Der Konflikt in der SPD:Kollision auf dem Königsweg

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Beim Streit zwischen Bundesarbeitsminister Müntefering und SPD-Parteichef Beck steht viel mehr auf der Agenda als das Arbeitslosengeld - es geht um die Richtung einer ratlosen Partei.

Nico Fried

Franz Müntefering hat die Ruhe weg. Es ist Dienstag, und der Vizekanzler sitzt in einer Konferenz über Arbeit und Umwelt. Draußen wartet ein Heer von Journalisten. Aber er bleibt sitzen. Es ist der Tag, an dem in vielen Zeitungen steht, Müntefering sei in der SPD isoliert. Fast alle gegen einen.

Franz Müntefering: Richtungsstreit mit SPD-Parteichef Beck. (Foto: Foto: getty)

Endlich, eine halbe Stunde später als angekündigt, verlässt er den Saal, zusammen mit seinem Kollegen Sigmar Gabriel. Die beiden nähern sich den Reportern, Müntefering lächelt: "Man hat gesagt, wir sollen uns da vor die Wand stellen."

Es ist ein kleiner, makabrer Scherz. Einem wie Müntefering rutscht so etwas nicht aus Versehen raus. Das ist seine Art, mit einer schwierigen Situation umzugehen und gleichzeitig die Aufregung um das Duell zwischen ihm und Parteichef Kurt Beck zu ironisieren.

Was er denn davon halte, dass sich das SPD-Präsidium in einer Telefonkonferenz einhellig hinter den Vorschlag Becks gestellt habe, die Zahldauer beim Arbeitslosengeld für Ältere zu verlängern, wird Müntefering gefragt. Er holt Luft, als wolle er eine lange Antwort geben, sagt dann aber nur: "Ich habe an dieser Konferenz nicht teilgenommen." Und weg ist er.

Was beim Aufbruch aufbricht

Fast zwei Wochen dauert nun schon der Streit in der SPD. Es geht im Kern um ein Detail der Arbeitsmarktpolitik. Beck will eine "gefühlte Ungerechtigkeit" beseitigen, fast eine Marginalie, gemessen daran, was in den Jahren zuvor an Reformpolitik gemacht wurde.

Kein Stein blieb auf dem anderen, doch jetzt hat ein Kiesel einen Konflikt ausgelöst, der zur Machtfrage geworden ist, der alte und neue Wunden aufreißt, der die Schönrederei über die Harmonie in der Führung als Schwindel entlarvt.

In zwei Wochen trifft sich die SPD zum Parteitag. Von Hamburg solle ein Signal des Aufbruchs ausgehen, hieß es. Doch plötzlich weiß man nicht mehr recht, was genau da eigentlich aufbrechen wird. Kurt Beck wird versuchen müssen zu reparieren, aber wahrscheinlicher ist, dass er bestenfalls kaschieren kann, was jetzt zu so einem heftigen Konflikt in der Partei geführt hat. Und von Afghanistan über die Bahnreform bis zu den Vorstandswahlen warten in Hamburg noch einige weitere Unwägbarkeiten auf ihn und die Parteiprominenz.

Eine solche Krise hat viele Gründe und viele Anfänge: die jahrelange Qual mit der Agenda-Politik Gerhard Schröders; das Elend der SPD zwischen Union und der Linken; unterschiedliche Vorstellungen, was gut sei für die darbende Partei.

Müntefering fühlte sich überrumpelt

Immer wieder werden Kurt Beck und Franz Müntefering in den vergangenen Monaten nach ihrem Verhältnis gefragt. Beide beschreiben es stets sachlich. Unterschiedliche Charaktere, aber gute Zusammenarbeit. Lob für das Wirken des jeweils anderen. Und doch bleibt der Eindruck, beide gingen zwar nebeneinander her, aber auf zwei Geraden, die sich auch im Unendlichen nie kreuzen werden.

Dann kommt der 1. Oktober. Im Präsidium präsentiert Beck sein Vorhaben beim Arbeitslosengeld. Es gibt unterschiedliche Versionen, wie ausführlich er darüber vorher mit dem Arbeitsminister gesprochen hat. Müntefering jedenfalls wird ein paar Tage später in der Fraktion zu erkennen geben, er habe sich überrumpelt gefühlt.

Im Präsidium hat er an diesem Tag die Wahl: Schweigen oder Widerspruch. Er kann die Sache laufen lassen, Streit vermeiden. So stramm Müntefering an einem Kurs festhalten kann, er hat in seinem politischen Leben auch schon oft genug seine Meinung geändert und einen taktischen Positionswechsel als tiefere Einsicht verkauft. Aber diesmal entschließt er sich, auf Linie zu bleiben. Die Agenda 2010 war für ihn nicht irgendein Ereignis. Sie hat ihn vom Betonkopf zum Reformer gemacht. Er entscheidet sich für Widerspruch.

Steinmeier als Moderator

Der Konflikt ist da. Und nun sucht ein jeder seinen Platz. Fraktionschef Peter Struck unterstützt Beck und begründet das mit dem Druck seiner Abgeordneten. Er wird später erfahren, dass die Lage in seiner Fraktion so eindeutig gar nicht ist. Andrea Nahles, die stellvertretende Parteivorsitzende werden soll, spricht ebenfalls für Beck. Sie hat sich schon lange für Korrekturen an der Agenda eingesetzt. Nahles wird in den Tagen danach einiges zu hören und zu lesen bekommen, sie stecke wie eine böse Fee hinter dem Vorstoß und habe den Parteichef quasi zu ihrem Hampelmann gemacht. Es ist ein bisschen viel der zweifelhaften Ehre, was ihr da zuteil wird.

Der andere designierte Parteivize, Frank-Walter Steinmeier, versucht zu moderieren. Beck und Müntefering sollen sich verständigen. Für Steinmeier ist die Situation geradezu absurd. Er hat die Agenda als Kanzleramtschef geschrieben, noch bevor sich der damalige Fraktionschef Müntefering dazu durchrang, diesen Weg mitzugehen. Jetzt glaubt Steinmeier, die Balance wahren zu müssen - er, der in seinen Reden als werdender Parteipolitiker stets so vehement vom Stolz spricht, den die SPD auf die rot-grünen Jahre haben könne.

Peer Steinbrück, Steinmeiers Kumpan im Geiste, ist im Urlaub. Er erfährt telefonisch von den Ereignissen in Berlin. Der Finanzminister, der sonst nie mit seiner Meinung hinter dem Berg hält, schweigt. Zuhause fragen sich manche scherzhaft, ob der gewöhnlich recht impulsive Steinbrück womöglich sediert wurde.

Machtwort Becks

Erst vor einigen Wochen haben Steinmeier und Steinbrück ein Buch vorgelegt, in dem sie die Agenda als Königsweg für die SPD beschrieben. Es hat um diesen Text dann eine Menge Ärger in der Partei gegeben, genauso wie um Steinbrücks Äußerung, manche Sozialdemokraten kämen ihm vor wie Heulsusen.

Der Krach hat zunächst zu einem Machtwort Becks geführt. Und jetzt erleben "die Stones'', wie die zwei Minister in der SPD genannt werden, wie Beck in den Königsweg eine Kurve einbauen will, um die Tränen der Heulsusen zu trocknen. Und was tun sie dagegen? Sie lavieren und werden so Zeugen ihrer eigenen Entmachtung. Wenn es denn eine Strategie des Parteichefs gewesen wäre, seinen beiden selbstbewussten Kollegen einen Schuss vor den Bug zu geben, dann hätte es Beck nicht besser anpacken können.

Aber Kurt Beck und Strategie? In seinem ersten Jahr war davon nicht allzu viel zu erkennen. Und auch jetzt, bei einem Vorschlag, von dem er wissen musste, dass er gute Gründe und ein gutes Timing brauchen würde, macht der Parteichef Fehler. Am 18. September hält Beck eine Rede vor der Bundestagsfraktion, die als Probelauf für den Parteitag gewertet wird und bei den Abgeordneten gut ankommt. Nur von seiner Idee zum Arbeitslosengeld sagt er nichts.

So etwas mögen Abgeordnete nicht so gern. Ein paar Tage später weiht er dafür die Landes- und Bezirksvorsitzenden ein und verdonnert sie zum Schweigen. Vergeblich. Die Geschichte kommt raus.

Zwei große Pünktchen

Viele sind überrascht. Und selbst jene, die für den Vorstoß sind, reden ziemlich durcheinander. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit zum Beispiel gibt ein Interview, in dem er Beck beispringt, aber offensichtlich ahnungslos in Wahrheit das Modell des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers von der CDU anpreist. Dessen Überlegungen, die Zahldauer des Arbeitslosengeldes an die Zahl der Beitragsjahre zu koppeln, hatte die SPD-Spitze noch vor einem Jahr als Teufelszeug verdammt, und auch jetzt will sie damit nichts zu tun haben.

Die Partei könnte jetzt ein bisschen Führung gebrauchen. Kurt Beck aber fährt erst einmal in den Urlaub nach Spanien.

Am vergangenen Dienstag, es ist der Tag, an dem sich Müntefering vor die Wand gestellt hat, trifft sich die Bundestagsfraktion. Auch der Vizekanzler ist da. Er redet nur sechs, sieben Minuten lang. Er referiert Zahlen, mit denen er belegen will, dass die Agenda Wirkung zeigt. Er sagt, warum er vom Vorschlag Becks nichts hält, aber auch, dass er mit dem Parteichef zusammen eine Lösung finden wolle, einen Kompromiss. Dafür erhält Müntefering den meisten Beifall. "Der Kurt ist eher für Fördern, ich bin eher für Fordern. Jetzt wollen wir mal sehen, wie wir das mit den Pünktchen auf dem o hinkriegen'', sagt der Vizekanzler.

Der Streit hinter dem Streit

Franz Müntefering hat es seiner Partei in den vergangenen Jahren nicht leicht gemacht. Gerhard Schröder steht für die Agenda, aber Müntefering hat sie als Fraktionschef durchgedrückt und als Parteichef verteidigt. "Wenn wir das nicht gemacht hätten, wäre nicht nur im Land was liegengeblieben, sondern die Partei wäre in eine Ecke gegangen, in der sie nicht mehr regierungsfähig gewesen wäre'', hat er einmal gesagt.

Das ist sein Mantra - und viele mögen es nicht mehr hören. Ist es so, wie es Müntefering wollte, nicht mindestens genau so schlecht gekommen? Die Partei hat wegen der Agenda das Kanzleramt verloren. Noch ist sie an der Macht, als Juniorpartner in einer Großen Koalition. Nach den Umfragen ist nicht einmal sicher, ob sie wenigstens das auch bleiben kann. Massenhaft sind ihr die Mitglieder davongelaufen. Ist so eine Partei wirklich noch regierungsfähig? Das ist der Streit hinter dem Streit.

Und hat nicht Müntefering auch schon eigensinnige Entscheidungen getroffen wie jetzt Kurt Beck? Vor zwei Jahren zum Beispiel, bei seinem plötzlichen Rücktritt vom Parteivorsitz, oder später, als der Vizekanzler ohne große Absprache die Rente mit 67 präsentiert hat. Es sind diese Erinnerungen, die jetzt bei vielen hochkommen und die Atmosphäre ganz sicher nicht entspannen. Aus der eher abstrakten Diskussion um das Vermächtnis der Agenda ist mit dem Krach ums Arbeitslosengeld eine regelrechte Identitätsdebatte geworden - eine Art Erbfolgekrieg.

Nach Münteferings Auftritt in der Fraktion beginnt die Aussprache. Viele Hände gehen hoch. Nach den ersten vier Wortbeiträgen steht es mindestens 3:1 für den Vizekanzler, manche sagen 4:0. Ein Argument, das sich wiederholt, lautet, dass man nicht jahrelang den Kopf hingehalten habe, um die Agenda zu verteidigen, nur um jetzt etwas anderes erzählen zu müssen. "Ich komm mir vor wie ein Depp", schimpft der Abgeordnete Wolfgang Grotthaus aus Oberhausen im Ruhrpott.

Eine gefühlte Mehrheit

"Wollt Ihr das einfach so weiterlaufen lassen?", fragt ein gewichtiger Sozialdemokrat den Fraktionsvorstand. Es ist der Tag der Wahlen, immer wieder müssen die Abgeordneten zwischendurch ihre Stimmen für die Besetzung der Fraktionsspitze abgeben. Dabei bietet sich auch die Gelegenheit, dem einen oder anderen etwas zuzuflüstern.

Und so ist es vielleicht auch kein Zufall, dass Garrelt Duin, der aus Niedersachsen kommt wie Peter Struck, den Antrag auf Abbruch der Debatte stellt, weil es keinen Sinn mache, in Abwesenheit von Kurt Beck über dessen Vorschlag zu reden. Dem Antrag wird stattgegeben. Und manch einem kommt der Gedanke, es könne sogar ganz gut gewesen sein, dass Beck im Urlaub ist. Womöglich wäre es sonst schon an diesem Tag zu einem Clinch mit bleibenden Verletzungen gekommen.

Am nächsten Morgen empfängt der parlamentarische Geschäftsführer Olaf Scholz wie immer in Sitzungswochen des Bundestages eine große Runde Journalisten. Er weiß, dass der Verlauf der Fraktionssitzung allgemein bekannt ist und sieht sich zu einer Klarstellung bemüßigt. Er kenne die Namen all derer, die noch auf der Rednerliste gestanden hätten. "Ein großer Teil derer, die sich gemeldet haben, wollte die Hoffnung ausdrücken, dass ein Beschluss im Sinne des Parteivorsitzenden Kurt Beck gefasst wird'', sagt Scholz. So bleibt unterm Strich eine gefühlte Mehrheit gegen eine gefühlte Ungerechtigkeit. Und eine ganze Partei wartet darauf, dass Beck und Müntefering sich nun einigen.

Am Donnerstag Nachmittag ist zu hören, das könne noch dauern.

© SZ vom 12.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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