Bundesteilhabegesetz:Auf den allerletzten Drücker

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Protest in der Spree: Blinde und Sehbehinderte im Wasser vor dem Berliner Reichstag. (Foto: Sean Gallup/Getty)

Bis zuletzt hat Sozialministerim Nahles am Gesetz gebastelt. Es gibt nun mehr Geld für mehr Menschen mit Behinderung. Doch es bleibt Kritik.

Von Christoph Dorner, Berlin

Für die einen ist es der Beginn einer neuen Zeitrechnung: Aus dem alten Fürsorgerecht soll für etwa zehn Millionen behinderte Menschen in Deutschland ein modernes Teilhaberecht werden. Der Abgeordnete Karl Schiewerling sieht das so, der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Sprecher der CDU, der nun am Rednerpult steht. Vor ihm allerdings hat Dietmar Bartsch geredet und kaum ein gutes Haar an der größten sozialpolitischen Reform der Legislaturperiode gelassen: "Sie schränken die Rechte von Menschen mit Behinderung ein. Und zwar aus Kostengründen", hat der Linksfraktionschef gepoltert - für ihn hat, das macht er klar, für diesem Tag mitnichten eine neue Zeit begonnen.

Schiewerling antwortet nun, es sei doch immer guter parlamentarischer Brauch gewesen, die Lebenssituationen von Behinderten nicht unnötig zu skandalisieren. Also besser erst gar nicht streiten über die Teilhabe von Menschen mit Behinderung? Ist das nicht die alte, falsch verstandene Fürsorge? Und das am Ende eines Gesetzgebungsprozesses, der derart langwierig war entgegengesetzten Interessenlagen geprägt? Über Jahre hinweg hatten Behinderten- und Sozialverbände für ihre Belange gekämpft, im September sogar aus Protest in der Spree gebadet.

Das Bundesteilhabegesetz sorgt gerade zu Beginn für eine aufgeregte Debatte unter den Parlamentariern. Auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) spricht zunächst von den Emotionen, die den Entwurf aus ihrem Haus begleitet haben. Es ist die Rede von Enttäuschungen, Zorn, ja sogar gezielter Desinformation. Dennoch sei es nicht weniger als ein "Systemwechsel", die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe herauszuführen, und sie als Leistungsrecht in das Sozialgesetzbuch 9 aufzunehmen. Ganze 68 Änderungsanträge hat Nahles auf den letzten Drücker noch in das Gesetz einarbeiten lassen.

Insbesondere der Passus, dass Menschen mit Behinderung nur dann Eingliederungshilfe bekommen sollten, wenn sie in fünf von neun Lebensbereichen Unterstützungsbedarf nachweisen können, war heftig umstritten. Er fehlt zur Freude vieler Kritiker im finalen Gesetz. Wie der Personenkreis von Leistungsberechtigten künftig beschrieben werden kann, soll nun zunächst wissenschaftlich erforscht und modellhaft erprobt werden. Auch die Neuregelung von Leistungen, die an der Schnittstellen zwischen der Eingliederungshilfe und der Pflege liegen sollten, wurde ausgesetzt. Es bleibt also beim Gleichrang der Leistungssysteme im häuslichen Umfeld.

Der Freibetrag, bis zu dem Bezieher von Eingliederungshilfe eigenes Geld sparen können, soll bis 2020 von 2600 auf 50 000 Euro steigen. Partnervermögen soll dabei nicht mehr herangezogen werden. Dies sei für viele Behinderte in der Vergangenheit ein "Heiratshindernis" gewesen, betont Ministerin Nahles. In den Werkstätten, in denen 300 000 Menschen mit Behinderung arbeiten, soll es künftig Frauenbeauftragte geben, gegen Gewalt und Übergriffe. Ein Wechsel zwischen Werkstätten und normalem Arbeitsmarkt soll leichter werden. Mit einem Budget für Arbeit sollen Arbeitgeber bis zu 75 Prozent des Lohns bei Einstellung von Schwerbehinderten bekommen.

Der Opposition im Bundestag bleibt bei nur, auf den alten Entwürfen aus dem Bundesarbeitsministerium herumzureiten. Besonders laut wird es bei Katrin Göring-Eckardt: "Sie hatten die Aufgabe, ein Haus zu bauen, und es ist nur eine Garage geworden!" Die Fraktionschefin der Grünen kritisiert, dass Behinderten auch mit dem Gesetz der Umzug ins Heim drohe, weil die Kosten für selbständiges Wohnen gedeckelt würden. Auch die gemeinsame Inspruchnahme von Assistenz in der Freizeitgestaltung stößt Göring-Eckardt auf. Mit diesem Gemeinschaftszwang werde das Recht auf individuelle Teilhabe unterlaufen, sagt auch die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele.

Die Behinderten- und Sozialverbände begrüßen das Gesetz im Grundsatz. Die Arbeiterwohlfahrt betont, es sei erfreulich, dass im parlamentarischen Verfahren viele Kritikpunkte der Verbände angenommen worden seien. Maria Loheide von der Diakonie Deutschland sagt: "Das Bundesteilhabegesetz setzt einen Impuls für ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft. Zugleich ist es ein Kompromiss mit Licht- und Schattenseiten."

Kritik an dem Gesetz kommt dagegen aus den Kommunalverbänden: Der Deutsche Landkreistag rechnet mit Mehrbelastungen. Da nun etwa auch Demenzkranke als Transferempfänger einbezogen würden, "werden auch mehr Menschen die ergänzenden Leistungen der Hilfe zur Pflege im Rahmen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen", sagte Irene Vorholz, Beigeordnete für Soziales beim Landkreistag.

© SZ vom 02.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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