Bundesverfassungsrichter Hoffmann-Riem im SZ-Interview:"Das Internet ist die größte Revolution"

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Der soeben aus dem Amt geschiedene Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem spricht über die Fernseh- und Medienlandschaft der Zukunft, das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, die Symbolpolitik von Schily und Schäuble sowie die Philosophie der Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts.

Christopher Keil, Helmut Kerscher und Heribert Prantl

Wolfgang Hoffmann-Riem ist Professor für Medienrecht und Verfassungsrecht in Hamburg, er war Direktor des Hans-Bredow-Instituts für Rundfunk und Fernsehen und gilt als einer der gesuchtesten europäischen Experten für Rundfunk- und Fernsehrecht und das Recht der neuen Informationstechniken. Von 1995 bis 1997 war er Justizsenator in Hamburg.

Wolfgang Hoffmann-Riem bei einer Urteilsverkündung des Verfassungsgerichts 2006. (Foto: Foto: dpa)

1999 wurde er als Nachfolger von Dieter Grimm Richter am Bundesverfassunsgericht. Er war dort als Berichterstatter zuständig für zahlreiche medienrechtliche Grundsatzentscheidungen und für die großen Leiturteile auf dem Gebiet der inneren Sicherheit. Vor wenigen Tagen ist er aus dem Amt geschieden.

SZ: Ist ein öffentlich-rechtliches Fernsehen überlebenswichtig für die deutsche Demokratie?

Wolfgang Hoffmann-Riem: Die deutsche Demokratie geht nicht unter, wenn sich Strukturen des Mediensystems verändern. Eine formal verstandene Demokratie leidet darunter nicht; die inhaltliche Qualität der Demokratie kann aber leiden.

SZ: Die Qualität einer Demokratie wird von der Qualität des Fernsehens entscheidend geprägt?

Hoffmann-Riem: Von der Qualität der Medien ganz allgemein: von Printmedien, Fernsehen und Internet. Ein seinen Auftrag wahrnehmendes öffentlich-rechtliches Fernsehen schafft auch Orientierungspunkte für andere Medien. Journalisten orientieren sich stark an dem, worüber andere wie berichten. Ich bin mir sicher, dass die Vorbild- und Orientierungsfunktion eines öffentlich-rechtlichen Fernsehens sich auf die Medienordnung insgesamt auswirkt.

SZ: Nimmt die Vorbildfunktion der Öffentlich-Rechtlichen ab oder zu?

Hoffmann-Riem: Wenn diese abnähme, wäre das kein Wunder - angesichts der Diversifizierung der Medienträger, Medienangebote und Übertragungswege. Aber ich bemerke, dass viele Journalisten eigentlich den Prinzipien folgen möchten, die für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gelten. Das gibt manchen immer noch eine professionelle Orientierung.

SZ: Sie haben jetzt strukturell argumentiert. Wie verändern sich die Medien inhaltlich aus sich heraus, aus ökonomischen Zwängen?

Hoffmann-Riem: Als der kommerzielle Rundfunk Mitte der achtziger Jahre aufkam, war noch eine starke Nähe zu dem Typ zu spüren, den der öffentlich-rechtliche Rundfunk entwickelt hat. Das hat sich verändert unter dem Diktat der Einschaltquoten, der Rendite und des Wettbewerbs. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat zwar eine rechtliche Garantie seines Fortbestands, diese ist aber politisch gefährdet, wenn seine Sender nicht mehr die erreichen, die die Gebühren zahlen. Also rückt der Quotenaspekt in den Vordergrund. Bedrohlicher für die Qualität der Medienordnung sind aber die Umbrüche auf dem Medienmarkt. Wenn heute Hedgefonds und andere Finanzinvestoren in den privaten Medienmarkt drängen - das wirkliche Ausmaß ist der Öffentlichkeit gar nicht bewusst -, dann tun sie das nicht aus publizistischen Motiven, sondern aus ökonomischen. Rendite ist das goldene Kalb, um das Medien und Publikum tanzen sollen. Wird der Kampf um Quoten in der Folge noch härter, bleibt die bange Frage, ob dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk genügend Möglichkeiten bleiben, gegenzusteuern und sich nicht anzupassen.

SZ: Zuweilen ist er schon jetzt von einem privaten Anbieter kaum noch zu unterscheiden.

Hoffmann-Riem: Das trifft auf einzelne Teile zu, insgesamt aber hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine sichtbare Identität. Untersuchungen, nicht nur für Nachrichtensendungen, zeigen große Unterschiede. Aber es gibt auch Anpassungsprozesse. Nehmen Sie etwa die "Sportschau". Sie ist übermäßig stark am Werbeerfolg orientiert.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, wodurch die Identität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gefährdet wird und welchen Trend Hoffmann-Riem bereits 1995 in New York erkannte.

SZ: Sie meinen Gewinnspiele und andere Werbeformen?

Hoffmann-Riem: Ich meine zunächst die Dramaturgie, insbesondere die Tricks der Zuschauerbindung, aber auch die Duldung ständiger Werbebotschaften, von der Banden und Trikotwerbung über die Hintergrundwerbung bei Interviews bis zu den Werbeblocks, deren zulässige Zahl durch die Zwischenschaltung einer Kurz-"Tagesschau" ausgedehnt wird. Diese Unterwerfung unter das Diktat der Werbung schließt allerdings nicht aus, dass viele Berichte weiterhin sehr gut sind und dass es eine spannende Sendeform ist.

SZ: Sie waren Berichterstatter im Fernseh-Gebühren-Urteil. Dort hat das Verfassungsgericht die Werbungsfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Frage gestellt.

Hoffmann-Riem: Es hat einen Prüfauftrag formuliert. Im Übrigen: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk braucht ein unverwechselbares Gesicht, es muss eine leicht erkennbare Marke sein, zu der auch gehört, dass er sich an publizistischen Kriterien orientiert und zumindest nach 20 Uhr und feiertags werbefrei ist. Diese Identität wird etwa von der Art von Gewinnspielen verdorben, die sich eingebürgert haben. Dies ist ein richtiger Sündenfall. Sponsoring wirkt für die meisten Zuschauer wie Werbung, so dass sich die These widerlegt, der Abend sei werbefrei. Wenn dann auch noch viele Sendeformen und -inhalte kaum unterscheidbar von denen privaten Fernsehen sind, ist die Identitätsbildung misslungen.

SZ: Das Verfassungsgericht hat auch dezent angedeutet, man könne sich das ritualisierte politische Gerangel um Gebührenerhöhungen ersparen und diese stattdessen an die Inflationsrate koppeln.

Hoffmann-Riem: Das kann vor allem den staatlichen Einfluss neutralisieren und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk davor bewahren, zum ständigen Objekt politischer Auseinandersetzungen zu werden.

SZ: Ist der Einfluss der Politik auf das öffentlich-rechtliche System noch zu groß?

Hoffmann-Riem: Es gibt zwar immer noch Einflussversuche, die sind aber im Vergleich zu früher geringer geworden. Wenn Sie die Auswahl von Intendanten meinen: Auch auf die Auswahl der Verfassungsrichter wird ja von der Politik Einfluss genommen. Und ich finde unser Auswahlverfahren gut. Die Ergebnisse sprechen für sich.

SZ: Aber die Verfassungsrichter sind anschließend völlig unabhängig, die Intendanten sind das nicht.

Hoffmann-Riem: Rechtlich schon. Aber es gibt Zwänge und Rücksichten. Und es gibt immer noch eine falsch verstandene Ausgewogenheit. So sind "Tagesschau" und "heute" immer noch bemüht, eine formale Balance zu halten. Das heißt also: Auf den Regierungsvertreter muss Herr Westerwelle kommen, und dann kommen die Grünen und dann die Linken. Das ist ein formal korrekter, aber kein optimaler Umgang mit gesellschaftlicher Pluralität.

SZ: Wenn Sie zehn, zwanzig Jahre vorausdenken, sehen Sie dann die Zeitungen noch in einer bedeutenden Rolle?

Hoffmann-Riem: Als ich 1995 in New York war, schleppte mich mein wissenschaftlicher Freund von der Columbia University, Eli Noam, jeden Tag in eine neue hochkarätige Konferenz, die sich mit dem Internet befasste; damals wusste man in Deutschland gerade so, was das ist, aber noch nicht, was man damit machen kann. Das hat sich gründlich geändert. Ich halte das Internet für die größte kommunikationsbezogene Revolution, die es in den letzten Jahrzehnten gegeben hat. Die verschiedenen Akteure müssen Zugang zu diesen neuen Möglichkeiten haben - auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Er braucht das Internet nicht nur zu programmbegleitender Information, sondern als eigenständig gestaltetes Medium. Und die Zeitungen werden ein kluges Zusammenspiel mit dem Internet entwickeln müssen. Die Geschichte der Medien zeigt, dass nie ein Medium völlig verschwindet, sondern dass durch neue eine größere Diversifikation entsteht.

SZ: Sind Kooperationen wie die zwischen der Zeitung WAZ und der Rundfunkanstalt WDR Teil dieses Diversifizierungsprozesses?

Hoffmann-Riem: Bedenklich wird es, wenn dadurch Strukturunterschiede verwischt werden. Entscheidend ist: Die Bedingungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk müssen so sein, dass es sich die Journalisten leisten können, ein Programm zu machen, das sich am Qualitäts-journalismus orientiert, das die Pluralität der Gesellschaft ernst nimmt, das sich nicht an kommerzielle Interessen der Werbetreibenden anbiedert. Kooperationen können besondere Verantwortungsstrukturen verwischen. Sicher: In vielen Bereichen sind privat-öffentliche Kooperationen unverzichtbar und die EU forciert sie, etwa in der Forschung. Die Unterschiedlichkeit der Strukturen in der Medienordnung aber ist ein Garant ihrer Vielfältigkeit.

Auf der nächste Seite geht es um den Komplex "Freiheit und Sicherheit".

SZ: Wenn sich die Strukturen vermischen - muss man dann die staatliche Aufsicht neu gestalten?

Hoffmann-Riem: Besser ist es, die Unterschiedlichkeit der Strukturen zu bewahren.

SZ: Bringt denn Aufsicht etwas?

Hoffmann-Riem: Seit den siebziger Jahren beschäftige ich mich mit der Medienentwicklung und immer wieder mit der Frage, ob es möglich ist, durch Aufsicht darauf hinzuwirken, dass die Medienordnung der Meinungsbildungsfreiheit der Bürger dient, insbesondere publizistische Ziele, wie sie etwa vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk erwartet werden, möglichst auch im privatwirtschaftlichen Rundfunk verfolgt werden. Ich habe die Mediensysteme der Welt, in Australien, USA, Europa, verglichen: Ich habe nirgendwo feststellen können, dass die Aufsicht über privatwirtschaftlichen Rundfunk nachhaltig greift.

SZ: Fliegen wir eine steile Kurve: Die Aufsicht des Staates über den privatwirtschaftlichen Rundfunk funktioniert nicht. Die Kontrolle der Politik durch das Bundesverfassungsgericht funktioniert besser. Es gab eine markante Folge von Entscheidungen zum Thema "Freiheit und Sicherheit", angefangen vom Großen Lauschangriff bis zur Online-Durchsuchung. Hat Sie die Heftigkeit der politischen Kritik an Karlsruhe überrascht?

Hoffmann-Riem: Nein. Das Gericht orientiert sich nicht an einer solchen Kritik - weder wird es beflügelt, noch wird es politisch braver.

SZ: Und es sieht auch keinen Anlass zur Selbstkritik?

Hoffmann-Riem: Unsere Entscheidungen zum Komplex "Freiheit und Sicherheit" seit dem Jahr 2003 sind konzeptionell alle aus einem Guss. Nach dem 11. September 2001 war mir völlig klar: Wenn man angesichts solch neuer Bedrohungsszenarien die Qualität des Rechtsstaates nicht aufgeben will, dann muss man die Prämissen des Rechtsstaats an diese neuartigen Gefährdungen und Instrumente anpassen, ohne sie aufzugeben. Das war die Philosophie dieser Rechtsprechung.

SZ: Und wie wurde sie umgesetzt?

Hoffmann-Riem: Jede dieser Entscheidungen hatte das gleiche rechtsstaatliche Anliegen einer verfassungsrechtlich angemessenen Balance von Freiheit und Sicherheit. Wir konnten die Entscheidungen Schritt für Schritt entwickeln. Dabei haben wir ein konzeptionell orientiertes Denken durchgehalten. Zu den rechtsstaatlichen Anforderungen gehören hinreichende Anhaltspunkte der Wirksamkeit: Ist das neue Mittel geeignet und erforderlich und auch angemessen? Beim Gericht gab es kein Schwanken von einer Windrichtung in die andere. Wir haben nicht nur die Freiheit, sondern auch das Interesse an Gefahrenabwehr und Strafverfolgung sehr ernst genommen.

SZ: Das sahen die Bundesinnenminister Schily und Schäuble anders.

Hoffmann-Riem: Mag sein. Mich persönlich hat deren Kritik jedenfalls nicht beeindruckt, zumal sie viel zu pauschal und häufig polemisch war. In gewisser Weise war sie aber vielleicht sogar ein Glücksfall.

SZ: Minister-Kritik als Glücksfall?

Hoffmann-Riem: Niemand im Gericht hat gefragt: Oh Gott, wie reagieren wir jetzt darauf? Die Kritik wurde wahrgenommen und hat uns in unserem Selbstverständnis als unabhängige Richter bestärkt. Dass ein Innenminister anders denkt als ein Richter, hängt an seiner anderen Aufgabe.

SZ: Geht Herr Schäuble mit seinen Vorschlägen zur "inneren Sicherheit" viel zu weit?

Hoffmann-Riem: Die Politik muss auf eine neuartige Lage reagieren, aber mit Augenmaß. Neu ist, dass sie sich verstärkt mit einer mehr oder minder diffusen Gefahrenlage befassen muss und deshalb schon im Vorfeld des Eintritts möglicher Gefahren tätig werden muss. Damit aber entsteht das Risiko der Erosion von rechtsstaatlichen Standards. Diese fordern für staatliche Eingriffe, dass es hinreichende, tatsächlich fundierte Anhaltspunkte für die Gefährdung von hinreichend gewichtigen Rechtsgütern gibt, auf die dann mit auf die Gefahrenlage abgestimmten Maßnahmen reagiert werden kann. Prävention gegenüber diffusen Gefahrenlagen bedeutet Handeln unter extremer Ungewissheit und mit dem großen Risiko, Unverdächtige zu beeinträchtigen oder die Bevölkerung insgesamt einzuschüchtern. Wir haben versucht, die Risiken neuer Instrumente für die Freiheit der Bürger zu begrenzen. Werden neue beeinträchtigende Instrumente eingeführt, sollte es empirisch nachvollziehbare Anhaltspunkte darüber geben, warum die bisherigen Instrumente nicht reichen. Und umgekehrt sollte plausibel gezeigt werden, warum neue Instrumente unverzichtbar sind ...

Auf der nächsten Seite spricht Hoffmann-Riem über Rasterfahndung und Vorratsdatenspeicherung.

SZ: ... wie die Online-Durchsuchung oder der Große Lauschangriff.

Hoffmann-Riem: Beide wurden als Wunderwaffen angepriesen, ohne die die innere Sicherheit nicht mehr zu gewährleisten sei. Wenn aber nach Nachweisen ihrer Unverzichtbarheit gefragt wird, kommt entweder fast gar nichts oder es folgen Beschwörungsformeln. Es gab ja beispielsweise schon ein paar Online-Durchsuchungen, deren Auswertung ich bei unserer Entscheidung gern gekannt hätte. Aber in der mündlichen Verhandlung vor unserem Gericht hatten die höchsten Beamten gerade dafür keine Aussagegenehmigung. Warum hat man nicht versucht, jedenfalls auf einer mittleren Abstraktionsebene, also ohne Details, plausibel zu machen, dass diese Online-Durchsuchungen unverzichtbar waren und inwieweit sie Informationen gebracht haben, die sonst nicht möglich gewesen wären? Oder nehmen Sie die Rasterfahndungen nach dem 11. September 2001...

SZ: ... die sie im März 2006 stark eingeschränkt haben.

Hoffmann-Riem: Die seinerzeitige Rasterfahndung hat die erwünschten Erfolge, das Aufspüren sogenannter Schläfer, nicht gebracht, wohl aber Nebenfunde, wie etwa das Aufspüren von Drogendealern. Das reicht zur Legitimation einer solchen umfassenden Informationserhebung mit stigmatisierenden Wirkungen für ganze Bevölkerungsteile nicht. Wie haben die Rasterfahndung nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber eine konkrete Gefahrenlage verlangt. Eine allgemeine, etwa die seit 2001 bestehende Bedrohungslage reicht hierfür aber nicht aus.

SZ: Darauf folgte die Kritik, Sie hätten die Instrumente zu stumpf gemacht. Gleiches galt im Fall des Großen Lauschangriffs.

Hoffmann-Riem: Bewiesen ist das nicht. Im Übrigen: Der Rechtsstaat erlaubt dem Staat nicht alles, nur weil es vielleicht Erfolg bringt. Der Rechtsstaat nimmt im Interesse der Freiheit der Bürger Grenzen staatlicher Beobachtung und Verfolgung in Kauf.

SZ: Welche Kritik trifft Sie?

Hoffmann-Riem: Wenn man uns vorhalten könnte, wir missachteten verfügbares Wissen oder ordneten es falsch ein. Nicht aber, wenn wir Kriterien fordern, dass neue Instrumente nach dem rechtsstaatlichen Prüfraster der Verhältnismäßigkeit überprüft werden.

SZ: Freiheitsschutz durch Recht verlangt die Kenntnis der Technik.

Hoffmann-Riem: Wir haben uns darum bemüht. Wir haben jeweils versucht, in knappen Worten das Risikopotential einer neuen Technologie - auch der Addition mehrerer Technologien - zu illustrieren. Und dann prüfen wir, ob das Recht diesem Risikopotenzial Rechnung trägt. So ist die für die automatisierte KFZ-Kennzeichen-Erfassung eingesetzte Technik zwar relativ einfach, aber deren Einsatz muss dennoch Grenzen gesetzt werden. So dürfen nicht Nachforschungen oder gar die Schaffung von Persönlichkeitsbildern ins Blaue hinein ermöglicht werden. Die bei der Online-Durchsuchung eingesetzte Technik ist hochkomplexer Art. Hier kann das Gericht nur verantwortungsvoll entscheiden, wenn es Einblicke in die komplexen Vorgänge hat und plausible Einschätzungen über die Wirkungsweise nutzen kann.

SZ: Was Sie gelegentlich vermisst haben.

Hoffmann-Riem: Vielleicht nicht hier. Nehmen Sie aber das auffällig viel strapazierte Beispiel der sogenannten Sauerland-Bomber. Manchmal heißt es, ohne die neuen Möglichkeiten hätte man das geplante Attentat nie rechtzeitig aufgedeckt, oder auch, man habe viel Glück gehabt, dass es auch ohne neue Instrumente aufgeklärt werden konnte. Es wird aber nicht gesagt, warum die herkömmlichen Mittel nicht gereicht hätten und ob die verschiedenen Behörden die herkömmlichen Mittel angemessen und hinreichend koordiniert eingesetzt haben. So geht das häufig. Es werden Bälle in die Luft geworfen, mit denen man jongliert, aber wir wissen nicht, welcher Ball in welche Hand soll und welcher ruhig herunterfallen darf.

SZ: Nehmen wird das Beispiel der Vorratsdatenspeicherung.

Hoffmann-Riem: Es war bisher so, dass viele Ermittlungen offenbar durch Zugriff auf die ohnehin existierenden Verbindungsdaten erfolgreich waren. Heute aber werden aufgrund der neuen Technologien und vor allem der Zunahme von Flatrates viele Verbindungsdaten von den Unternehmen nicht mehr festgehalten, so dass sie von den Behörden dort nicht abgerufen werden können. Insofern entsteht eine Lücke effektiver Strafverfolgung. Es muss jedoch differenzierend abgeklärt werden, wie weit es angemessen ist, diese Lücke durch eine derart weitreichende Maßnahme, wie die halbjährige Speicherung sämtlicher Verbindungsdaten sämtlicher Telekommunikationsvorgänge sämtlicher Bürger zu schließen.

SZ: Aber das Gericht hat die Speicherung erst einmal zugelassen.

Hoffmann-Riem: Im Eilrechtsschutz die Speicherung und bei schwerwiegenden Verbrechen auch die Verwendung. Die endgültige Entscheidung steht noch aus. Verfahrensmäßig haben wir auf den Richtervorbehalt zurückgegriffen - wohl wissend, dass viele Richter bisher solche Anträge auf Ermittlungsmaßnahmen schon aus Belastungsgründen nicht sehr eingehend prüfen. Wir haben ihnen aber noch einmal sehr nachhaltig gesagt, was sie alles prüfen und schriftlich festhalten müssen.

Auf der nächsten Seite geht es unter anderem um die Herausforderungen von Privatisierung und um Symbolpolitik.

SZ: Wie kamen Sie darauf, dem Gesetzgeber eine Berichtspflicht aufzubrummen?

Hoffmann-Riem: Das ist ein Versuch, an empirische Daten heranzukommen, um später fundiert entscheiden zu können. Jetzt hat die Politik eine Bringschuld.

SZ: Wenn man sich die neue Gesetzgebung anschaut, formt sich ein bestimmtes Bild vom Staat. Auf dem Gebiet der inneren Sicherheit rüstet er auf, reißt er Grundrechte ein - er will so das Bild eines starken Staates zeigen. Dagegen erleben wir im wirtschaftlichen Bereich, wie der Staat sich immer weiter zurückzieht und sich schwach macht. Sogar im Bereich der Daseinsvorsorge wird privatisiert und kommerzialisiert. Was passiert da?

Hoffmann-Riem: Ich habe zu beiden Entwicklungen eine andere Einschätzung. Was den Rückzug des Staates zugunsten einer Kooperation mit Privaten oder einer Auslagerung von Aufgaben angeht, so soll dies möglichst sichern, dass die Aufgaben besser erfüllt werden als vom Staat alleine. Der Staat ist nämlich mit dem Anspruch, alles selbst zu machen, gescheitert. Das kann er gar nicht.

SZ: Er hat aber die Verantwortung.

Hoffmann-Riem: Ja, aber eine andere. Ein Kreis reformorientierter Professoren, dem ich angehöre, nennt das Gewährleistungsverantwortung. Der Staat sorgt dafür, dass es Strukturen, Spielregeln und gegebenenfalls Auffangnetze gibt. Sie sollen sichern, dass die alten Ziele unter neuen Bedingungen erfüllt werden. Der Staat kann die Vorteile der Privatwirtschaft nutzen. Aber er muss dafür sorgen, dass es keine Ungleichheiten und soziale Verwerfungen gibt.

SZ: Damit schwächt sich der Staat.

Hoffmann-Riem: Nicht unbedingt. Man kann die Stärke oder Schwäche des Staates nicht an den Maßstäben des 19. Jahrhunderts messen.

SZ: Wie kann der Staat seiner sozialen Verantwortung nachkommen, wenn er zum Beispiel Krankenhäuser privatisiert und dann keinen Einfluss mehr auf die medizinische Versorgung der Bürger hat?

Hoffmann-Riem: Der Staat muss eben Einfluss behalten, sonst hat er diese Privatisierung falsch gemacht. Er muss die Strukturverantwortung bewahren und sich Informationsrechte sichern. Vor allem muss der Staat die Möglichkeit haben, die Privatisierung notfalls rückgängig zu machen. Damit drohen zu können, kann Wunder bewirken.

SZ: Eine Privatisierung unter Aufsicht?

Hoffmann-Riem: Ich bin ein Anhänger der Privatisierung, wenn sie Vorteile bringt, etwa die Nutzung von Flexibilität. Die Leistungsstandards sollen aber erhalten bleiben. Das ist eine schwierige Steuerungsaufgabe. Wenn sie gelingt, ist der Staat nicht schwächer geworden, sondern anders.

SZ: Und im Sicherheitsbereich?

Hoffmann-Riem: Da habe ich überhaupt nicht den Eindruck, dass der Staat stärker geworden ist. Stärke heißt für mich, dass er in der Lage ist, die Probleme mit geringst möglichen Nachteilen zu bewältigen. Er hat viele neue Instrumente, aber noch nicht gelernt, sie so einzusetzen, dass mit geringster Beeinträchtigung der Bürger ein größtmöglicher Erfolg eintritt. Wenn ein Vater seinen Sohn schlägt oder ein Staat seine Bürger übermäßig beeinträchtigt, ist das für mich Machtausübung und keine Stärke.

SZ: Wie definieren Sie den Griff des Staates nach immer mehr Instrumenten?

Hoffmann-Riem: Ich habe die Sorge, dass der Staat dadurch versucht, den Anschein der Erfüllung des Versprechens zu geben, dass er damit auch etwas erreichen kann. Meine Erfahrung ist, auch aus meiner Zeit als Justizsenator: Es fällt dem Staat zunehmend schwerer, das Versprechen der Sicherheit einzulösen. Deswegen macht er sehr viel Symbolpolitik, er setzt Zeichen, die aber diejenigen wenig beeindrucken, von denen Gefahren ausgehen.

SZ: Zum Beispiel Symbolpolitik durch schärfere Strafen?

Hoffmann-Riem: Das habe ich in der Justizministerkonferenz oft erlebt. Auch wenn klar war, dass eine Strafverschärfung nichts bringt, wurde sie nach bestimmten aufsehenerregenden Kriminalfällen beschlossen. Damit gab es für die Politiker eine Antwort auf die Frage: Was haben Sie denn getan? Nicht aber darauf: Was haben sie bewirkt?

Auf der letzten Seite erklärt Hoffmann-Riem, warum er das Luftsicherheitsgesetz weiterhin für verfassungswidrig hält und unter welchen Umständen er zusätzliche Überwachungsmethoden akzeptieren würde.

SZ: Also sind wir, die Medien, schuld?

Hoffmann-Riem: Nein, das ist keine Frage von Schuld. Medien spielen nur mit bei dem Spiel der Erwartung, dass Politik die Probleme löst.

SZ: Und Herr Schäuble betreibt "Symbolpolitik" für die Öffentlichkeit?

Hoffmann-Riem: Er hält die Öffentlichkeit jedenfalls mit immer neuen Schreckensszenarien und neuen Vorschlägen in Atem, ohne abzuwarten, welches die vielen schon erfolgten Änderungen bewirken. Das trägt Zeichen des Aktionismus.

SZ: Vielleicht eine Folge unserer wahlgetakteten Demokratie? Weil Politiker bis zur nächsten Wahl Erfolge brauchen?

Hoffmann-Riem: Das ist richtig. Aber wir sollten deshalb nicht die Wiederwahl der Politiker ausschließen und zur Monarchie zurückkehren. Demokratie lebt von Optimierung und nicht von Maximierung. Man muss in Kauf nehmen, dass Politiker durch die Endlichkeit ihres Amtes etwas populistischer agieren als Monarchen.

SZ: Minister Schäuble argumentiert in seiner Kritik an Karlsruhe auch mit Macht und Verantwortung. Die liege beim Gesetzgeber, nicht beim Verfassungsgericht. Er beklagt besonders das Urteil das Luftsicherheitsgesetz Ihres Senats. Wie bewerten Sie heute als Ex-Richter das Luftsicherheitsgesetz?

Hoffmann-Riem: Ich halte es weiterhin für verfassungswidrig, und nicht nur wegen des Menschenwürdeschutzes, sondern auch mit Rücksicht auf die hohen Risiken, die hier zur Risikoabwehr eingegangen werden. Die Piloten haben uns erklärt: Wir können nicht erkennen, was im Flugzeug los ist. Der Abschuss ist ein Handeln unter höchster Ungewissheit. Man kann nicht Menschenleben opfern, ohne zu wissen, ob es nötig ist und ob es vielleicht sogar durch einen Absturz mehr Opfer gibt. Man weiß das alles nicht.

SZ: Warum gab es dann dieses Gesetz?

Hoffmann-Riem: Das ist möglicherweise eine Art Rückversicherungspolitik, vielleicht auch Symbolpolitik. Politiker wollen sagen können: Wir haben alles getan. Und jetzt können sie sagen: Da waren diese weltfremden Richter in Karlsruhe. Die haben uns daran gehindert.

SZ: Nach dem 11. September 2001 haben Sie beklagt, dass die Balance zwischen Freiheit, Gleichheit und Sicherheit gestört sei. Sehen Sie dies auch heute so?

Hoffmann-Riem: Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist weiterhin nicht gewahrt. Daran konnte auch das Bundesverfassungsgericht mit seinen punktuellen Entscheidungen zu bestimmten Gesetzen nichts ändern. Ich teile zwar den Satz, dass einem ohne Sicherheit die Freiheit nichts nützt und dass ohne Freiheit die Sicherheit das Merkmal eines nicht lebenswerten Staates ist. Ich sehe zu viele Eingriffe zu Lasten der Freiheit auf der Basis ungesicherter Behauptungen und unter Berufung auf punktuelle Erfolgsmeldungen und immer wieder nur durch den allgemeinen Hinweis auf eine angespannte Sicherheitslage ...

SZ: ... insbesondere durch Terrorismus.

Hoffmann-Riem: Es gibt meistens sehr diffuse, nicht nachprüfbare Aussagen des Innenministers oder seiner hohen Behörden. Wir können nicht prüfen, ob diese Hinweise die Folgerungen rechtfertigen. Eine Balance zwischen Freiheit und Sicherheit setzt aber voraus, dass man rational zu einer Abwägung kommt. Man müsste also sowohl die Gefahrenlage als auch die Tauglichkeit der Instrumente genau besehen.

SZ: Dann würden Sie zusätzliche Überwachungsmethoden billigen?

Hoffmann-Riem: Ich würde mehr zugunsten der Sicherheit akzeptieren, wenn dies auf besondere Gefährdungslagen bezogen und begrenzt ist und die Möglichkeit ihrer Bekämpfung konkret und nachvollziehbar ist. Denn dann kann das neue Instrumentarium mit maßge-schneiderten Freiheitssicherungen kombiniert werden.

SZ: Vermissen Sie immer noch einen gesellschaftlichen Diskurs über Risiken?

Hoffmann-Riem: Ja. Seit dem 11. September haben wir die Frage nicht beantwortet: Welche Risiken und Restrisiken wollen wir uns leisten? Die Zahl der jährlichen Verkehrstoten in Deutschland ist weit größer als die Zahl der Terrorismusopfer in Europa in den letzten zehn Jahren. Das Restrisiko Straßenverkehr haben wir gleichwohl akzeptiert.

SZ: Auch Sie?

Hoffmann-Riem: Ja. Um unserer Fortbewegungsfreiheit willen nehmen wir bestimmte Risiken in Kauf. Wir versuchen uns dagegen durch Airbags und Anderes zu schützen, riskieren es aber beispielsweise nicht, kontinuierliche Überprüfungen der Fahrtauglichkeit vorzunehmen. Das Restrisiko bleibt also immer noch sehr groß. Hier gibt es keinen öffentlichen Aufschrei. Welchen Grad an Restrisiko wir uns im Hinblick auf die Sicherheit vor terroristischen Anschlägen erlauben wollen, um noch politisch frei und ohne übermäßige Überwachung durchatmen zu können - das haben wir noch nicht ausgiebig diskutiert.

© SZ vom 12./13.4.2008/sonn/ihe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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