Außenansicht:Ich stelle mir die CDU anders vor

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Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit sind die Grundwerte der CDU. Grundwerte sind keine Dekoration, sondern Maßstäbe. Sie ersetzen zwar nicht die Sachkenntnis, aber die Sachlösungen müssen sich daran messen lassen - auch die Vorschläge der Herzog-Kommission, für die die Parteivorsitzende Angela Merkel wirbt. Das Ergebnis dieser Messung ist bestürzend und traurig.

Von Norbert Blüm

(SZ vom 08.10.2003) - Die Kopfprämie schert alle über einen Kamm. Sie ist rücksichtslos gegenüber unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten. Gerechtigkeit ist ein Prinzip der Differenzierung. Die Kopfprämie ist ein Nivellierungsinstrument. Sie ist weder gerecht noch solidarisch. Die Kopfprämien von 264 Euro in der Krankenversicherung und von 66 Euro in der Pflegeversicherung sind der Gipfel der Gleichmacherei. Was bleibt von einer Rente in Höhe von 1000 Euro noch übrig? Hinzu kommt, dass die Zahnbehandlung aus dem Leistungskatalog der Krankenversicherung gestrichen werden soll. Für mehr Beitrag also weniger Leistung. Wo ist die Entlastung?

Die Gleichmacherei der Kopfprämie soll durch steuerliche Zuschüsse für Bezieher kleinerer Einkommen sozial erträglich gemacht werden. Hinzu kommen Steuerzuschüsse für die Rentenversicherung. Das ist das Gegenteil von Subventionsabbau, den die CDU auf ihre Fahnen geschrieben hat. Was gilt jetzt? Subventionsabbau oder höhere Staatszuschüsse für Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung? Auf zwei Hochzeiten kann man nicht tanzen. Wenn zudem noch die Spitzensteuersätze gesenkt werden, ist das Ganze weitgehend eine Umverteilung von der rechten in die linke Hosentasche. Die Begünstigten zahlen also ihre Begünstigung selber.

Beim Wettbewerb ist die CDU immer ganz laut

Die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung, also die Übernahme der Kosten zu gleichen Teilen durch die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmerseite, ist nicht lediglich eine Finanzierungsregel, sondern entspricht dem Prinzip gemeinsamer Verantwortung. Jetzt will die CDU den Anfang des Ausstiegs organisieren. Der Arbeitgeberbeitrag soll in der Krankenversicherung festgeschrieben und festgefroren werden. Für Kosten- und Beitragssteigerung sind dann nur noch die Arbeitnehmer zuständig. Die Arbeitgeberverbände verabschieden sich also aus der Kostendämpfung. Sie müssen sich fortan zum Beispiel nicht mehr mit ihrem Mitglied, der Pharmaindustrie, herumschlagen, welches die Kosten in die Höhe treibt. Mitreden ja, Mitverantwortung nein. Diese Arbeitsteilung geht nicht. Das ist Rosinen pickerei.

Beim Wettbewerb ist die CDU immer ganz laut, wenn es um die Versicherten geht, und sie wird ganz kleinlaut, wenn es um das Kartell der Kassenärzte oder die Verkrustungen des Arzneimittelmarktes geht. So etwas nenne ich: asymmetrisch oder, übersetzt, auf einem Auge blind. Die Pharmaindustrie gibt weltweit doppelt so viel Forschungsmittel im Kampf gegen Haarausfall und Erektionsschwächen aus wie gegen Malaria, Gelbfieber und Bilharziose. Das ist marktwirtschaftlich konsequent, denn die Kunden mit Erektionsschwächen und Haarausfall haben in der Regel mehr Kaufkraft als die Malaria- und Gelbfieberkranken. Der Wettbewerb ist nötig, aber er regelt offenbar nicht alles zufrieden stellend.

Ni cht alle Standortfragen sind Kostenfragen

Die Folgen des Bevölkerungsrückgangs für die Sozialversicherung soll per Kapitaldeckung aufgefangen werden. Wieso Kapitaldeckung sicherer sein soll, hat mir noch niemand erklären können. Wohnungen verlieren an Wert, wenn es morgen weniger Mieter gibt, weil heute weniger Kinder geboren werden. Eine Maschine ist nur so viel wert, wie sie genutzt wird. Wie sicher eine Aktie ist, kann jeder erfahren, der entweder eine Aktie besitzt oder den Wirtschaftsteil einer Zeitung liest. Die Mindestverzinsung zum Beispiel der Lebensversicherung wird ständig abgebaut. Die Arbeit bleibt die Quelle des Sozialstaates, egal, wie er organisiert ist. Die Arbeit ist in der Wissens- und Informationsgesellschaft die modernste Vermögensform. Innovation, Information und Initiative werden tendenziell wichtiger als Kapital.

Arbeitslosigkeit ist die größte Bedrohung des Sozialstaates, und die Sozialpolitik kann die finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit auch durch Sparen nicht aus der Welt schaffen. Nicht alle Standortfragen sind Kostenfragen. Die Defizite unserer Bildungspolitik sind nicht sozialpolitischer Natur - und das technologische Desaster bei der Maut-Einführung auch nicht sozialpolitischer Herkunft. Die Sozialpolitik muss ihren Beitrag leisten, aber sie kann nicht alle Beschäftigungsfragen schultern. Selbst wenn die Sozialpolitik ganz vom Faktor Arbeit abgekoppelt würde, müsste sie bezahlt werden. Und die Hauptquelle des Einkommens bleibt die Arbeit. Andernfalls müssten wir uns von der Leistungsgerechtigkeit verabschieden.

Ich kann mir Freiheit ohne Gerechtigkeit vorstellen

Immer, wenn Angela Merkel zu philosophieren beginnt, wird es originell. "Der Kern der Gerechtigkeit ist Verlässlichkeit", sagt sie. Seit Jahrhunderten gilt als Kernsatz der Gerechtigkeit: "Jedem das Seine". Die Gerechtigkeit ist noch nicht durch Verlässlichkeit erfüllt. Auch ein Verbrecher oder ein Unterdrückungsstaat kann verlässlich sein. Gerecht ist er deshalb noch lange nicht.

Gerechtigkeit verlangt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Die Kopfprämie ist eine Variante der Nivellierung und deshalb ungerecht. "Ohne Freiheit ist alles nichts", philosophiert Angela Merkel. Ich kann mir Freiheit ohne Gerechtigkeit vorstellen. Wenn jeder macht, was er will, funktioniert Freiheit ohne Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ohne Freiheit kann ich mir unter keinen Bedingungen vorstellen. Denn sie wäre Unterdrückung, und diese widerspricht überall und jederzeit der Gerechtigkeit.

Wenn Merz vom Bruch mit meiner Sozialpolitik spricht, überschätzt er mich

Dass Angela Merkel die Pflegeversicherung als "gut gemeint, aber nicht gut gemacht" im Vorbeigehen abtut, ist ein salopper Snobismus. Erst mit der Pflegeversicherung entstand ein fast flächendeckendes Netz von ambulanten Pflegediensten. Pflegende erhielten endlich einen Rentenanspruch. Viele Pflegebedürftige in Heimen wurden aus der Sozialhilfe herausgeholt. Frau Merkel weiß, wie es in den Pflegeheimen der DDR aussah, und wie viel inzwischen verbessert wurde. Mit Kapitaldeckung hätten wir so schnell die Veränderung zum Besseren nicht geschafft. Und wir hätten nicht vier Millionen Rentner aus der DDR über Nacht in das Umlagesystem eingegliedert. Wir hätten erst jahrelang Kapital ansparen müssen, bevor wir das erste Geld hätten ausgeben können. Über all dies und vieles andere geht Angela Merkel salopp hinweg.

Die CDU, für die ich eintrete, stelle ich mir anders vor. Wenn Friedrich Merz von einem Bruch mit der Blümschen Sozialpolitik spricht, überschätzt er mich. Es ist die Sozialpolitik von Adenauer, Erhard und Kohl. Viel wurde über diese Politik gestritten, besonders mit den Sozialdemokraten in der Regierungszeit von Helmut Kohl. Über ihre Grundlagen aber bestand Einvernehmen. Das war gut so. Das ist jetzt nicht mehr so. Private Vorsorge ist eine wichtige Ergänzung der solidarischen Sicherheit. Ersetzen kann sie die Sozialversicherung aber nicht.

Norbert Blüm war in der Ära Kohl Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

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