Bamf:Abgerundet

Lesezeit: 5 min

Im Februar 2016 begann Jonas Groß, der in Wirklichkeit anders heißt, der Bundesrepublik in großer Not zu dienen. Schon im Herbst 2016 wurde Groß gelobt, prämiert – und dann doch auf die Straße gesetzt. (Foto: Robert Haas)

Wegen einer hundertstel Note muss ein schwerbehinderter Mitarbeiter das Asyl-Bundesamt verlassen. Der Fall offenbart die Kluft zwischen den politischen Versprechen und der Personalführung der Behörde.

Von Bernd Kastner, München

Dieser Mann im Rollstuhl war wohl ein Glücksfall für das Land. "In besonderer Weise" habe er sich mit seiner Arbeit identifiziert, habe "vorbildliche Leistung" erbracht, "herausragendes Engagement" gezeigt sowie "hohe Arbeitsmoral". Das und noch mehr an Lob bekam Jonas Groß von seinem Arbeitgeber, dem Asyl-Bundesamt, schwarz auf weiß bestätigt, und obendrauf eine Leistungsprämie, 1800 Euro. Das war im Herbst 2016.

Jetzt aber ist alles anders, jetzt sind sie Gegner, der Belobigte und das Amt. Jonas Groß (Name geändert) ist in Saal 329 des Arbeitsgerichts Nürnberg gerollt, einen fensterlosen Raum. Vor ihm sitzen die Richter, neben ihm ein Abgesandter seines früheren Arbeitgebers. Groß, 35 Jahre alt, ist arbeitslos, sein befristeter Vertrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ist ausgelaufen. Zwei Jahre lang hatte er als Entscheider in der Außenstelle München gearbeitet und bestimmt, ob ein Flüchtling Schutz bekommt oder nicht. Er bekam keine Dauerstelle - weil seine Leistung nicht ausgereicht habe.

Die Sache Groß gegen die Bundesrepublik Deutschland ist eine Geschichte voller Widersprüche und Absurditäten. Hier die politischen Versprechen, dort die Personalpolitik einer Bundesbehörde. Erst das überschwängliche Lob, dann das Aus für einen Schwerbehinderten, der wegen einer hundertstel Note gehen soll.

Das Amt stellte einen Mitarbeiter im Rollstuhl ein. Was es nicht gab: eine behindertengerechte Toilette

Als Groß begann, der Bundesrepublik in großer Not zu dienen, im Februar 2016, kamen täglich 2000 Flüchtlinge über die Grenzen. Das Bamf suchte überall neue Mitarbeiter, um dem Andrang halbwegs Herr zu werden; die Arbeitsagentur vermittelte Groß, wie so viele andere, ins Amt. Sein Start war schwierig. Das Bamf hatte einen Schwerbehinderten eingestellt, was es aber nicht gab, war eine behindertengerechte Toilette. An den ersten Tagen habe er nichts getrunken, um durchzuhalten, erzählt Groß, eine "Quälerei" sei das gewesen. Zweieinhalb Tage habe es gedauert, ehe er den Schlüssel zu einem behindertengerechten Klo bekam; es befand sich im Gebäude des Bamf, gehörte aber zu einer anderen Behörde.

Jenseits dessen muss alles gut geklappt haben. Die Leiterin der Münchner Filiale war sehr zufrieden mit Groß, man kann das in der Prämienbegründung nachlesen: Sie lobte sein "ausgesprochen hohes Verständnis von Dienstleistungsorientierung. So konnten Sie es meist nicht mit Ihrem Arbeitsethos vereinbaren, Antragsteller, die über Jahre und Monate auf ihre Anhörung gewartet haben, aus Kapazitätsgründen unverrichteter Dinge zurückzuschicken." Groß habe weit mehr getan, als man von ihm erwartet habe.

Im Herbst 2016 hätte Groß auf Schulung gehen sollen, für drei Wochen. Damals wurde die oft mangelnde Qualifizierung von Bamf-Mitarbeitern schon öffentlich diskutiert, doch dann wurde Groß in einer E-Mail "um Verständnis" gebeten, dass seine Schulung ausfalle. So ging es weiter: Schulungen im Februar 2017 - abgesagt. Im Herbst 2017 der "Schutzgewährungskurs" - verschoben. Fünf Wochen vor Vertragsende notierte das Qualifizierungszentrum des Bamf, dass Groß noch immer nicht die Grundlagenmodule für die Themen Materielles Recht, Bescheiderstellung und Anhörungstechniken absolviert habe. Groß hatte Jura studiert, aber ein Asyl-Experte war er nicht, wie viele hundert andere Kollegen auch. Das räumt er offen ein. Und doch habe er in den zwei Jahren beim Bamf, von Kollegen-Tipps im laufenden Betrieb mal abgesehen, nie eine echte Schulung erhalten. Über Asylanträge aber habe er weiter entschieden, was er einen "Skandal" nennt - den Flüchtlingen gegenüber.

Anfang 2018 versprechen in Berlin die Führungsleute von Union und SPD, die Zahl der sachgrundlos befristeten Arbeitsverträge stark zu reduzieren, es soll sie nur noch in absoluten Ausnahmefällen geben. Etwa zur selben Zeit laufen im Bamf die meisten der sachgrundlos befristeten Zwei-Jahres-Verträge aus. Für 2800 Bewerber gibt es 2000 Dauerstellen, 800 eingearbeitete Mitarbeiter müssen gehen. Wie Groß sind viele Mitarbeiter vor Gericht gezogen, derzeit sind laut Bamf gut 300 Klagen anhängig. Mehr gebe der Stellenplan nicht her, so erklärt das Bamf das Aus für viele, aber weil noch anderweitig Geld im Haushalt ist, stellt das Amt 600 Mitarbeiter neu ein, befristet, ohne Sachgrund. Rainer Roth, Anwalt von Jonas Groß, kritisiert diesen eklatanten Widerspruch "zu den schönen Worten im Koalitionsvertrag". Darin heißt es, dass Betriebe künftig für maximal eineinhalb Jahre sachgrundlos befristen dürfen, und auch nur 2,5 Prozent ihrer Beschäftigten. Das Bamf überschreitet beide Grenzen deutlich, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Der Koalitionsvertrag ist kein Gesetz.

Jonas Groß bewarb sich auf eine Dauerstelle in München. Im Februar 2018 schreibt ihm das Bamf, das ihn gut ein Jahr zuvor mit Lob überschüttet hat, dass er keine Stelle bekomme. Die Bamf-Noten reichen von 1 bis 9, je höher, desto besser; für eine Stelle in München wären 7,78 nötig, Groß bekommt eine 5. Wie passt das zur Leistungsprämie nach acht Monaten? Das Bamf erklärt ganz allgemein, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun habe. Eine Prämie könne es auch für eine einmalige herausragende Aktion geben. Groß also geht leer aus. Oder?

In Saal 329 des Arbeitsgerichts bringt der Bamf-Jurist plötzlich eine mögliche Lösung ins Spiel: Das Bamf vergebe neuerdings auch Stellen, die mit Sachgrund befristet seien, ein gerichtlicher Vergleich wäre so ein "Sachgrund": Groß zieht seine Klage zurück, das Bamf stellt ihn nochmals für zwei Jahre ein. Allein, das Angebot gelte für Mitarbeiter mit mindestens Note 6, Groß aber hat eine 5. Was jetzt?

Der Bamf-Mann telefoniert mit der Zentrale. Als er wieder vor dem Richter Platz nimmt, verkündet er die Direktive: Das Amt mache keine Ausnahme, 5 ist 5. Groß ist raus. Nun hat Jonas Groß aber keine glatte 5 bekommen, aus den zahlreichen Einzelnoten errechnet sich ein Schnitt von 5,49. In der Schulzeit war man froh über eine 49 nach dem Komma, im Zeugnis wurde abgerundet zur besseren Note. Im Bamf bedeutet Abrunden aber das Gegenteil. Hätte Groß die rechnerische Note 5,50 erhalten, wäre aufgerundet worden, er dürfte weiterarbeiten. Eine hundertstel Note also entscheidet über die Zukunft. Und das bei einem schwerbehinderten Mitarbeiter, der, wie er versichert, nie eine Schulung erhalten habe.

Die Behörden sind gehalten, schwerbehinderte Mitarbeiter "besonders zu fördern"

Dies steht im Widerspruch zu den Äußerungen von Bamf-Chefin Jutta Cordt. Sie wird nicht müde zu betonen, wie wichtig die Qualifizierung der Mitarbeiter sei. Der Umgang mit Jonas Groß widerspricht aber auch der Verpflichtung des Bundesinnenministeriums und seiner nachgeordneten Behörden, zu denen das Bamf gehört. Sie sind gehalten, schwerbehinderte Mitarbeiter "besonders zu fördern". Das steht im Sozialgesetzbuch und in der "Rahmenintegrationsvereinbarung" des Hauses von Horst Seehofer: Schwerbehinderte haben demnach sogar einen "Anspruch auf Besserstellung gegenüber nicht behinderten Beschäftigten durch bevorzugte Berücksichtigung bei Aus- und Fortbildungsmaßnahmen". Und bei Jonas Groß? Eine Bamf-Sprecherin erklärt, dass alle aktuell in München arbeitenden Entscheider eine Schulung absolviert hätten - dazu gehört Groß aber nicht. Generell, so die Sprecherin, seien alle neuen Mitarbeiter "auf ihre jeweilige Tätigkeit vorbereitet" und "qualifiziert worden". Auch Jonas Groß? Dazu äußert sich das Bamf nicht, weil das Verfahren laufe. Vor Gericht widerspricht das Amt nicht Groß' Darstellung, bei der Schulung übergangen worden zu sein.

Arbeitsgericht Nürnberg, Saal 329. Man einigt sich doch noch auf einen Vergleich. Er sieht vor, den Streit auszufechten und Groß eine Stelle freizuhalten, falls er obsiegt, was Jahre dauern kann. Jonas Groß ist jetzt wieder arbeitslos. Und im Bamf sind gerade viele Mitarbeiter damit beschäftigt, die neuen Kollegen einzuarbeiten, die gerade befristet eingestellt werden. Jonas Groß ist letztlich wegen einer hundertstel Note gescheitert. Es drängt sich die Frage auf, ob dieser Mann, wäre er wie gesetzlich vorgeschrieben geschult worden, nicht zumindest um dieses eine Hundertstel besser abgeschnitten hätte? Das Bamf kommentiert auch das nicht.

Warum Jonas Groß keine Schulung erhielt, lässt sich in einer E-Mail an ihn vom Oktober 2016 nachlesen. Die Chefin seiner Außenstelle hatte entschieden, "dass angesichts des hohen bis Jahresende noch zu bewältigenden Arbeitspensums es nicht möglich ist, dass wir noch in diesem Jahr unsere besten Kräfte, zu denen Herr Groß mit zählt, für drei Wochen auf Schulung zu schicken". In der Mail steht auch das: "Herzlichen Dank für Ihren großen Einsatz und die gute Leistung!"

© SZ vom 03.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: