Die Bundeswehr am Hindukusch:Einsatz anno 1428

Lesezeit: 9 min

Der Aufbau stockt, das Risiko steigt - womit deutsche Soldaten in einem Land kämpfen, das durch Krieg und Bürgerkrieg aus der Zeit gefallen ist - "Wir müssen Geduld haben mit den Afghanen".

Peter Münch

Drinnen im Lager halten sie für einen Augenblick mit der Arbeit inne, hören das Donnern, blicken nach oben in den stahlblauen Himmel, sehen ihre Tornados fliegen, sehen sie landen, alles ist wie immer, alles in Ordnung, und die Arbeit geht weiter.

Die Wachen stehen auf ihren Posten, der Feldpostler stempelt Briefe für die Heimat, und in den klimatisierten Büros entwerfen die Offiziere neue Einsatzpläne. Es gibt immer etwas zu tun, immer etwas zu befehlen und auszuführen für die Bundeswehrsoldaten im Camp Marmal am Flughafen von Masar-i-Scharif, oben in der staubigen Steppe Nordafghanistans.

Jeder Tag ist Mittwoch, sagen sie hier gern, weil sie an sieben Tagen die Woche arbeiten. Dies ist ein Tag im Oktober 2007.

Draußen in der Stadt, 20 Kilometer entfernt in Richtung Westen, hocken die Händler auf ihren Handkarren, mit nackten Füßen zwischen aufgehäuften Zwiebeln und Kartoffeln.

Vor den Auslagen stehen Frauen, die Besorgungen fürs Nachtmahl machen. Die Mutigen tragen Schuhe mit Absätzen zur Burka. Ein paar Kinder tun das, was Kinder in Afghanistan am liebsten tun: Sie lassen selbstgebaute Drachen steigen in diesen stahlblauen Himmel.

Am Morgen hatte es noch eine kurze Aufregung gegeben: IED-Alarm. Irgendwo in der Nähe der Blauen Moschee soll ein improvised explosive device, ein Sprengsatz, am Straßenrand entdeckt worden sein. Doch nichts ist passiert, es war ein Fehlalarm.

Nun kreisen Schwärme weißer Tauben über der mächtigen Kuppel der Blauen Moschee. Alle Tauben werden weiß an diesem heiligen Ort, sagen sie in Masar-i-Scharif. Es ist ein Tag wie jeder andere, ein Tag im Ramadan des Jahres 1428.

"Eine wunderbare Arbeit"

Afghanistan lebt nach dem islamischen Kalender, doch eigentlich ist das Land aus der Zeit gefallen in den Jahrzehnten der Kriege und Bürgerkriege.

Es ist ein zerrissenes Land bis heute. Und seitdem es sich der Westen zur Aufgabe gemacht hat, Afghanistan den Frieden zu bringen, prallen die Welten aufeinander am Hindukusch. Besonders hart im Süden und im Osten, wo Amerikaner, Briten, Kanadier oder Holländer gegen die Taliban zu kämpfen haben. Da gibt es Tote jeden Tag.

Aber auch im Norden, wo die Deutschen seit dem Sommer 2006 das Regionalkommando der Isaf-Friedenstruppe innehaben, ist längst nicht alles friedlich und sicher.

Das Land steht auf der Kippe, und in Deutschland verstehen immer weniger Menschen, was die Bundeswehr am Hindukusch zu suchen hat. Auch im Bundestag, der am Freitag über die Verlängerung des Mandats für die etwa 3000 Isaf-Soldaten und die sechs Tornado-Aufklärungsflugzeuge abstimmt, werden die Fragen zu diesem mordsgefährlichen und teuren Einsatz drängender: Darf man Krieg führen, um zu helfen?

Wollen sich die Afghanen überhaupt helfen lassen, oder sehen sie die Friedenstruppen längst als Besatzer, als Feinde? Und gibt es überhaupt jemals eine Chance, die zwei Welten drinnen in den Lagern und draußen im Land zusammenzubringen?

Drinnen im Lager sitzt der deutsche Brigadegeneral Dieter Warnecke und spricht wie ein Politiker von Versöhnung, wie ein Entwicklungshelfer vom Wiederaufbau und manchmal auch wie ein Soldat von "Force protection".

Wer als Isaf-Kommandeur verantwortlich ist für neun afghanische Provinzen, für eine Fläche halb so groß wie Deutschland, der muss wohl so etwas wie ein Staatsmann in Uniform sein. Und sogar Gefühle darf er offenbaren - zumindest so weit, dass es "kein gutes Gefühl ist, wenn man hört, dass mehr als die Hälfte der Leute in Deutschland sagen, man müsste aus Afghanistan abziehen".

Da hocken sie im Camp Marmal hinter einer drei Meter hohen Betonmauer, haben jeden einzelnen ihrer gelben Wohn- und Bürocontainer mit Stahlverstärkung plus Sandsäcken gegen Raketenbeschuss gesichert, fahren nur noch in gepanzerten Fahrzeugen durch die Wildnis - und müssen sich dann gegen Angriffe aus der Heimat verteidigen. Für den General ist das nur zu erklären durch "mangelnde Aufklärung darüber, was hier für eine wunderbare Arbeit gemacht wird".

Die Gefahren will er nicht unterschlagen, wie könnte er auch angesichts von 21 Soldaten, die die Bundeswehr in Afghanistan durch Unfälle und Anschläge verloren hat. Er weiß um die "Taliban, die versuchen, den Terror in den Norden zu tragen", um die Durchlässigkeit der pakistanischen Grenze oben in den Bergen von Badakhschan, um die "Selbstmord-Zellen in Kundus", die am Freitag wieder zugeschlagen haben mit einem Angriff auf eine deutsche Patrouille, und am Sonntagabend folgte dann auch noch ein Raketenbeschuss, bei dem ein Geschoss in der Kundus-Feldküche landete, ohne Schaden anzurichten - alles "echte Bedrohungen" in seinem nördlichen Kommandobereich, sagt der deutsche General.

Und natürlich kennt er auch die Korruption in den Ämtern und bei der Polizei, die Kriminalität und die Drogenprobleme. Doch der Rückzug, der einer Kapitulation vor den Problemen gleichkäme, ist für ihn keine Option. "Wir müssen Geduld haben mit den Afghanen", fordert Warnecke, "und wir müssen die nächsten Jahre durchstehen. Je länger wir durchhalten, desto mehr zahlen sich die Projekte aus."

Kein Zweifel, dieser Einsatz ist auf Dauer angelegt, auch wenn der Bundestag im Jahresrhythmus das Mandat verlängern muss. In Kundus, dem ältesten der mittlerweile drei deutschen Stützpunkte im Norden, haben sie jetzt Unterkünfte aus Stein gebaut und dazwischen Rosen gepflanzt. In Faizabad wurde der Flughafen renoviert. Und im Camp Marmal von Masar-i-Scharif, wo 1500 deutsche Isaf-Soldaten Dienst tun, wird zwar immer noch an allen Ecken gewerkelt.

Doch die Kapelle für die Sonntagsmesse ist längst gemauert, und die schnurgeraden Lagerstraßen sind asphaltiert - auch zur Freude deutscher Jogger und norwegischer Langläufer, die selbst bei Gluthitze mit rollenden Brettern unterwegs sind. An Rückzug denkt keiner. "Wir haben hier noch jede Menge Arbeit zu leisten", sagt General Warnecke.

Draußen in der Stadt hören sie das gern, vielleicht nicht alle, aber doch die allermeisten. Anders als im Süden sind die Isaf-Truppen im Norden beliebt. Sie müssen ja auch nicht kämpfen, sie dürfen helfen, und deshalb heißt sie auch der Imam der Blauen Moschee willkommen.

"An den Freitagen predige ich den Leuten, seid wie Brüder zu den Soldaten", sagt der hochmögende Mullah Mohammed Kasim Ansari, "sie sind hierher gekommen, um Afghanistan zu helfen." Auch im Regierungspalast weiß der Vize-Gouverneur Alhaj Anwar Razaqyar nur Gutes über die fremden Truppen zu sagen.

Er lobt die Deutschen "für all das, was sie für den Wiederaufbau tun", er rühmt sie dafür, "dass sie Respekt zeigen vor unserer Religion und unseren Traditionen", und nicht zuletzt hebt er hervor, "dass sie eine gute Beziehung zu unserem Gouverneur haben".

Letzteres darf man wohl auch so verstehen, dass sie dankenswerterweise die Kreise des örtlichen Machthabers nicht stören, weil ihnen ja das Mandat weder den Einsatz gegen die Drogen noch die Einmischung in die Politik oder in regionale Konflikte erlaubt.

