Arbeitsgruppe gefordert:Sie leiden mit den Eltern

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2,65 Millionen Kinder leben laut Bundesregierung bei suchtbelasteten Eltern (hier eine Beratungsstelle in München) und bräuchten daher auch Hilfe. (Foto: Stephan Rumpf)

Koalition und Grüne wollen Kinder psychisch kranker, etwa alkoholabhängiger Eltern unterstützen.

Von Kristiana Ludwig, Hamburg

Am Abend wurde es für Natalie meist anstrengend. Dann musste sie ihre Mutter ins Bett bringen. Wenn die Sonne unterging, hatte die oft einen Pegel erreicht, der sie traurig machte oder sehr wütend. Natalie verbot ihr zu dieser Uhrzeit das Autofahren. Die Mutter drückte sie dafür mit aller Kraft zu Boden - um gleich darauf in Tränen auszubrechen. Natalie redete ihr gut zu, selbst wenn die eigene Lippe noch blutete. Die Polizisten, die manchmal an der Haustür klingelten, wies sie ab. "Ein Unfall", sagte sie zu ihnen. Sie war zehn Jahre alt. Man könne rechtlich gegen die Mutter vorgehen, erklärten die Beamten dem Mädchen. Natalie sagte: "Es war meine eigene Schuld." Das fühlte sich nicht einmal wie eine Lüge an.

Natalie ist mittlerweile 18 Jahre alt, sie heißt in Wahrheit anders und lebt seit fünf Jahren in einem Hamburger Jugendheim. Seit drei Jahren spricht sie mit einer Psychologin, doch schuldig fühlt sie sich noch immer. Die Beschimpfungen ihrer Mutter lassen sie bis heute an sich zweifeln.

Kinder, die bei Eltern aufwachsen, die von Alkohol oder Drogen abhängig sind oder an einer psychischen Krankheit leiden, sind besonders gefährdet, in ihrem späteren Leben selbst krank zu werden. Im Entwurf eines gemeinsamen Antrags der Regierungskoalition und der Grünen, den der Bundestag am Donnerstag beschließen soll und welcher der Süddeutschen Zeitung vorliegt, sprechen die Fraktionen von einem Risiko, das drei bis vier Mal höher ist als bei Kindern gesunder Eltern. Denn neben genetischen Faktoren seien die Lebensbedingungen in diesen Familien oft schwieriger. Experten gingen davon aus, dass jedes vierte Kind in Deutschland - und somit schätzungsweise drei bis vier Millionen Kinder - "einen vorübergehend oder dauerhaft psychisch erkrankten Elternteil hat", heißt es in dem Antrag. Dem Suchtbericht der Bundesregierung zufolge leben 2,65 Millionen Kinder bei suchtbelasteten Eltern. Der überwiegende Teil von ihnen trinkt Alkohol.

Doch trotz ihrer hohen Zahl bekommen viele dieser Kinder zu wenig Unterstützung, um mit der Belastung in ihrer Familie umzugehen. Solange sie selbst nicht auffällig werden, bekommen sie kaum vorbeugende Hilfe. Die Fraktionen wollen deshalb eine Arbeitsgruppe aus Mitarbeitern der Ministerien für Gesundheit, Soziales und Familien einrichten, die bis Juli 2018 "Regelungslücken" aufdecken soll. Nicht nur die unterschiedlichen Ministerinnen und Minister, sondern auch Bundesländer und Kommunen sollen demnach in Zukunft besser kooperieren.

Mediziner und Lehrer müssten besser aufgeklärt werden, heißt es in dem Antrag

Die Betroffenen seien zum Beispiel oft nicht in der Lage, selbst um Hilfe zu bitten. Deshalb müssten "aufsuchende Hilfen" geschaffen werden, also unaufgeforderte Hausbesuche von Sozialarbeitern oder Ärzten stattfinden. Die Bevölkerung, besonders aber Mediziner und Lehrer, müssten besser über die Situation dieser Kinder aufgeklärt werden, heißt es in dem Antrag weiter, damit "eine Enttabuisierung in Gang gesetzt wird".

An der Hamburger Gesamtschule, die Natalie besucht, haben die Schüler vor Kurzem mit ihrer Kunstlehrerin einen Film gedreht. Das Drehbuch handelt von einem jungen Mädchen, das sich um seine Geschwister kümmern muss, weil die Mutter ihre Tage im Delirium auf dem Sofa verbringt. Mit ausdruckslosem Gesicht läuft die Hauptdarstellerin durch die Klassenzimmer. Mal schläft sie am Tisch ein, weil sie nachts die Schwester trösten musste. Mal schlägt sie eine Mitschülerin nieder. "Glück ist eine Illusion" heißt der Streifen. Die Grundlage dafür sei ihre eigene Geschichte gewesen, sagt Natalie.

In einer Einstellung sitzt die junge Schauspielerin einer Vertrauenslehrerin gegenüber. Es ist ein Kennenlernen. "Ich möchte nichts über mich erzählen", sagt die Film-Natalie so sachlich und kühl wie eine Erwachsene: "Ich möchte gerne wieder in den Unterricht." Die Lehrerin lässt sie ziehen.

"Unser Hilfesystem ist traditionell allein auf die suchtkranken Eltern ausgerichtet", sagt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU). Für die Kosten für deren Kinder fühle sich aber keiner richtig zuständig. An diesem Montag wird Mortler auf einer Tagung in Berlin mit Fachleuten und Betroffenen über die Probleme in Suchtfamilien beraten. Hier werden Wissenschaftler etwa Projekte vorstellen, in denen Kinder üben können, mit ihrem Stress umzugehen und Vertrauen aufzubauen. Oder durch die sie begreifen sollen, dass sie für die Sucht der Eltern keine Schuld trifft.

© SZ vom 19.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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