Brigitte Zypries:"Unsere Geldstrafen werden der Wirklichkeit nicht mehr gerecht"

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Auf dem Gebiet der inneren Sicherheit wird in Karlsruhe ein Gesetz nach dem anderen korrigiert oder aufgehoben: Bundesjustizministerin Brigitte Zypries nimmt Stellung zu den Konflikten zwischen Bundesverfassungsgericht und Politik.

Susanne Höll und Heribert Prantl

SZ: Wenn man im Internet die Blogs liest und die wütenden Proteste gegen Vorratsdatenspeicherung und Online-Durchsuchung, dann stellt man fest: Der Staat verliert die Generation Internet. Beschäftigt Sie das?

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (Foto: Foto: AP)

Zypries: Zunächst einmal finde ich es gut, dass es eine neue Bewegung gibt, die sensibel ist für Datenschutz und Grundrechte, auch wenn diese "den Staat" kritisiert.

SZ: Wenn Sie das gut finden, warum machen Sie dann keine guten Gesetze?

Zypries: Der Gesetzgeber versucht schlicht, mit seinen Gesetzen die technische Entwicklung nachzuvollziehen, also den Staat auf das Computer- und Internet-Zeitalter einzustellen.

SZ: Zu diesem Zweck müssen Daten auf Vorrat gespeichert werden?

Zypries: Wir nutzen hier die Möglichkeiten, die es seit jeher gibt, und bauen diese nach den EU-Richtlinien aus.

SZ: Warum muss das Verfassungsgericht in Fragen der inneren Sicherheit in immer schnellerer Folge den Gesetzgeber korrigieren? Was ist da los?

Zypries: Bei der Online-Durchsuchung war es ein Landesgesetz, das für nichtig erklärt wurde. Im Bund haben wir ja, wegen der großen Grundrechtsrelevanz dieses Vorhabens, auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich gewartet.

SZ: Sind Sie mit dem Online-Urteil zufrieden? Hat nun in Karlsruhe Schäuble Recht bekommen oder Sie?

Zypries: Das Gericht hat bestätigt, dass das Vertrauen der Menschen in die Privatheit ihres PC's ein hohes Gut ist und bei Eingriffen der Kernbereich privater Lebensgestaltung geschützt bleiben muss. Das war immer meine Haltung.

SZ: Wie lange wird nun die Umsetzung der Vorgaben des Gerichts dauern? Wann gibt es die Paragraphen über die Online-Durchsuchung im BKA-Gesetz?

Zypries: Der Innenminister ist am Zug. Er hat angekündigt, dass er jetzt zügig einen neuen Entwurf für die Online-Durchsuchung vorlegt.

SZ: Das höchste Gericht hat den Gesetzgeber auf dem Gebiet der inneren Sicherheit x-mal korrigiert. Hat die Politik die Maßstäbe verloren oder wendet das Bundesverfassungsgericht nicht mehr brauchbare Grundrechts-Maßstäbe an?

Zypries: Karlsruhe und Berlin, Verfassungsgericht und Politik betrachten die Probleme aus ihren jeweiligen Perspektiven. Da gibt es oft ein Miteinander, manchmal ein Gegeneinander. Das ist in der Gewaltenteilung des Grundgesetzes so angelegt. Das höchste Gericht ist Kontrolleur. Verschiedentlich hat uns Karlsruhe schon eine legislative Nacharbeit verordnet, die in der Praxis schwierig umzusetzen ist - bei der Wohnraumüberwachung ...

SZ: ...dem Lauschangriff also...

Zypries: ... zum Beispiel. Aber auch damit kann man leben. Sicherheitsbehörden verwundern sich gelegentlich über das Verfassungsgericht, das Verfassungsgericht verwundert sich gelegentlich über die Sicherheitsbehörden. Und jeder lernt vom anderen.

SZ: Ihr Minister-Kollege Schäuble sagt, wir leben nicht mehr in der Welt, in der das Grundgesetz entstand. Sind die Grundrechte ein romantischer Katalog, welcher einer neuen Welt voller Gefahren nicht mehr gerecht wird?

Zypries: Nein. Unsere Grundrechte sind höchst tauglich und zeitgemäß. Sie können in unserem verfassungsrechtlichen und gerichtlichen System weiterentwickelt werden - wie man ja am jüngsten Beispiel gut beobachten kann.

SZ: Entwickeln sich die Karlsruher Welt und die Berliner Welt auseinander?

Zypries: Es ist ein Unterschied, ob man in Karlsruhe oder hier im aufgeregten Politikbetrieb sitzt. Es ist auch ein Unterschied, ob ich als Bundesinnenminister Verantwortung trage dafür, dass möglichst nichts passiert, oder ob ich als höchstes Gericht Deutschlands um Ausgleich und Rationalität bemüht bin.

SZ: Vergleichen wir die innere Sicherheit mit einer Burg: Die Politiker bauen immer neue Steinquader auf die Mauerkrone. Das Verfassungsgericht braucht Zeit, um einen einzigen Stein herunterzuklauben. Derweil setzt der Gesetzgeber fünf neue Reihen auf die Burg.

Zypries: Nun übertreiben Sie aber, so schnell geht das nicht. Ich wähle ein anderes Bild: Es werden vom Gesetzgeber Balkone angesetzt, und manchmal muss der eine oder andere zurückgebaut werden.

SZ: Die Politik redet ständig über neue Gesetze, Maßnahmen, neue Eingriffe in Bürgerrechte, die zum Kampf gegen Terror und Verbrechen geboten seien. Muss man nicht auch einmal über die Grenzen reden, die in keinem Fall der Bedrohung überschritten werden dürfen?

Zypries: Die Frage nach dem Rubikon ist so abstrakt schwer zu beantworten, weil die Grenze auch von der Bedrohungslage abhängt. In Deutschland gab es noch keinen Terror-Anschlag wie in Großbritannien oder Spanien.

SZ: Das heißt, die Grundrechte stehen unter Terror-Realisierungsvorbehalt?

Zypries: In gewisser Weise ja. Es nützt mir doch mein bestes Grundrecht nichts, wenn ich konkret fürchten muss, dass abends in der U-Bahn eine Bombe hochgehen kann. Da muss man sich Sicherheitsmaßnahmen überlegen. Die müssen aber die Grundrechte nicht massiv einschränken.

SZ: Sie reden ja fast wie Schäuble. Nähern Sie sich an?

Zypries: Verantwortungsvolle Gesetzgebung bedeutet, auf Gefahren im verfassungsrechtlichen Sinne verhältnismäßig, also angemessen, zu reagieren. Deshalb spielt die Qualität einer Gefahr sehr wohl eine Rolle. Eine abstrakte Liste von absolut verbotenen Maßnahmen hilft uns da nicht weiter.

SZ: Und die ehernen Grundsätze: Keine Todesstrafe? Keine Folter? Die Menschenwürde?

Zypries: Keine Frage. Diese ehernen Grundsätze gelten, ohne Wenn und Aber.

SZ: Das Luftsicherheitsgesetz, das das Abschießen entführter Flugzeuge erlauben wollte, wurde vom Verfassungsgericht als Verstoß gegen die Menschenwürde für verfassungswidrig erklärt. Lässt das Urteil noch Raum für eine Regelung, mit der der Staat unschuldige Menschen abschießen dürfte?

Zypries: Das Urteil lässt Raum für Spekulationen. Aber an denen beteilige ich mich nicht. Für mich ist dieses Thema als Gegenstand der Gesetzgebung erledigt.

SZ: Reden wir im politischen Streit zu oft und schnell von Menschenwürde?

Zypries: Ja. Bevor man sich auf Artikel eins stürzt, sollte man sich den Schutzbereich anderer Grundrechtsnormen anschauen. Die Menschenwürde ist das höchste Gut der Verfassung. Man sollte sie also nicht bei jedem Alltagsproblem in den Mund nehmen, wenn man sie nicht auf Dauer entwerten will.

SZ: Im Streit um die Wahl des Staatsrechtlers Horst Dreier zum Verfassungsrichter wird auch viel über Menschenwürde geredet. Dreier wird vorgeworfen, er relativiere die Menschenwürde. Er lasse in bestimmten, extremen Ausnahmefällen gar die Folter zu. Sie haben ihn vorgeschlagen. Haben Sie sich in ihm geirrt?

Zypries: Nein, es irren seine Kritiker. Ein so kluger Kopf wie er passt gut nach Karlsruhe. Dreier hat Folter nie gebilligt. Er hat nur Dilemmata aufgezeigt, die es geben kann. Das muss ein guter Wissenschaftler tun. Haben Sie in seinem Kommentar das Wort Folter gesehen?

SZ: Wir können es Ihnen zeigen.

Zypries: Aber doch nicht als Lösungsvorschlag für Konfliktlagen.

SZ: Immer mehr Staatsrechtler sagen, der Staat dürfe einem Polizeivizepräsidenten, der foltert, um ein Opfer zu retten, nicht in den Arm fallen. Der Staat mache sich sonst einer Verletzung der Würde des Opfers schuldig.

Zypries: Nein. Der Staat darf nicht foltern, nie. Das Folterverbot ist absolut. Wenn man sich einmal darauf einlässt, ist man verloren.

SZ: Also hat ein Verfassungsrichter-Kandidat, der sich darauf einlässt, auch verloren!

Zypries: Dreier hat sich nicht darauf eingelassen. Er hat eine wissenschaftliche Frage aufgeworfen, aber keine Antwort in dem unterstellten Sinn gegeben.

SZ: Das Verfahren zur Berufung von Verfassungsrichtern ist undemokratisch. Es sollte geändert werden.

Zypries: Es hat fast immer zu sehr respektablen Besetzungen geführt. Da kann sich niemand beschweren. Im Großen und Ganzen funktioniert es gut. Es gibt keinen Grund, es zu ändern.

SZ: Im Grundgesetz steht, dass der Bundestag die Verfassungsrichter wählt. Aber es wählen nicht die 613 Abgeordneten, sondern es wählen die 12 Mitglieder eines Wahlausschusses.

Zypries: Natürlich könnte man auch den ganzen Bundestag abstimmen lassen - aber warum ein bewährtes Verfahren ändern? Die Beratungen jedenfalls sollten dem geheimen Wahlausschuss vorbehalten bleiben.

SZ: Keine Öffentlichkeit, keine öffentliche Präsentation der Kandidaten?

Zypries: Im momentanen Verfahren habe ich das Gefühl, dass wir zu viel Öffentlichkeit haben. Fragen Sie mal junge Wissenschaftler, wie diese Debatte auf sie wirkt. Die wenden sich mit Grausen ab. Da verzichtet ein Topkandidat doch lieber auf Karlsruhe, wenn er sich zuvor öffentlich ausziehen lassen muss.

SZ: Noch einmal zur Menschenwürde. In der Debatte um reiche Steuerkriminelle fiel das Wort "Asoziale". War das ein Verstoß gegen die Menschenwürde?

Zypries: Die Debatte hat eher gegen die Unschuldsvermutung verstoßen als gegen die Menschenwürde. Ich fand es unglücklich, dass die Medien vorab einen Hinweis auf die Durchsuchung bei Herrn Zumwinkel bekamen und die Bilder von der Verhaftung gesendet wurden.

SZ: Brauchen wir ein höheres Strafmaß für Steuerhinterzieher, wie es auch in Ihrer Partei gefordert wurde?

Zypries: Das Gesetz sieht ein Strafmaß bis zu zehn Jahren Haft vor, das reicht, um gerecht zu bestrafen. Eine noch höhere Strafandrohung wirkt selten abschreckend, das ist beim Steuerrecht nicht anders als bei der Jugendkriminalität. Und es gibt Geldstrafen mit Tagessätzen, die nach Einkommen gestaffelt sind, von einem Euro bis 5000 Euro.

SZ: Dieses System legt zu Grunde, dass ein Beschuldigter ein Einkommen von maximal 5000 Euro am Tag hat. Da gibt es wohl Großverdiener und Superreiche, die darüber lächeln.

Zypries: Wir bereiten derzeit eine gesetzgeberische Initiative vor, mit der wir Obergrenze von 5000 Euro netto täglich anheben, weil wir glauben, dass wir sonst der Wirklichkeit nicht in jedem Fall gerecht werden. Natürlich gibt es Menschen, deren tägliches Nettoeinkommen - mit Mieten und Kapitalerträgen - die 5000-Euro-Grenze übersteigt.

SZ: Welchen Höchstsatz wollen Sie?

Zypries: Im Gespräch sind 15.000 bis 20.000 Euro. Oder man könnte die Obergrenze ganz aufheben.

SZ: Die höchste Geldstrafe sind derzeit bei einer Einzeltat 360 Tagessätze à 5000 Euro, das sind 1,8 Millionen Euro. Nach der Anhebung des Höchstsatzes auf 20.000 Euro käme man auf 7,2 Millionen. Wenn einer fünf Millionen Euro Steuern hinterzogen hat, ist das auch nicht sehr viel.

Wenn nach mehreren Taten eine Gesamtstrafe verhängt wird, liegt die höchste Geldstrafe bei 720 Tagessätzen à 5000 Euro, also bei 3,6 Millionen; nach der Erhöhung wären es 14,4 Millionen. Bei einer Steuerhinterziehung von 15 Millionen Euro ist das auch nicht sehr viel.

Zypries: Diese Person muss ja wohl mit einer Haftstrafe, nicht nur mit einer Geldstrafe rechnen. Natürlich müssen zudem die hinterzogenen Steuern mit Zinsen nachgezahlt werden. Und, wie gesagt, wir überlegen, ob wir nicht die Höchstgrenzen ganz aufheben sollen.

SZ: Eine Frage an die hessische Bundestagsabgeordnete. Könnten Sie Ihren Wählern erklären, warum sich Andrea Ypsilanti notfalls mit den Stimmen der Linkspartei zur Ministerpräsidentin wählen lässt?

Zypries: Erklären kann ich das. Persönlich würde ich das aber nicht machen. Zur Ministerpräsidentin gewählt zu werden, ist das eine. Aber man muss dann auch fünf Jahre stabil regieren können.

SZ: Welche Alternative ist besser: eine Minderheitsregierung Ypsilanti oder eine geschäftsführende Regierung Koch?

Zypries: Ich halte es für richtig, dass Frau Ypsilanti sagt, mit dieser Wahl ist klar, dass Koch abgewählt wurde. Aber man muss auch eine regierungsfähige Mehrheit zustande bringen. Das ist die Aufgabe der nächsten Wochen.

SZ: Die Entscheidung des SPD-Vorstands zur Öffnung gegenüber der Linkspartei im Westen wird als Linksruck Ihrer Partei gewertet. Gibt es diesen Ruck?

Zypries: Nein. Diese Kategorien mit Rechts und Links sind generell nicht sonderlich tauglich. Wir haben die Auszahlung des Arbeitslosengeldes I verlängert, auch in der Erkenntnis, dass die gefühlte Ungerechtigkeit der Bürger dabei sehr groß ist.

SZ: Also ein gefühlter Linksruck?

Zypries: Ich würde nicht von Linksruck reden. Das war ein Gesetz, das wir mit den Stimmen der Koalition verabschiedet haben. Wenn Sie das so sehen wollen, dann wäre die ganze Bundesregierung nach links gerutscht. Es sind schlicht Fehler im Gesetz korrigiert worden. Das war nicht links oder rechts, sondern sozial geboten, vernünftig und richtig.

© SZ vom 29.02.2008/schä - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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