Der Gouverneur Atta Mohammed Nur wird das gewiss zu schätzen wissen. Er ist ein kantiger Tadschike, der seine Rivalen mit Gewalt aus der Provinz vertrieben hat. Als ehemaliger Mudschahedin-Kommandeur ist er zu großer Macht und großem Reichtum gekommen. In diesen Tagen weilt er in Washington, was seinem in der Heimat gepflegten Ruf als Weltpolitiker nur guttun kann. Sein loyaler Vize hält die Stellung und preist voller Stolz die Balkh-Provinz als "die beste unter allen Provinzen Afghanistans".

Zur Not auch Feuerwehr

Tatsächlich erlebt zumindest die Hauptstadt Masar-i-Scharif einen Bauboom, wie es ihn sonst in diesem Land nur in Kabul gibt. Verspiegelte Neubauten ragen aus dem lehmbraunen Häusermeer heraus, und ein paar reiche Geschäftsleute verewigen sich gerade im Kreisverkehr. Neun prächtige Verkehrsinseln mit Denkmälern haben sie gestiftet, weil der Gouverneur befand, Masar soll schöner werden. Nun rumpelt der Autoverkehr mal um einen aufgeschlagenen Koran, mal um ein steinernes Rudel Rotwild herum.

Für die alltäglichen Notlagen setzt man aber doch eher auf die Hilfe aus dem Ausland. Zufrieden zählt der Vize-Gouverneur auf, dass die Deutschen "Straßen bauen, Schulen errichten und medizinische Hilfe leisten". Und wenn es sein muss, kommt die Isaf-Truppe auch als Feuerwehr - vor einem Jahr zum Beispiel, als das Provinzkrankenhaus brannte.

Viel haben die Flammen nicht übriggelassen vom Haupthaus. Doch auf einer Freifläche hinter dem Parkplatz, auf dem der sehr große und sehr schwarze Jeep des Klinikdirektors steht, sind nun Dutzende Arbeiter damit beschäftigt, zunächst einmal ein Container-Hospital aufzustellen. Bezahlt wird das mit deutschem Geld. 1,1 Millionen Euro für 60 Betten. Später soll, vielleicht, ein richtiges Krankenhaus gebaut werden - mit 100 bis 200 Betten für elf Millionen Euro.

In den Resten des alten Krankenhauses steht Dr. Said Qadir, und er steht dort auf verlorenem Posten. Die Zimmer sind überfüllt, die Patienten liegen auf den Gängen, auf der sogenannten Intensivstation verteilt ein klappriger Ventilator die stickige Luft. "Jeden Tag kommen allein 20 Verletzte nach Verkehrsunfällen und dazu auch noch die Minenopfer", sagt er.

Der Ansturm ist gewaltig, und die Arbeit wächst ihm über den Kopf, denn das Hospital in Masar-i-Scharif ist Anlaufstelle für die Menschen aus allen neun nördlichen Provinzen. Klagen jedoch will Dr. Qadir nicht - nicht mehr jetzt, da sich doch alles zum Besseren wendet. "Die Deutschen wollen ein Krankenhaus für uns bauen mit 400 bis 500 Betten", sagt er. "Das ist doch eine gute Nachricht."

Drinnen im Lager kennt man das. Die Erwartungen sind riesengroß, und keiner wird sie ganz erfüllen können. "Ich verspreche erst mal gar nichts", sagt Lothar Zimmer, der als Vertreter des Berliner Entwicklungsministeriums (BMZ) Hand in Hand mit der Bundeswehr in Nordafghanistan arbeiten soll. 67 Jahre ist er alt, für den Job hat ihn sein Ministerium aus dem Ruhestand geholt. Von Ruhe scheint er nicht viel zu halten. "Wer Angst hat", sagt er, "der soll mit seinem Arsch zu Hause bleiben."

Zimmer steht für den zivilen Aufbau, für das, was auch in Deutschland beliebt und unumstritten ist. Der Jahresetat für die Afghanistan-Hilfe wurde gerade aufgestockt auf 125Millionen Euro. Das ist nicht wenig, aber doch deutlich weniger, als für die Bundeswehr zu Buche schlägt. 1,9 Milliarden, so hat es die Bundesregierung gerade errechnet, sind das schon insgesamt gewesen seit 2002.

"Für einen gepanzerten Wagen kann man die Menschen in drei Dörfern ein Leben lang mit Wasser versorgen ", sagt Zimmer. Er will das nur mal erwähnen. Im nächsten Satz lehnt er dann "populistische Vergleiche mit den Bundeswehr-Einsatzkosten" ab. Denn auch er weiß, dass er, selbst wenn er meist alleine über die Dörfer fährt, "den Schutz durch die große Klatsche der Bundeswehr" genießt.

Die große Klatsche - das ist die ganze Maschinerie, die das Militär für einen solchen Einsatz in Bewegung setzt. Das geht vom Truppen-Fahrrad bis zum Tornado-Aufklärer, vom Gefreiten bis zum General. Viel Material und viele Männer werden gebraucht. Es ist ein Apparat, der gewiss behäbig ist, denn auch Krieg und Frieden können Verwaltungsakte sein.

Die meisten der Soldaten, die in Afghanistan stationiert sind, sehen vom Land nicht mehr als den Horizont hinter der hohen Lagermauer. Wer drin bleiben muss, ist oft geplagt vom täglichen Einerlei, vom Dreck, vom Heimweh, von diesem ganzen Afghanistan da daraußen. Doch wenigstens die Gefahr ist drinnen geringer. Soldaten wie Oliver L. aber und die Männer seiner Patrouille würden gewiss nicht tauschen wollen.

Fünf Freunde

Oliver L., dessen Nachname nicht genannt werden darf, ist Hauptfeldwebel. Das ist sein Dienstgrad in Deutschland. In Afghanistan ist er "Dorffeldwebel", zuständig für die Kontaktpflege zu einer Handvoll Ortschaften in der näheren Umgebung. Diese Dörfer liegen nah genug am Lager und am Flughafen, um von dort aus die Tornados beim Start oder bei der Landung zu beschießen. Wer hier Feinde hat, der lebt gefährlich.

"Wir haben vor, zu einer Ortschaft zu verlegen", sagt er. "Wir marschieren um 9.25." Vier Wölfe, gepanzerte Jeeps mit jeweils vier Mann Besatzung, setzen sich in Bewegung. Im Dorf Camp Sakhi, das in einem anderen Krieg aus einem Flüchtlingslager entstand, macht der Konvoi halt am Schulgebäude.

Die Wände sind schief, die Fenster zersplittert, und die Decke hängt gefährlich durch im Klassenzimmer, in das der Direktor Mohammed Dschuma zum Gespräch bittet. Man kennt sich, der Dorffeldwebel war schon häufiger hier mit seinen Männern, und jedes Mal hat er etwas mitgebracht: Bänke und Stühle, Hefte und Stifte - alles privat bezahlt von den Soldaten, deren Familien in der Heimat Spenden sammeln für Afghanistan.

"Wir sind heute hier, weil wir eine kleine Nachricht für Sie haben", sagt Oliver L. "Wir haben auf euch gewartet", antwortet der Lehrer. Die Nachricht lässt dann ein wenig auf sich warten, weil erst noch ein paar Freundlichkeiten ausgetauscht werden müssen.

Doch dann eröffnet der Dorffeldwebel dem Direktor, der mittlerweile von ein paar anderen Würdenträgern des Dorfes umrahmt wird, dass fünf Männer aus dem Flüchtlings-Camp Sakhi zum Arbeiten ins Isaf-Camp Marmal kommen dürften. Für 9 Dollar am Tag, für 54 Dollar die Woche. Fünf Männer, die nun fünf Familien ernähren können.

Eine kleine Geste ist das nur, doch für das Dorf ist es ein großes Glück. "Das sind jetzt unsere Leute", sagt einer der Soldaten, "die erzählen uns alles" - wenn sie etwas brauchen, wenn sich etwas zusammenbraut oder wenn verdächtige Fremde in der Gegend auftauchen.

"Force protection" hat der General das genannt. Freundschaften schließen heißt das hier an diesem Ort. Als die Soldaten sich verabschieden und davonfahren, da laufen die Schulkinder noch Hunderte Meter neben den vier Jeeps her. "Hammerhart ist das", sagt einer der Soldaten mit ziemlich weicher Stimme. Drinnen im Lagern schütteln sie sich dann erst einmal den Staub aus den Uniformen.

© SZ vom 9.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: