Der Fall Litwinenko und die Hamburger Nachforschungen:Die strahlende Spur des dritten Mannes

Lesezeit: 6 min

Moskau, London, Ottensen: Wo Dimitrij Kowtun auftauchte, blieb Polonium zurück - nun wird gefragt, ob er in diesem Drama Opfer oder gar Täter ist

Daniel Brössler und Ralf Wiegand

Manchmal kommen noch immer Schaulustige vorbei an diesem Sonntag, einem derart sonnigen Tag, dass man ihn strahlend schön nennen möchte. Sie kommen vom Ottenser Weihnachtsmarkt herüber, da haben sie einen Glühwein getrunken oder zwei und die Köpfe über den Zeitungen zusammengesteckt, die seit kurzem auch Sonntags in Hamburg erscheinen.

Ein Ermittler untersucht in Hamburg das Innere eines PKWs (Foto: Foto: Reuters)

Und dann gehen sie die paar Schritte in die nahe Erzbergerstraße, zum Haus mit der Nummer 4, zu jenem Haus, das in all diesen Zeitungen groß abgebildet ist. Das Gebäude ist nicht mehr weiträumig abgesperrt wie noch am Freitag und Samstag, Autos können die schmale Einbahnstraße wieder passieren, Fußgänger auch. Ein paar Polizisten stehen vor der Tür und auf dem Gehweg, etliche Fenster des Hauses Nummer 4 sind mit schwarzer Folie abgeklebt. Aber nicht nur deswegen gibt es nichts zu sehen. Strahlen kann man nicht sehen.

Moskau. London. Ottensen. Es ist ein seltsamer Dreiklang der internationalen Spionage, wie überhaupt der ganze Fall Alexander Litwinenko von Hamburg aus betrachtet bisher nur ein schräger Krimi war, bis Freitag letzter Woche jedenfalls.

Bis dahin hatte des Fall des Ex-Spions und Dissidenten, der auf dem Totenbett den russischen Präsidenten Wladimir Putin für seinen Tod verantwortlich machte, zwar für Aufsehen gesorgt, aber er spielte ziemlich weit weg. Scotland Yard ermittelte in Moskau wegen Mordes, weil der 43-jährige Litwinenko mit dem radioaktiven Material Polonium 210 vergiftet worden war. Und die Russen ihrerseits wollen in London ermitteln und dort den früheren Oligarchen Boris Beresowskij verhören.

Kremlnahe Politiker und Medien vertreten schon länger die These, das die Täter im Umfeld dieses Überläufers zu suchen seien. Doch plötzlich gibt es in diesem verworrene Spionage-Drama auch eine Spur nach Hamburg. Eine Spur, die in die Erzbergerstraße führt. Eine Spur zu einem Mann namens Dimitrij Kowtun.

Die Hansestadt erlebt "wieder einmal einen spektakulären Kriminalfall mit Aufsehen erregender, weltweiter Wirkung", sagt der Hamburger Polizeipräsident Werner Jantosch. Er scheint fast ein wenig stolz darauf zu sein, dass seine Stadt auf Augenhöhe mit den Weltstädten mitspielen darf im internationalen Verbrechen. So sei das eben mit Metropolen, sagt Jantosch weltmännisch, Hamburg sei eine Drehscheibe für den Handel zwischen Ost und West, "und wer glaubt, das auf diesem Weg Wodka, Erdgas oder Autos ausgetauscht werden, der irrt oder ist naiv".

So naiv zu glauben, dass es in ihrer Nachbarschaft wohl niemanden gebe, der mit einer radioaktiven Substanz hantiert, die Polonium 210 heißt und Millionen von Dollar kostet- so naiv wären die Bewohner der Erzbergerstraße 4 gerne geblieben. Nun aber müssen sie sich damit auseinandersetzen, dass hinter der Tür nebenan jemand lebte, der in einem spektakulären Agententhriller eine entscheidende Rolle spielen könnte.

Haus geräumt

30 Menschen lebten in diesem Haus, sie sind jetzt bei Bekannten oder Verwandten untergebracht, in Hotels oder in Wohnungen der Polizei. Es wird viele Tage dauern, bis das Wohnhaus vom Bundesamt für Strahlenschutz feingescannt sein wird, wie das heißt. Bis jeder Winkel des Gebäudes auf Strahlen untersucht ist. "Es bestand, nach menschlichem und wissenschaftlichem Ermessen, zu keinem Zeitpunkt für die Menschen in Hamburg eine Gefahr", sagt Jantosch.

In der Erzbergerstraße in Hamburg-Ottensen war Dimitrij Kowtun gemeldet, ganz offiziell. Seine Ausländerakte wurde im Bezirksamt in Altona verwahrt, am 30. Oktober war Kowtun noch dort gewesen, weil er eine dringende Unterschrift leisten musste. Seine Akte strahlt jetzt auch, sie ist kontaminiert. Genauso wie der Beifahrersitz eines BMW, wie das Sofa in der Wohnung seiner Ex-Frau, wie Möbel in einem Landhaus in Schleswig-Holstein. Dimitrij Kowtun, 41, der als Verbindungsmann des ermordeten Alexander Litwinenko galt, hat offenbar eine Spur durch den Großraum Hamburg gelegt, so breit wie eine Autobahn.

Eine verseuchte Akte

Die Hamburger Polizei hatte selbst Nachforschungen angestellt, nachdem sie erfahren hatte, dass Kowtun am 1. November von Hamburg aus nach London geflogen sein soll. Sie stellte fest, dass Kowtun in ihrer Stadt gemeldet war. Die Hamburger Ermittler informierten die Staatsanwaltschaft, das Bundeskriminalamt, die Zentrale Unterstützungsgruppe des Bundes für nuklearspezifische Gefahrenabwehr (ZUB) und das Bundesamt für Strahlenschutz in Salzgitter.

Am vergangenen Freitag richtete sie eine Sonderkommission ein und verpasste ihr den Namen "Der dritte Mann". Sie begannen spätestens jetzt, in einem Politthriller mitzuspielen, und alsbald wurden die Kulissen dafür nach Hamburg geschafft. Die ZUB-Experten flogen in Hubschrauber ein, am Nachmittag kamen die Strahlenschützer mit ihren Geräten an. Sie fuhren in die Erzbergerstraße, sperrten die Gegend ab, bald kamen die Medien und stellten Scheinwerfer auf. James Bond in Ottensen.

Beamte des BKA tragen eine Kiste aus dem Haus in Hamburg (Foto: Foto: ddp)

Die Spurensuche mit dem Geigerzähler ergibt bisher folgendes Bild: Am 28. Oktober fliegt Kowtun von Moskau nach Hamburg, mit einem Flugzeug der russischen Gesellschaft Aeroflot. Die Maschine konnte bisher noch nicht auf Strahlen untersucht werden. Er wird in einem BMW abgeholt. Das Fahrzeug findet die Polizei später vor einem Haus in Haselau, das liegt im Landkreis Pinneberg. Dort besitzt die Mutter seiner Ex-Frau Marina W. ein Haus, Kowtun verbringt die Nacht vom 28. auf den 29. Oktober dort.

Im Haus und auf dem Beifahrersitz des Autos finden sich später Spuren von Polonium 210. Am 30. Oktober kommt Kowtun nach Hamburg, nimmt den Termin im Bezirksamt wahr, unterschreibt und verseucht ein Papier seiner Akte. Die Nacht zum 31. Oktober verbringt er bei einem Bekannten in der Kieler Straße in Altona, ob dort Strahlung zurückbleibt, steht noch nicht fest. Die folgende Nacht, das gibt die Zeugin Marina W. an, schläft ihr Ex-Mann in ihrer Wohnung, die sich ebenfalls in der Erzbergerstraße 4 befindet. Auf der Couch bleiben strahlende Polonium-Spuren zurück. Am 1. November fliegt er schließlich mit einer Maschine der Germanwings von Hamburg nach London.

Am gleichen Tag wird Alexander Litwinenko aller Wahrscheinlichkeit nach mit Polonium 210 vergiftet. In London. Folgt man den strahlenden Spuren, so führen sie zur "Pine Bar" des Millenium Hotels am Grosvenor Square in der britischen Hauptstadt. In dem Haus, das im Internet als "friedvoller Hafen im Herzen von London" angepriesen wird, traf sich Litwinenko am 1. November mit zwei russischen Geschäftsleuten. Einer war Dimitrij Kowtun, der andere Andrej Lugowoj, ein früherer Geheimdienstmann wie Litwinenko. Bei Gin und Tee soll es ums Geschäft gegangen sein. Über den Schutz für englische Firmen in Russland sei geredet worden sein, wollen britische Zeitungen erfahren haben.

Für beide Männer interessiert sich nun Scotland Yard, denn nach allem, was bisher über die Ermittlungen bekannt ist, dürfte Litwinenko während des 25 Minuten dauernden Plauschs an der "Pine Bar" seinen Todestrunk zu sich genommen haben. Polonium-Spuren wurden später in der Teetasse und im Geschirrspüler gefunden.

Anders als Lugowoj ist jedoch Kowtun von den Briten offenbar bislang nicht für eine zentrale Figur im Fall Litwinenko gehalten worden. Unter Aufsicht russischer Staatsanwälte hatten Ermittler von Scotland Yard Kowtun in der vergangenen Woche als Zeuge verhört. Danach allerdings soll Kowtun schwer erkrankt sein, doch die Meldungen sind widersprüchlich und verursachen einige Verwirrung. Berichte, Kowtun sei wegen einer lebensgefährlichen Dosis Polonium 210 ins Koma gefallen, sind jedenfalls dementiert worden.

Abgeschirmt im Krankenhaus

Sicher ist nur, dass sich der Mann abgeschirmt durch die russischen Behörden in einem Moskauer Krankenhaus befindet und dass die Hamburger Ermittler bislang keinen Kontakt zu ihm haben konnten, auch wenn dies sehr "hilfreich" wäre, wie es der Leitende Staatsanwalt Martin Köhnke formuliert.

Kennengelernt haben will Kowtun Litwinenko am 16. Oktober bei einem Mittagessen und ihn dann erst an besagtem 1. November wieder getroffen haben. Anders als Lugowoj und Litwinenko habe er nie für den russischen Geheimdienst FSB gearbeitet, behauptete Kowtun vor seiner Erkrankung in einem Gespräch mit dem Stern.

Er sei allerdings auf die gleiche Militärakademie gegangen wie Lugowoj. Fünf Jahre tat Kowtun nach eigener Aussage als sowjetischer Offizier in der DDR Dienst. Später habe er eine Hamburgerin geheiratet und eine Beratungsfirma für deutsche Unternehmen aufgebaut, die auf den russischen Markt strebten. "Consulting" sei auch noch heute sein Geschäft. Über den angeblichen Deal, über den mit Litwinenko verhandelt worden sei, wollte Kowtun allerdings nichts verraten.

Mülltonnen mit Totenkopf

Doch genau dies wird nun die Ermittler von Scotland Yard in London ebenso wie die in Hamburg brennend interessieren. Zunächst einmal gibt es nämlich verschiedene Theorien darüber, wie Kowtun die Poloniumspur in Hamburg verteilte. Er kann den Stoff in sich gehabt haben, also selbst verseucht gewesen sein.

Er kann ihn aber auch außerhalb des Körpers transportiert haben. Er kann das strahlende Gift über Schweiß und Speichel ausgeschieden haben, er kann es aber auch transportiert und schlampig verpackt haben. Letzteres ist die wahrscheinlichere Variante. Es seien Spuren gewesen, die "fest anhafteten", sagt Gerald Kirchner vom Bundesamt für Strahlenschutz, "die waren nicht einfach mit der Hand wegzuwischen".

Die Staatsanwaltschaft Hamburg jedenfalls ermittelt gegen Kowtun nun aus zwei Gründen: wegen Missbrauchs von radioaktivem Material und wegen Missbrauchs von ionisierendem Material. "Für uns ist er Täter", sagt Staatsanwalt Köhnke. Das heiße aber nicht, dass Kowtun der Mörder von Alexander Litwinenko sein muss. Erstmal geht es nur um den Missbrauch beim Umgang mit dem brisanten Stoff.

Hamburg im Mittelpunkt

Es ist nicht das erste Mal, das Hamburg in der Welt des Verbrechens eine führende Rolle einnimmt. Hamburg, das war auch die Stadt der Todespiloten vom 11. September 2001. Mohammed Atta und Konsorten lebten in Harburg, in der Marienstraße 54, so unauffällig wie jetzt Kowtun in Ottensen, Erzbergerstraße 4. Seit zwölf Jahren lebte er angeblich in der Hansestadt, von der 31-jährigen Marina W., die einen deutschen und einen russischen Pass hat, war er geschieden. Die Frau war am Freitagabend von der Polizei aufgehalten worden, als sie mit ihren beiden Kindern und ihrem Lebensgefährten das Haus verlassen wollte.

170 Ermittlungsbeamte arbeiten jetzt an dem Fall. Strahlenschutzexperten in weißen Ganzkörperanzügen durchstreifen Wohnhäuser, die Kowtun aufgesucht hat. In Hamburg leben sie jetzt mit Entkontaminierungszelten für den Fall der Fälle und mit Mülltonnen, auf denen ein Totenkopf vor atomarer Strahlung warnt. Es ist wie ganz großes Kino, und Polizeipräsident Jantosch erwartet gespannt, was wohl noch kommen wird: "Ob es am Ende ein Fall sein wird, der sogar seine Wurzeln in Hamburg hat, bleibt abzuwarten." Bisher spräche nichts dafür.

© SZ vom 11.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: