmal klar wird, wie hier die Hackordnung verläuft, wer immerhin schon mal Kanzler war und wer bisher nur, wie Schröder es später ausdrückt, "mein Nach-Nach-Nachfolger im Amt des SPD-Vorsitzenden" ist.

Im Saal pflanzt sich der Vor-Vor-Vor-Vorsitzende Schröder dann als sitzende Drohgebärde mit maliziösem Gerd-Lächeln und weit ausgestellten Beinen neben Kurt Beck in die erste Reihe und vermeidet ostentativ, das Wort an ihn zu richten oder ihn auch nur anzuschauen.

Als Beck dann etwas unentspannt die Laudatio und seine vorsichtigen Worthülsen von der Weiterentwicklung der großartigen Schröderschen Zäsuren und Reformen abgeliefert hat, wissen alle im Saal, jetzt könnte Schröder den Beck mit einem einzigen Nebensatz seiner Dankesrede aus dem Amt fegen. Keiner glaubt zwar wirklich an den großen Showdown, aber alle wollen erleben, wie Schröder es nicht macht.

Der geht sehr elastisch auf die Bühne, schaltet um auf staats- und parteierhaltend und spricht zunächst über "die Ungleichzeitigkeit zwischen Entscheidungen auf der einen Seite und den positiven Folgen der Entscheidung auf der anderen Seite".

Das Wagnis der Zäsur

Exakt in diese zeitliche Kluft könne demokratisch legitimierte Politik hineinfallen. "Und ich weiß wahrlich, worüber ich rede."

Dann sagt er: "Vorsitzender dieser ältesten Partei des Landes zu sein, ist ein schweres Amt. Ich weiß um die Verantwortung und die Schwierigkeit, Vorsitzender der ältesten deutschen Partei zu sein. Ich weiß, wie viel Loyalität man braucht, und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man sie nicht immer hat. Diese Loyalität aber werde ich jedenfalls dem Vorsitzenden meiner Partei niemals aufkündigen, das geht über eine mögliche Kontroverse über das eine oder andere Detail hinaus."

Als Schröder Beck dann auch noch "von ganzem Herzen" viel Erfolg wünscht, applaudiert das Publikum. Sie lieben zwar das Drama und die Spannung sehr, aber doch auch das Happy End.

Im Applaus gehen Schröder und Beck endlich aufeinander los, sodass es für eine Nanosekunde so aussieht, als wollten sie die Sache doch noch im männlichen Ringkampf austragen. Dann aber verwandelt sich das Kräftemessen in eine vierhändig schulterklopfende Umarmung: erleichtert der Dicke, begeistert von seiner staatsmännischen Generosität der andere.

Beck muss an diesem Abend noch ein paar Mal Auskunft geben, wie es sich an-fühlt, dem Reformkanzler einen Preis für sein "Wagnis der Zäsur" zu verleihen und gleichzeitig zu planen, ein Kernstück aus diesem Wagnis wieder herauszunehmen und damit, wie es sein Parteivize Jens Bullerjahn ausdrückt, "zu versuchen, die Linkspartei links zu überholen". Beck sagt also noch ein paar Mal das schöne Wort Weiterentwicklung der Agenda 2010 in die Kameras.

Ein ER mit großen Buchstaben

Und darüber, dass Schröder diesen "Wagnis der Zäsur"-Preis bekommen hat, sagt er: "Er hat es verdient", was, wenn man es einfach so hinschreibt, sich vielleicht ein wenig gönnerhaft liest. Kurt Beck aber kann dieses "er" sehr großbuchstabig aussprechen. Und ER, Schröder also, muss in die vielen Kameras gar nichts mehr sagen.

An diesem Abend hat er Beck seine Loyalität zugesichert. Am Dienstag hat er über die Agenturen bestellen lassen, dass auf jeden Fall an der Substanz der Agenda festzuhalten sei. Jetzt muss also bis zum SPD-Parteitag eigentlich nur noch geklärt werden, was genau Substanz ist und was Weiterentwicklung, und möglicherweise auch noch, was genau man unter Loyalität zu verstehen hat.

Am nächsten Morgen in Berlin steht Beck dann erneut im Schatten eines wahrhaft großen Sozialdemokraten und muss erklären, wie der Sozialstaat sozialdemokratisch gestaltet werden kann. Im Willy-Brandt-Haus spricht er vor den Teilnehmern des 20. Forums der historischen Kommission der SPD. Einer Institution, die Brandt noch persönlich ins Leben gerufen hatte.

Die Agenda 2010, sagt Beck, sei zum Zeitpunkt ihres Beschlusses "notwendig und damit richtig" gewesen. Es könne schließlich Zeiten geben, in denen schwierige Entscheidungen gefällt werden müssten, weil die Systeme sonst dem Druck nicht mehr standhielten. "Aber daraus ein Prinzip zu machen, ist etwas ganz anderes. Das müssen wir vom Kopf wieder auf die Beine stellen!"

Man könnte sich nun vorstellen, wie Franz Müntefering, der Änderungen an den Hartz-Gesetzen strikt ablehnt, angesichts dieser Interpretation einen Kopfstand macht, aber Beck wollte solche Gedanken nicht aufkommen lassen und sprach sogleich davon, dass es ja keine "prinzipielle Unterschiedlichkeit" gebe. Es soll ja auch nur eine kleine Weiterentwicklung sein.

Und diejenigen, die das am meisten freuen dürfte, trifft Beck dann am Donnerstagnachmittag in Leipzig. Dort findet in dieser Woche der Bundeskongress der Gewerkschaft Verdi statt, jener Organisation also, deren Funktionäre in den vergangenen Jahren ganz besonders heftig protestierten gegen das, "was man Agenda 2010 genannt hat".

Buhs und Ohhhs bei Verdi

So distanziert ist diese Formulierung, so voller Abscheu - der Vorsitzende Frank Bsirske könnte es nicht angewiderter vortragen. Es ist aber schon wieder die Wortwahl des SPD-Chefs, der hier ein Grußwort hält, bereits eine halbe Stunde über Mitbestimmung, Kündigungsschutz und Mindestlöhne gesprochen hat und nun endlich bei dem Thema angekommen ist, bei dem alle ihn erleben wollen.

Verdi ist ein Verein, bei dem manche Delegierten einem Redner grundsätzlich keinen Buh-Ruf und kein höhnisches "Ohhhh!" schuldig bleiben, sobald der sich auch nur einen Nebensatz lang von der erwünschten Linie entfernt. Beck bekommt seine Buhs, als er seiner distanzierten Formulierung zur Agenda 2010 die Bemerkung voranstellt, er bekenne sich "ausdrücklich" dazu, "dass wir Reformen in Deutschland auf den Weg gebracht haben".

Die hätten "entscheidend" dazu beigetragen, dass heute eine Million Menschen weniger arbeitslos seien als vor zwei Jahren. So etwas will hier selbst dann keiner hören, wenn zu erahnen ist, dass der Redner gleich die Kurve kriegen wird. Kurt Beck bezeichnet die "Weiterentwicklung" als eine Sache, die "ansteht".

Und weil er sich als Vorsitzender dieser ältesten Partei des Landes seine öffentlichen Gegner sorgfältig aussuchen muss, erwähnt er zwar, dass er für seine Forderung beschimpft wird. Er ordnet das aber "gewissen Publikationen" zu. "Das halte ich aus, werde aber nicht knieweich."

Da klatschen die Delegierten freundlich - aber doch nicht so leidenschaftlich, wie etliche ihn kurz darauf wieder auslachen, als er, der 1969 in die ÖTV eingetreten ist, von seinem "Gewerkschaftsherz" erzählt. So schnell kann man verlorene Anhänger eben nicht wiedergewinnen, wie man Vor-Vor-Vor-Vorgänger gegen sich in Stellung gebracht hat.

© SZ vom 5.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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