Die neue Macht der Schiiten:Freunde der zwölf Imame, erhebt euch!

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Die Schiiten erleben eine Renaissance - und der Westen sucht in ihrem religiösen Dogma Spuren der Demokratie. Manch amerikanischer Politiker tut sich derweil schon mit der Unterscheidung schwer: "Die Sunniten sind radikaler als die Schiiten. Oder umgekehrt."

Petra Steinberger

Im vergangenen Herbst machte der Journalist Jeff Stein einen Test. Er wollte von amerikanischen Kongressabgeordneten wissen, was denn der Unterschied sei zwischen den Schiiten und den Sunniten. Nicht von beliebigen Abgeordneten, sondern solchen, die etwas zu sagen haben, was nationale Sicherheit und die Geheimdienste betrifft.

Radikaler irakischer Schiiten-Führer: der 32-jährige Moqtada al-Sadr (Foto: Foto: afp)

"Da gibt es", sagte also die republikanische Abgeordnete Jo Ann Davis, "einen Unterschied in ihren fundamentalen religiösen Ansichten. Die Sunniten sind radikaler als die Schiiten. Oder umgekehrt. Aber ich glaube, es sind die Sunniten, die radikaler sind als die Schiiten."

Jo Ann Davis ist die Vorsitzende des Komitees, das überwachen soll, wie es die CIA mit der Rekrutierung islamischer Spione hält. "Al-Qaida sind die radikalsten, also denke ich, dass sie Sunniten sind. Ich könnte mich irren", sagte Jo Ann Davis. Den Unterschied zu wissen, gestand sie schließlich ein, sei sehr wichtig, "denn man muss seinen Feind kennen."

Muss sich der Westen entscheiden?

Jo Ann Davis ist keine Ausnahme, was die Kenntnis amerikanischer Politiker über die theologischen Differenzen innerhalb des Islam angeht. Abgesehen davon war es ihr letzter Satz, der die allgemeine Konfusion widerspiegelt - und die Frage, wie man es denn politisch zu halten habe mit der Religion. Denn wer genau soll der Feind sein, den man im Nahen Osten glaubt wählen zu müssen - und wer der politische Verbündete? Daran geknüpft ist zunächst einmal die Wahl zwischen Stabilität und Demokratie.

Doch dazu kommt die wachsende Erkenntnis, dass sich die Machtverhältnisse innerhalb der islamischen Welt zugunsten der Schiiten zu verschieben scheinen - dabei jedoch nicht unbedingt so, wie es sich die schiitische Regionalmacht Iran wünschen würde. Könnte also die Schia die Demokratisierung vorantreiben, in der die Sunniten bisher anscheinend versagt haben?

Der Rechtswissenschaftler Noah Feldman stellte vor kurzem in der New York Times eben diese Frage: Muss sich Amerika, muss sich der Westen für eine Seite, für Sunniten oder Schiiten, entscheiden? Und für welche? Noah Feldman ist als einer der Mitautoren der irakischen Verfassung einer der wenigen amerikanischen Intellektuellen, der wirklich in das irakische Abenteuer involviert ist und der es gerade deswegen stets vermied, explizit Partei zu ergreifen.

Die politische Realität ist von Unentschiedenheit bestimmt. Grundsätzlich unterstützen die USA die meist despotischen Regimes der sunnitischen Welt, allen voran die Regierung von Saudi-Arabien. Im Irak jedoch stehen die Amerikaner eher auf Seiten der Schiiten.

Tatsächlich gibt es in den USA, wie in der westlichen Welt allgemein, kulturelle und politische Affinitäten und Abneigungen gegenüber den jeweiligen Sekten. So hält es die sogenannte realistische Schule der Außenpolitik spätestens seit der islamischen Revolution im schiitischen Iran, die das amerikafreundliche Schah-Regime hinwegfegte, eher mit den Sunniten. Dahinter steckt ein ähnlich basisdemokratischer Gedanke wie hinter der Unterstützung der schiitischen Mehrheit im Irak: Sunniten stellen 85 bis 90 Prozent aller Muslime.

Der Schia zugeneigte Kreise bilden dagegen keinen klar definierten Block. Es sind Stimmen wie die des Islamwissenschaftlers Vali Nasr oder einige Exiliraker wie der oft angefeindete Kanan Makiya, dessen Bücher über die Gewaltherrschaft Saddam Husseins viele Amerikaner von der moralischen Notwendigkeit eines Regimewechsels überzeugten.

Doch auch weniger umstrittene Islamexperten, die sich über das amerikanische Trauma der islamischen Revolution hinweg mit der Schia befassen, halten diese für keineswegs so "radikal", "fanatisch" oder "irrational", wie sie oft dargestellt wird.

Seit einiger Zeit jedoch ändert sich das Bild. Die schiitische Theologie sei offener für die Anforderungen der Moderne, für Reformen und Demokratie, als es die üblichen Bilder suggerieren, heißt es. "Schiiten", meint Vali Nasr, der angelehnt an den amerikanischen exceptionalism an eine "schiitische Besonderheit" glaubt, "sind subjektiv und objektiv eine demokratische Kraft. Ihr Aufstieg injiziert einen kräftigen Schuss von echtem Pluralismus in das allzu oft von Sunnis dominierte politische Leben der muslimischen Welt."

Historisch geprägt von der Verfolgung

Tatsächlich ist die schiitische Theologie - und damit ihre politische Sprache - historisch von der Erfahrung einer verfolgten Minderheit geprägt.

Zunächst war es der Streit um die Nachfolge des Propheten, die den Bruch der "Schiat Ali", der Partei Alis, von den Sunniten begründete. Die Schiiten halten die leiblichen Verwandten des Propheten für dessen legitime Nachfolger und die von den Sunniten anerkannten Kalifen für Usurpatoren.

Sie verehren ihre zwölf Imame, Ali, der ermordet wurde, oder Hussein, der in der Schlacht von Kerbela starb. Und so entwickelten sie, aus ihrer Position der Machtlosigkeit, eine politische Moral, in der Herrschaft nach ihrer Qualität beurteilt werden sollte und weit weniger nach der Form. Schiiten rebellierten gegen Herrscher, die in ihren Augen keine Legitimität besaßen, die nicht "gerecht" waren.

Schiitische Intellektuelle, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts für die modernen westlichen Ideen des Konstitutionalismus, der Volksherrschaft, der liberalen Demokratie und des Säkularismus zu begeistern begannen, stellten sich dabei nicht außerhalb ihrer Tradition, sondern fanden die Affinitäten zu diesen Ideen in ihrer eigenen Geistesgeschichte.

Die Schia, heißt es, spricht in der Sprache der Unterdrückten. So ist es nicht erstaunlich, dass gerade linke Ideologien mit ihrer Betonung auf Gleichheit und Gerechtigkeit für schiitische Denker attraktiv wurden.

Die paradoxe Macht der Schia

Der iranische Soziologe Ali Shariati verband in den Jahren des Schah-Regimes traditionelles schiitisches Gedankengut, Mystik, westlichen Existentialismus, Marxismus und Anti-Imperialismus zu einem eklektischen Ideengebäude, das zur Grundlage für den linken Flügel der iranischen Revolution wurde.

Vor allem im Irak setzte man Kommunismus zeitweise mit der Schia gleich. Die schiitische Stadt Shatra war als "Klein-Moskau" bekannt und auch der jetzige Führer der irakischen kommunistischen Partei ist Schiite.

In der sunnitischen Theologie wiederum wurde von der weltlichen Macht vor allem verlangt, dass sie für Ordnung und Stabilität sorgte. Mittelalterliche Theologen rechtfertigten jede Form von Herrschaft, solange sie nur die sunnitische Gemeinde schützte. Diese Einstellung führte, so ihre Kritiker, zwangsläufig zu einer passiven Akzeptanz undemokratischer Regimes, wie sie heute in so vielen sunnitischen Staaten zu finden ist.

Doch die antiautoritären Tendenzen der schiitischen Theologie, ihr verinnerlichtes Misstrauen gegenüber jeglicher weltlicher Macht führen in dem Augenblick zu einem Paradox, in dem die Schia selbst an die Macht gelangt. Sie hat dafür theologisch keine Vorgaben.

"Schiismus", erklärt der Iranexperte Hamid Dabashi von der Columbia Universität, "ist eine Religion des Protests. Sie kann der Macht die Wahrheit vorhalten und diese destabilisieren. Aber sie kann nie selbst ,an der Macht' sein. Sobald sie an der Macht ist, widerspricht sie sich."

Währenddessen haben es die Sunniten schwer damit, nicht an der Macht zu sein. Auch bei ihnen setzt die Zäsur mit Beginn der Moderne ein, die ihnen die Okkupation des Westens einbrachte, aber auch dessen Vorstellungen. Man suchte die Ursache für den Niedergang der islamischen Macht (und dabei war vor allem die sunnitische gemeint) - und fand Verschwörungen, nachlassenden Glaubenseifer, oder auch Stagnation.

Kein Grund des Vertrauens

Während die Modernisierer nach grundlegenden Reformen riefen und später im arabischen Nationalismus Antworten suchten, keimten auf dem Boden der Demütigung ein gewaltiger Minderwertigkeitskomplex und ein neuer Glaubenseifer.

In großen Teilen von den puritanischen Wahabiten Saudi-Arabiens finanziert, suchte der sunnitische Fundamentalismus Erlösung in der Rückkehr zu den Werten eines imaginären goldenen Zeitalters. Und als die Reformen stagnierten und der Nationalismus in sich zusammenfiel - blieb nur noch ein zunehmend gewaltbereiter Fundamentalismus, der schließlich im 11. September gipfelte.

Doch da hatten die Schiiten längst ihren eigenen Weg eingeschlagen, waren sie doch in der Begeisterungswelle des arabischen Nationalismus durch ihre Assoziierung mit Iran sowieso misstrauisch als eine Art Fünfte Kolonne betrachtet worden.

Unter der amerikanischen Besatzung des Irak kulminieren nun all diese ideologischen Stränge zum Chaos. Die lange unterdrückte schiitische Mehrheit gelangt an die Macht, in der Reaktion paart sich arabisch-sunnitischer Anti-Amerikanismus mit religiös begründetem Anti-Schiismus.

Auch die Schiiten haben historisch keinen Grund, dem Westen zu vertrauen, schon gar nicht, zu einem Zeitpunkt, an dem die amerikanische Regierung Iran zum nächsten großen Feind erklärt hat.

Pragmatiker wie Noah Feldman warnen jetzt davor, sich ausschließlich auf eine der beiden Sekten einzulassen. Wer Dogma mit Politik gleichsetzt, wird im Nahen Osten und der arabischen Welt bald schmerzhaft an die Grenzen des westlichen Demokratieverständnisses erinnert. Glaube und Antagonismen lassen sich nicht einfach wegwählen.

© SZ vom 29.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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