Berlin klagt Zuschüsse ein:"Lebensunfähige Länder nicht erhalten"

Lesezeit: 3 min

Mit Spannung erwarten die Länder, wie das Bundesverfassungsgericht über Berlins Klage auf Bundeshilfen zur Sanierung des Haushalts urteilt. Nach den Ermahnungen von 1952 und 1992 könnten die Karlsruher Richter heute die Neugliederung der Republik einleiten.

Von Heribert Prantl

Bisweilen klopft das Bundesverfassungsgericht wie das leibhaftige Schicksal an die Tür der Politik. Heute ist es wieder so weit. Das höchste deutsche Gericht entscheidet über die Klage des Schuldenlochs Berlin gegen den Bund auf finanzielle Nothilfe in Milliardenhöhe. Bei dem Urteil geht es nicht nur um viel Geld, sondern auch um die Zukunft des deutschen Föderalismus.

Hauptstadt in Nöten. (Foto: Foto: dpa)

Das Gericht steht vor einer Tür, vor der es schon wiederholt gestanden hat; auf dem Türschild steht: Artikel 29 Absatz 1. Dieser handelt von einem Tabu der deutschen Innenpolitik - von der Neugliederung: "Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Aufgabe die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können."

Das Tabu

Dieser Neugliederungsartikel steht zwar seit 1949 im Grundgesetz, er hat aber bisher außer der Gründung des Landes Baden-Württemberg im Jahr 1952 auf der Grundlage der Sondervorschrift des Artikels 118 keine Ergebnisse gebracht. Die Beharrungsfaktoren in der Politik standen dagegen. Mit der Neugliederung verhält es sich so, wie es das Goethe-Zitat beschreibt: "Die Zeit zum Handeln immer neu verpassen, heißt die Dinge sich entwickeln lassen."

Schon zweimal hat das Bundesverfassungsgericht an die Tür des Tabus gepocht, jeweils im Zusammenhang mit Klagen, die so ähnlich waren wie die, über die nun entschieden wird: 1952 ging es um die Grundsatzfrage, ob der finanzielle Ausgleich zwischen reichen und armen Bundesländern verfassungswidrig sei, weil er zu einer "Nivellierung" führe.

Diesen Generalangriff auf die föderale Solidarität wies Karlsruhe ab. Die Richter mahnten freilich, der Ausgleich dürfe nicht dazu führen, "lebensunfähige Länder künstlich am Leben zu erhalten".

"Extreme Haushaltsnotlage"

Daran knüpfte das Gericht 1992 ausdrücklich an, als es über die Klage der Bundesländer Bremen, Hamburg, Saarland und Schleswig-Holstein zum Länderfinanzausgleich entschied. Als Gewinner des Verfahrens konnten sich Bremen und das Saarland betrachten; ihnen bestätigte das Gericht nicht nur eine "extreme Haushaltsnotlage", sondern auch "Anstrengungen", ihre Nettokreditaufnahme zu verringern.

Die übrigen Länder hätten die Pflicht, ihnen mit konzeptionell aufeinander abgestimmten Maßnahmen beizustehen. Wie das zu geschehen habe, überließ das 131 Seiten lange Urteil dem Gesetzgeber, es müsse aber "unverzüglich" geschehen. Auf so ein Urteil hofft jetzt auch Berlin.

Schlägt das Verfassungsgericht nun noch vehementer an die Tabu-Tür, tritt es diese womöglich sogar ein? Für eine gewisse Ungeduld des Gerichts spricht die Tatsache, dass sich seit 1992 an der Malaise nichts geändert hat: Die verschuldeten Länder sind noch höher verschuldet als damals, von 16 Bundesländern hängen elf dauerhaft am Tropf des Bundes.

Bei den Bundeszuschüssen, so hatte Karlsruhe 1992 betont, könne es sich nur um eine "vorübergehende Hilfe zu Selbsthilfe" handeln. Was ist, wenn aus der vorübergehenden Hilfe Daueralimentation wird?

Heftige Diskussion - ohne Folgen

Bei der mündlichen Verhandlung zur Berliner Klage im April 2006 hatte die Richterbank immer wieder die Frage aufgeworfen, ob das bisherige System der Finanzverfassung noch tauglich sei. Die Berichterstatterin Lerke Osterloh sprach von "dringend erforderlichen Maßnahmen".

Und Vizepräsident Winfried Hassemer von Lösungsmöglichkeiten, "die außerhalb unserer Entscheidungskompetenz liegen". Dazu gehört natürlich die Neugliederung der Länder; das Gericht kann sie nicht anordnen, es kann sie nur verschärft anmahnen - wenn es zum Ergebnis kommt, dass die "extreme Haushaltsnotlage" von bestimmten Ländern kein Ausnahme-, sondern ein Dauerzustand ist.

Das wichtigste Gutachten zur Länderneugliederung, das Ernst-Gutachten, stammt von 1972/73; es ist benannt nach dem Kommissionsvorsitzenden Werner Ernst, einem früheren Staatssekretär im Wohnungsbauministerium. Es wollte die Zahl der Länder (damals West) von zehn auf fünf oder sechs verringern. Das Gutachten wurde heftig diskutiert, blieb aber folgenlos.

Die fünf Kleinen

SPD-Politiker samt Bundeskanzler (Willy Brandt wie später Helmut Schmidt) hatten den Stadtstaaten Bremen und Hamburg die Fortdauer der Selbstständigkeit schon vorab zugesichert, gleichgültig, wie das Gutachten ausfallen würde.

Gegen die Gründung von fünf vergleichsweise kleinen Ländern auf dem Gebiet der untergehenden DDR gab es zwar im Westen wie im Osten Vorbehalte; deren Existenz stand aber bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag nicht mehr zur Disposition. Und eine Volksabstimmung über eine Fusion der Länder Berlin und Brandenburg scheiterte 1995/96.

Gedanklicher Ausgangspunkt für den Neugliederungsartikel 29 war die 1948/49 im Parlamentarischen Rat vorgetragene Vorstellung, "dass ein gesunder Föderalismus nur möglich ist, wenn gegeneinander vernünftig ausgewogene Länder vorhanden sind" und nicht bloße Zufallsgebilde, die ihre Entstehung militärisch-administrativen Vereinbarungen verdanken.

Vorbild USA?

Aus den Zufallsgebilden ist allerdings mittlerweile Heimat geworden. Und die Vertreter des Status quo verweisen darauf, dass in zwei klassischen Bundesstaaten, in der Schweiz und in den USA, sowohl die Zahl der Gliedstaaten als auch die Größenunterschiede zwischen ihnen weitaus gewichtiger sind als in der Bundesrepublik.

Wer die politischen Spiele kennt, weiß, dass das Verfassungsgericht auch mit Engelszungen eine Neugliederung nahelegen, womöglich auch eine Vereinfachung der komplizierten Neugliederungsvorschrift des Artikels 29 empfehlen kann - sie wird trotzdem kaum kommen. Die Neugliederungsdebatte wird gleichwohl geführt werden, um als Druckmittel gegen die schwachen Bundesländer bei der Neuordnung der Finanzverfassung zu dienen, der sogenannten Föderalismusreform Teil 2.

© SZ vom 19.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: