Christentum:Gottes Wort in der Olympiahalle - und 1,5 Millionen schauen zu

Lesezeit: 7 min

Bekehrung via Satellit: Gepiercte Jesus-Freaks neben sinnsuchenden Geschäftsleuten - warum die Pro-Christ-Bewegung im deutschen Protestantismus angekommen ist.

Matthias Drobinski

Zehn Meter sind es vom Pult bis zur ersten Stuhlreihe. Das ist weit. Sehr weit, wenn man wie Ulrich Parzany davon lebt, dass man den Menschen in die Augen sieht, wenn man redet.

Pastor Ulrich Parzany: "Man erwartet von uns Christen, dass wir für den Glauben werben." (Foto: Foto: dpa)

Ein guter Prediger muss sehen, wann sein Publikum wegzunicken droht. Er muss dann die Stimme heben oder senken, die Menschen mit Worten kitzeln oder streicheln.

Er muss hemdsärmlig werden oder sich der Hochsprache befleißigen und die Bibel in den Worten Doktor Martin Luthers zitieren. Deshalb ist die Münchner Olympiahalle eine harte Nuss für Pastor Parzany. Er kann niemandem in die Augen sehen. Und wenn er den Kopf hebt, erblickt er - leere Ränge.

5600 Menschen sind an diesem Sonntagabend zur Auftaktveranstaltung von Pro Christ gekommen. Das ist eigentlich ganz ordentlich, und trotzdem bleibt jeder dritte Platz in der riesigen Halle leer. Ulrich Parzany wird am Freitag 65 Jahre alt, ist ein weißhaariger Mann mit kantigem Gesicht und leicht vorgebeugtem Gang. Man sieht ihm an, dass er jetzt kämpfen muss. Joan Orleans, von Moderator Jürgen Werth als "Gospelröhre aus München" angekündigt, hat gut gesungen.

Erste Regel für einen guten Prediger: "Überrasche deine Zuhörer"

Dann hat der Pro-Christ-Chor christlichen Softrock geboten, dass es einem nur so ins Ohr tropfte. Das alles ist auf Wohlwollen gestoßen, doch auch der jüngere Teil des Publikums ist zu seriös, als dass er in Ekstase fallen würde wie einst die Jünger, als der Heilige Geist auf sie herabkam. Nun muss einer Schwung in den "größten Gottesdienst" Europas (Eigenwerbung) mit 1,5 Millionen Teilnehmern aus mehr als 20 Ländern bringen.

Die Veranstaltung wird per Satellit in 1250 Orte zwischen Portugal und Russland übertragen - in Gemeindesäle, Kneipen und Wohnzimmer, wo immer zwei oder drei Christen es geschafft haben, in Jesu Namen einen Fernseher und eine Satellitenschüssel zu organisieren - Abend für Abend, bis zum kommenden Sonntag.

Erste Regel für einen guten Prediger: Überrasche am Anfang deine Zuhörer. "Sie werden sich vielleicht gewundert haben, warum wir Christen das Zweifeln zum Thema machen", beginnt Parzany, lächelt, breitet die Arme ein wenig aus, nicht zu viel, dazu ist es noch zu früh.

Nur das Münchner katholische Erzbistum hat zurückhaltend reagiert

"Man erwartet von uns Christen, dass wir für den Glauben werben - ich werbe aber zunächst einmal dafür, dass die Menschen an der scheinbaren Stabilität ihrer Lebenshäuser zweifeln." Er macht eine Pause, hebt die Stimme: "Kommt Ihnen dieser Zugang überraschend vor? Dann staunen Sie!"

Zu dieser Zeit ist der Platz des bayerischen Landesbischofs Johannes Friedrich in der ersten Reihe schon wieder leer. Aber er hat zuvor auf der Bühne ein kurzes Grußwort gesprochen. Das sagt viel über den gestiegenen Stellenwert von Pro Christ im deutschen Protestantismus. Vor zehn Jahren hätte Friedrich für seinen Auftritt einigen Ärger bekommen.

Pro Christ galt als Veranstaltung der evangelikalen Szene, die den Mainstream-Protestantismus als zu links, zu liberal, zu unentschieden kritisierte. Heute jedoch ruft auch Wolfgang Huber, der Berliner Bischof und Ratsvorsitzende der EKD, dazu auf, in die Olympiahalle zu kommen, und mit ihm ein weiteres halbes Dutzend Bischöfe; nur das Münchner katholische Erzbistum hat zurückhaltend reagiert.

Es hat sich etwas verändert in der evangelischen Frömmigkeit. Wer in der Gemeinde geblieben ist und sich nicht der großen Zahl der treuen Fernstehenden zugeschlagen hat, ist frommer als noch vor ein paar Jahren. Und dann kommt eine ziemlich bunte Großveranstaltung daher und schwelgt in Superlativen wie sonst nur die katholischen Brüder: der größte Gottesdienst Europas.

Die kleinste Kirche der Welt - jene 70 orangeroten Smarts, die Werbetouren durch die Republik fuhren und in denen Passanten einen Zwei-Minuten-Gottesdienst feiern konnten: CD ins Autoradio, los geht's. Das alles hochprofessionell gemacht, für 9,5 Millionen Euro, weitgehend spendenfinanziert, unterstützt von europaweit 60.000 Freiwilligen. Wer fragt da noch nach der Nüchternheit des normalen Protestantismus, wo der doch ohnehin gerade ziemlich grau daherkommt?

Zweiter Ratschlag für den guten Prediger: Ein bisschen Zeitgeistkritik schadet nicht. "Die Grundhaltung in der deutschen Gesellschaft ist coole Gleichgültigkeit", fährt Parzany fort. Das habe dazu geführt, dass die "Menschen sich mit Drogen und Ersatzwirklichkeiten abgeben, um den Alltag zu bewältigen", mit Sex und Geld und Fernsehen.

Billy Graham, war das nicht der Urvater aller Fernsehprediger?

"Was trägt mich, was ist mir wertvoll, danach haben die coolen Gleichgültigen verlernt zu fragen!" Die Stimme des Predigers hebt sich, nach 20 Minuten gibt es jetzt den ersten Applaus. Pastor und Publikum haben sich gefunden.

Im richtigen Leben außerhalb der Halle ist Ulrich Parzany ein eher ruhiger Mann, der im Café sitzt und schüchtern lächelt, der etwas zu förmliche Anzug lässt ihn ein wenig glatt erscheinen. Pro Christ ist ein Nachwende-Kind, erzählt er, als die Bischöfe Kruse aus Berlin und Sorg aus Dresden mit ihm zusammensaßen und überlegten, wie sie die Christen im heidnisch werdenden Land sammeln und ermuntern könnten. "Wir müssen einen einladen, den jeder kennt", sagte Parzany, "den Papst oder - Billy Graham."

Den Papst haben sie nicht gefragt, aber Billy Graham kam 1993 in die Essener Grugahalle. Das garantierte der ersten Pro-Christ-Veranstaltung einen vollen Saal und Parzany einen Spitznamen: der deutsche Billy Graham. Und einen einschlägigen Ruf: Billy Graham, war das nicht der Urvater aller rechten Fernsehprediger, ein Symbol der Reagan-Ära?

Gegen solche Bilder könnte Parzany stundenlang anreden. Hat Graham damals nicht auch amerikanische Atomraketen eine Sünde genannt, zum Verdruss seiner politischen Freunde? Er will nicht in irgendeine Ecke gestellt werden.

Parzany ist ein Bekehrter: Mit 14 kam er in die Glaubenskrise

Im Essener Weigle-Haus, einer frommen Einrichtung der Jugendarbeit, hat er noch Gustav Heinemann, den späteren SPD-Bundespräsidenten, kennen und schätzen gelernt, den Agnostiker, der sich zum christlichen Glauben bekehrte - pluralistisch eingestellt, wenn es um die Politik ging, kompromisslos in Glaubensdingen.

Auch Parzany ist ein Bekehrter, einer mit Lebenswende. Mit 14 kam er in die Glaubenskrise, weil er den Konfirmationsunterricht nur als langweilige Paukerei empfand und nicht damit klarkam, was seine Eltern sagten.

Bis er die Kumpels vom Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) kennen lernte, die Bibel und Boxen verbanden, die erst die Fäuste fliegen ließen und dann zerfledderte Bibeln aus der Sporttasche holten, Weisungen und Anweisungen fürs tägliche Leben nachschlugen; später sollte er selber mehr als 20 Jahre lang Generalsekretär des CVJM sein.

Seitdem hat er sein Leben Christus übergeben und ist glücklich damit. Lebenswenden, wie sie bei Pro Christ einfach dazu gehören: Im Werbeheft ist der brasilianische Bayern-Verteidiger Lucio aufgeführt, der bekennt, erst mit Gott ein richtig guter Kicker geworden zu sein.

Und höchstselbst tritt der Münchner Wiesn-Wirt Günter Steinberg auf der Pro-Christ-Eröffnungspressekonferenz auf, erzählt, wie sein Leben unbefriedigend war, bis ihm bei einem Treffen christlicher Geschäftsleute die Augen aufgingen; seitdem sei die Bibel "eine Gebrauchsanweisung für unser Leben".

Dritter Ratschlag für den begeisternden Prediger: Die Wende zum Guten kommt mit einer Bibelstelle. Heute aus dem Johannesevangelium. Philippus, der Jünger Jesu, trifft auf den zweifelnden Nathanael, der durch die Begegnung mit Jesus ebenfalls glaubt, dass der Messias zu ihm spricht - weil Jesus sein Leben kennt. "Diese Geschichte ist eine Ermutigung an alle Zweifler", ruft Parzany.

"Wagen Sie die Begegnung mit Jesus selbst und bringen Sie Ihre Zweifel mit!" Das wollen die knapp 6000 in der Halle hören. Kein Grau in Grau. Ermutigung, Aufbauendes. Zu Parzany kommen ältere Menschen wie die beiden Damen, evangelisch die eine, katholisch die andere, weil sie am Werteverlust der Gesellschaft leiden: "Pünktlichkeit, Höflichkeit, Freundlichkeit, Glauben, das alles gilt hier noch."

"Für uns ist das hier ein großes Familientreffen"

Es kommen aber noch mehr die Jungen wie der 22-jährige Physikstudent Michael Krieger, der seit Semesterferienbeginn mit dem Smart-Kirchenmobil durchs Münchner Umland gefahren ist, "um Gottes Botschaft weiterzusagen und mit den Menschen zu reden".

70 Prozent der Pro-Christ-Besucher, so haben die Veranstalter errechnet, sind schon mehr oder weniger feste Mitglieder einer Freikirche, einer charismatischen Gemeinschaft oder einer landeskirchlichen Gemeinde, so wie Helmut Hähn, der freikirchliche Gemeindeälteste aus Germering, einer Gemeinde, die in den vergangenen acht Jahren von fünf auf 60 Mitglieder geradezu explodiert ist- "für uns ist das hier ein großes Familientreffen".

Egal, was die Gruppen im Detail trennen mag, sagt Hähn, "wir rücken immer enger zusammen, je mehr wir eine Minderheit werden." Oben auf der Empore steht freundschaftlich die katholische Schönstatt-Bewegung neben der stramm evangelikalen "Sammlung um Bibel und Bekenntnis", haben die Frauen der Heilsarmee mit ihren frisch gestärkten Blusen ihren Platz neben den gepiercten Jesus Freaks gefunden.

Insgesamt herrschen Ton und Sprachduktus der Freikirchen, auch wenn 55 Prozent der Besucher einer Landeskirche angehören. Alles soll zum Gebet und Lobpreis Gottes geraten, und wenn ausgerechnet vor der Eröffnung der Wurm in der Pro-Christ-Homepage drin ist, ist das für die nette junge Frau, die mit dem Computer kämpft, nicht einfach Mist, sondern "eine echte Anfechtung".

Abends im Bett raunzte sie Gott an

Die anderen 30 Prozent sind die Neugierigen und von Bekannten Mitgeschleppten, die Suchenden. Andrea Schöttmann zum Beispiel, die 39-jährige Verwaltungsangestellte aus München. Sie hat bereits ihr Leben "Gott übergeben", wie sie es formuliert. Eine Freundin von Andrea hatte ihr die Bibel vorbeigebracht, sie hatte dann zwar darin gelesen, aber nichts verstanden.

Abends im Bett raunzte sie deshalb Gott an: "Wenn du unbedingt willst, nimm mein Leben und mach was damit." Er hat insofern etwas damit gemacht, als dass für Andrea Schöttmann die Bibel nun eine wörtliche Anleitung fürs Leben ist und sie alle Menschen davon zu überzeugen versucht, dass dies der wahre Weg sei.

Nur eine Gemeinde, mit der sie richtig glücklich ist, hat sie noch nicht gefunden. Streng muss die sein und glasklar, "durchwursteln tu ich mich schon im täglichen Leben, das brauch ich im Glauben nicht."

Vierter Ratschlag für den Prediger, der im Herzen seiner Gemeinde bleiben will: Komme vom Reden zum Tun. Ulrich Parzanys Stimme wird sanft, er liest aus dem Brief einer Frau vor, aufgewachsen bei atheistischen Alkoholikern, verheiratet mit einem Alkoholiker; die Begegnung mit Pro Christ bedeutete für sie, der Hölle auf Erden zu entkommen. "Wir können unsere Verletzungen vor Jesus bringen", sagt Ulrich Parzany, "wir können unsere Schuld bekennen und unser Leben neu anfangen."

Wer will, kann nun nach vorne kommen und beten: "Mein Leben soll von nun an dir gehören." Parzany ist von der Bühne herabgestiegen, andere Seelsorger kommen nach vorne; wenn 70 Gemeinden allein in München mitmachen, gibt es große Auswahl.

"Was ist, wenn Gott nicht antwortet, sondern nur schweigt?"

Die Strahler, die zu Beginn eine Popkonzertatmosphäre schufen, bilden nun ein schlichtes Kreuz aus Licht. Eine Minute lang kommt keiner. Dann einer, dann eine kleine Gruppe, bald ist der Raum vor der Bühne voll. Mehr als 30000 Menschen haben 2003, als Pro Christ in Essen gastierte, in der Halle oder vor den Bildschirmen ein solches Bekenntnis abgelegt; 30000 Lebenswenden mehr.

Im Café, wenige Tage vor der Eröffnung in der Olympiahalle, hat Ulrich Parzany einen bemerkenswerten Satz gesagt: "Manchmal springt mich der Zweifel an. Wir machen Unterhaltung. Natürlich, um die Menschen Jesus näher zu bringen. Aber: Was ist, wenn Gott darauf nicht antwortet, sondern einfach - schweigt?" Dann hat der sonst so eloquente Mann im Kaffee gerührt und eine Weile nichts gesagt.

© SZ vom 21.03.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: