Arbeitsmigration:Ein Heim ohne Helferinnen

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Zehntausende polnische Pflegekräfte wandern aus - mit drastischen Folgen für die Kliniken, Altenheime, aber auch für die zurückgeblienenen Familien.

Von Florian Hassel, Warschau

Iwona Szczepaniak erwartete keine besonderen Probleme, als sie vor fünf Jahren das private Altersheim "Opoka" - auf Deutsch "der Fels" - eröffnete. Szczepaniak hatte gut ein Jahrzehnt Erfahrung in der Altenpflege und kannte als Betriebswirtin auch die wirtschaftliche Seite. Und das ruhige Haus und die idyllische Lage mit großem Garten und Obstbäumen vor den Toren von Warschau stimmten Szczepaniak zuversichtlich.

"Ich wollte Menschen ein Heim mit Herz anbieten, in dem Platz für den persönlichen Umgang bleibt", sagt sie. Tatsächlich waren die 25 Plätze im Opoka schnell belegt. Bald aber gab es ein Problem: die Betreuerinnen für die Senioren. "Als ich eröffnete, war es nicht schwer, polnische Arbeitskräfte zu finden", sagt Szczepaniak. "Heute ist es praktisch unmöglich."

Während ein Altenheimplatz in Deutschland leicht 3000 Euro im Monat kostet, berechnet Iwona Szczepaniak für das teuerste Einzelzimmer umgerechnet 859 Euro im Monat. Altenpfleger und Krankenschwestern sind in Polen vor allem Frauen. Auch nach fast drei Jahrzehnten wirtschaftlicher Aufholjagd liegen polnische Gehälter umgerechnet durchschnittlich gerade bei knapp 1000 Euro. Eine Krankenschwester verdient noch weniger, frisch examiniert gerade 600 Euro - vor Steuern und Abzügen.

Szczepaniak zahlt ihren Pflegerinnen netto knapp 2,50 Euro Stundenlohn. "Meine letzten polnischen Fachkräfte waren gleich zu Beginn des Heims die Krankenschwestern Karolina und Agata", erzählt die Heimgründerin. "Sie hatten ihr Examen frisch in der Tasche, haben bei mir etwas Geld verdient und nebenher Deutsch gelernt. Sobald sie es einigermaßen konnten, zogen sie nach Deutschland."

Dort sind Polinnen in Krankenhäusern, Altenheimen und als private Pflegekräfte gern gesehen - erst recht, seit das Land 2004 der EU beitrat und Polen seit Mai 2011 auch in Deutschland keine Arbeitserlaubnis mehr brauchen. Seit dem EU-Beitritt sind Tausende polnische Ärzte ausgewandert, etwa nach Deutschland, England oder Schweden, dazu polnischen Schwesternvertretungen zufolge 20 000 Krankenschwestern. Tendenz: ungebrochen.

Zu Ärzten und Krankenschwestern kommen allein in Deutschland Zehntausende polnische Altenpflegerinnen, in Heimen oder deutschen Familien. Das Statistische Bundesamt schätzte die Zahl polnischer Pflegekräfte schon für 2013 auf 76 000 - heute dürften es Zehntausende mehr sein. Das Gleiche gilt etwa für Rumänen, die zweitgrößte Gruppe ausländischer Gesundheitskräfte in Deutschland.

Die Folgen in ihren Heimatländern sind dramatisch. Zehntausende Kinder wachsen ohne ihre Mütter auf, Altenheime und Krankenhäuser finden kaum noch Personal. Selbst in Polen, dem wirtschaftlichen Musterknaben Zentral- und Osteuropas, ist es nicht anders. Warschau investiert seit Jahrzehnten zu wenig in die Gesundheit. EU-Länder geben dafür im Schnitt zehn Prozent ihrer Wirtschaftsleistung aus - Polen nur gut sechs Prozent, so die OECD. Schon 2015 kamen auf 1000 Polen statistisch nur 2,3 Ärzte und 5,2 Krankenschwestern - einer der niedrigsten Werte der EU. Seitdem hat sich die Lage weiter verschlechtert.

Eine polnische Krankenschwester ist heute im Durchschnitt 51 Jahre alt, von 280 000 Krankenschwestern stehen etwa 55 000 kurz vor der Rente. Circa ein Drittel der jährlich etwa 4500 frisch examinierten Krankenschwestern werden Verkäuferin, Kosmetikerin, gehen in die Pharmaindustrie - oder ins Ausland. Deutsche Personaldienstleister werben um Polinnen als Altenpflegerin oder Krankenschwester mit Nettogehältern von 1300 bis 2200 Euro.

Zehntausende Kinder wachsen ohne ihre Mütter auf, Kliniken finden kaum noch Personal

Anfang 2018 sagte Piotr Burczyński, Herzchirurg am Warschauer Kinderkrankenhaus, in der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, er habe im OP zwar modernste Geräte - aber nicht genug Krankenschwestern, um alle Operationen schnell auszuführen. In ganz Polen fehlten 100 000 Krankenschwestern, schätzte Burczyński. Seinerseits ausländische Krankenschwestern anzuwerben, sieht Polen bisher nicht als Ausweg: Schwesternverbänden zufolge kommen gerade 170 Krankenschwestern aus dem Ausland. Auch Heimleiterin Iwona Szczepaniak beschäftigt eine ukrainische Krankenschwester als Altenpflegerin - ihr Abschluss wird in Polen nicht anerkannt.

Nur noch eine Pflegerin im Opoka ist Polin. "Sie ist exzellent, aber wohl nur bei mir, weil sie keine formelle Ausbildung hat und schon 49 Jahre alt ist", sagt Szczepaniak. Die anderen vier Pflegerinnen sind Ukrainerinnen: Zwei sprechen Russisch und flohen vor Moskaus Besetzung der Krim, zwei kommen aus der westlichen Ukraine. Ukrainerinnen für die Pflege in Polen zu finden ist durch Agenturen kein Problem; erst Anfang Mai hat eine neue Ukrainerin bei Szczepaniak angefangen. "Viele sehen in ihrem eigenen Land keine Zukunft. Manchmal denke ich, dass die gesamte Ukraine in Polen arbeiten will."

Alle Pflegerinnen müssen Polnisch lernen. "Das klappt gewöhnlich sehr schnell", sagt Szczepaniak. Sie selbst versteht noch Russisch, ein Überbleibsel aus dem Schulunterricht im kommunistischen Polen. Auch manche Senioren im Opoka erinnern sich wieder an ihr Schulrussisch, wenn sie mit den Pflegern sprechen. Der menschliche Umgang sei kein Problem, wohl aber die oft zu erneuernden Arbeitsgenehmigungen. Denn nur wenige Ukrainerinnen bleiben ständig im Opoka. "Die meisten haben in ihrer Heimat ja Familie und kehren wieder dorthin zurück", sagt Szczepaniak.

© SZ vom 28.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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