Bürgerschaftswahl:Bremen, Beispiel einer Konsensdemokratie

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Die Mehrheit im Stadtstaat ist für die große Koalition, doch die abgestrafte CDU muss sich fragen, ob die für sie kein Irrweg ist.

Reymer Klüver

Es war exakt 80 Minuten nach Schließung der Wahllokale, da beschlich Henning Scherf, den Bürgermeister und glänzenden Sieger dieses Tages, ein mulmiges Gefühl. Auf der Couch im abgeschotteten Eckzimmer des Präsidenten der Bremischen Bürgerschaft konnte er aussprechen, was draußen im Getümmel vor laufenden Fernsehkameras und offenen Mikrofonen niemals über seine Lippen gekommen wäre. Da hat er den Triumphator gegeben, nicht überheblich, aber doch vor Freude schwingend. Und das macht er auch an diesem Montag weiter so, in Berlin an der Seite von Gerhard Schröder.

Doch in der trauten Runde, an seiner Seite der Bremer SPD-Parteichef Detlev Albers und der Fraktionsvormann Jens Böhrnsen, sagte Scherf, dass es wirklich ein Problem sei, "wenn nur einer gut aussieht". Das sei in einer Koalition nicht anders als in der Ehe. Gesprochen hat er über den düpierten Partner CDU, dem an diesem Tag fast ein Viertel der Wähler abhanden gekommen ist. Er weiß, dass sich die Unionisten nun überlegen müssen, was das für sie wirklich bedeutet. Doch gerichtet hatte Scherf, freundlich lächelnd, seine Worte durchaus auch an seine beiden Sitznachbarn. Scherf ahnt, dass er in den kommenden Tagen an zwei Fronten wird kämpfen müssen für das, was er sein "Projekt" nennt, das rot-schwarze Rathausbündnis. Ringen muss er mit einem gedemütigten Partner, der in den Koalitionsverhandlungen nicht noch weiter verlieren will, und mit den eigenen Leuten, die genau das wollen: ihr Wahlergebnis ummünzen in Verhandlungserfolge zu Lasten der CDU.

Schon rüsten sich die Kombattanten für die Schlacht. SPD-Chef Albers verkündet am Montag ungerührt, dass seine Partei ihr Programm "mit deutlicher Handschrift in den Mittelpunkt stellen" werde. Von einem Senator mehr ist die Rede. Jens Eckhoff wiederum, der Fraktionschef der Union, der schon in den letzten vier Jahren dafür zuständig war, dass die Harmonie zwischen den Koalitionären nicht übermächtig wurde, erklärt: "Wir verhandeln auf gleicher Augenhöhe." Und warnt raunend vor "sozialistischen Experimenten".

Es könnte sich rächen, dass die Koalitionäre in großer Geste die beiden Bremer Probleme mit dem heftigsten Konfliktpotenzial bis zur Wahl einfach beiseite schoben. Sie haben zum einen nicht abgesprochen, wie sie eigentlich die zusätzlichen Einsparungen umsetzen wollen, die so sicher wie das Amen in der Kirche in dieser Wahlperiode auf sie zukommen werden. Die Sanierung des maroden Haushalts ist im Stadtstaat längst nicht abgeschlossen, und die Steuerausfälle machen die Situation nicht bequemer. Zum anderen haben sie nicht den blassesten Schimmer, wie sie sich in einer ideologisch schwer belasteten Frage zusammenraufen können. Die SPD will als Lehre aus dem Pisa-Schock und in bester Bremer Experimentier-Tradition in Bildungsfragen die sechsjährige Grundschule einführen. Die Union dagegen möchte zurück zum dreigliedrigen Schulsystem.

Daran werden die Koalitionsverhandlungen wohl nicht scheitern. Man wird im Zweifel Formeln für Kompromisse finden, darin sind Henning Scherf und sein Koalitions-Kompagnon von der CDU, Finanzsenator Hartmut Perschau, erprobt. Doch in der Union gärt es nach dem Debakel von Sonntag. Und nicht vollends ausgeräumter Streit über Grundsatzfragen böte natürlich immer genug Anlass, irgendwann doch aus der Koalition auszusteigen.

Noch ist es nicht soweit. Noch wissen der Bremer Parteichef Bernd Neumann und Hartmut Perschau die Mehrheit in der Partei für eine große Koalition hinter sich. Aber sie werden nach der Verantwortung für den Wählereinbruch gefragt werden. Denn, wenn man von der Koalitionsrhetorik ablässt: Der Kuschelkurs der CDU im Rathausbündnis hat sich eigentlich nur für Henning Scherf und die SPD gelohnt. Perschau, der erste Unionsmann im Rathaus, sprach in seinen Wahlanalysen stets von "archaischen Ängsten" der Unionswähler vor Rot-Grün. Sie seien deshalb in Scharen zur SPD übergelaufen, um Scherf zu stützen. Da ist sicherlich was dran. Doch einen Angstwahlkampf hat auch die CDU geführt. Aus Furcht, den Partner vielleicht gar zu überflügeln und damit die gemeinsame Geschäftsgrundlage zu zerstören, wollte sie lieber gar nicht gewinnen. Diese schwer zu vermittelnde Taktik hat der Wähler abgestraft.

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Und so wird in der Union ganz schnell die Frage auftauchen, was eigentlich die Perspektive der CDU in vier Jahren sein kann. Ob sie auf Dauer wieder in den 20-Prozent-Keller absacken wird, aus dem sie sich mit Mühe vor 30 Jahren befreit hat? Perschau, der unverwüstliche Optimist (darin Scherf nicht unähnlich), tönte schon am Sonntagabend, die Wähler seien beim nächsten Mal alle wieder zurück. Doch das glauben längst nicht alle. Und so ist die Frage zu hören, ob die große Koalition nicht doch einen Irrweg darstellt, den man, nach einer Anstandsfrist, so schnell wie möglich verlassen sollte.

Henning Scherf kennt diese Überlegungen und sagt, das müsse die Union nun einmal intern klären. Womit er natürlich recht hat. Und er vertraut darauf, dass Parteichef Neumann, mit dem er die Koalition vor acht Jahren verabredet hatte, sie wieder durchboxen wird. Aber richtig ist auch, dass ihm, dem Wahlsieger, die Macht abhanden kommen könnte, sollten sich Neumann und Perschau nicht durchsetzen. Die SPD aber würde stärkste Partei bleiben. Und sie hätte ja immer noch die Grünen als willige Gefährten. Nur ein Henning Scherf wäre wohl dann nicht mehr mit von der Partie.

Dabei war dies ohne Zweifel seine Wahl. Es war eine Persönlichkeitswahl: Am Sonntag ging es nicht um die SPD. Die Bremer Wähler kamen gar nicht auf die Idee (oder nur im bescheidenen Umfang), die SPD für ihre Politik im Bund abzustrafen, so wie vorher in Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Scherf hat in dieser Wahl sozusagen auch Schröder geschlagen. Denn die SPD hat die Stimmen allein bekommen, um die große Koalition unter einem überaus beliebten Bürgermeister zu erhalten. Scherf hatte sich immer wieder auf diese Koalition festgelegt, obwohl seine Partei selbst offiziell alles offen gehalten hatte.

Damit haben die Bremer für ein Regierungsmodell votiert, das offenbar Sehnsüchten vieler Menschen nach einem fürsorglichen Regiment durchaus entgegenkommt. Denn Konsensdemokratie, wie Scherf sie in den vergangenen beiden Wahlperioden vorgelebt hat, bereinigt mögliche Streitfälle, ehe sie zu Problemen werden - und wenn sie zu solchen geworden sind, hält sie sie eben auch schon mal unter dem Teppich. Rot-grüne Bündnisse aber neigen eigentlich eher zur Konfliktdemokratie, wie man gerade wieder in Nordrhein-Westfalen studieren kann. Zwar ist Rot-Grün auch diesmal in Bremen wieder rechnerisch möglich. Die Wähler aber haben SPD nur deshalb gewählt, weil Scherf genau das ausgeschlossen hatte.

Und für die kommenden Tage schließt Scherf offenbar noch etwas aus. Nun, da die Wahl gelaufen ist, wird er am Sonntagabend in der Bremischen Bürgerschaft gefragt, könne er doch sich endlich zu den Reformvorhaben des Kanzlers einmal äußern. Doch der Bremer Bürgermeister schweigt weiter. Er will die anstehenden Verhandlungen nicht erschweren, indem er sich für eine Seite einspannen lässt. Damit ist er in Bremen bisher doch ganz gut gefahren. Oder?

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