Antonio Tabucchi:Was wird aus Italien?

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Offener Brief von Antonio Tabucchi an Präsident Carlo Azeglio Ciampi. Der italienische Romancier, der an der Universität Genua Portugiesische Literatur lehrt, wurde bei uns vor allem durch seinen Roman "Erklärt Pereira" bekannt. Zuletzt erschien von ihm auf deutsch "Das Umkehrspiel. Geschichten". (Deutsch von Olga Anders)

Sehr verehrter Herr Präsident,

"Bologna vergisst nicht" - Gedenken an den Anschlag auf den Bahnhof von Bologna, bei dem 85 Menschen starben. (Foto: Archiv)

Vor einigen Wochen hat der italienische Schauspieler Daniele Luttazzi in einer Fernsehsendung anlässlich der Präsentation eines seriösen Sachbuchs über Silvio Berlusconi, das seit Monaten im Handel ist und weder von Berlusconi selbst noch von irgendjemandem sonst beanstandet wurde, zu einem Journalisten diesen Satz geäußert: "Ich bewundere deinen Mut in diesem Scheiß- Italien."

Für den Satz erntete Luttazzi heftige Vorwürfe von gewissen Politikern, von den Präsidenten der Abgeordnetenkammer und des Senats (und, wenn man den Zeitungen glauben darf, auch einen Tadel von Ihnen); vor allem aber wurde er wegen Beleidigung der italienischen Nation angezeigt.

Und zwar nicht von irgendwelchen italienischen Staatsbürgern, die sich in ihrer Würde gekränkt sahen, sondern von einem italienischen Oberstaatsanwalt.

Dieser Schritt war logisch: Denn es liegt auf der Hand, dass Luttazzi mit seinem Satz nicht die Italiener meinte, sondern die Institutionen, auf die sich unser Land gründet.

Hätte während des Franco-Regimes ein Spanier gesagt: "Dieses Scheiß-Spanien", so hätte er ganz offensichtlich nicht das spanische Volk in seiner Gesamtheit gemeint, sondern das Regime, das dieses Volk ertragen musste. Hätte ein jugoslawischer Bürger "Dieses Scheiß-Jugoslawien" gesagt, als Milosevic an der Macht war, hätte er nicht seine Mitbürger gemeint, sondern eben das Milosevic-Regime.

Wenn Sie sich in einer offiziellen Ansprache an die Republik Italien wenden, sprechen Sie nicht zur Nation, sondern zum italienischen Volk, in demselben Sinne, wie ein Richter sein Urteil "im Namen des italienischen Volkes" verkündet.

Was ist der Grund für meinen Brief? Es ist meine Analyse unserer Nation, das heißt: der Institutionen und Regierungen, die das italienische Volk beherrscht haben und beherrschen. Aus dem Abstand von 55 Jahren könnte man sagen: Italien ist eine Republik, die sich auf Massaker gründet.

Das erste Massaker war das von Portella delle Ginestre, begangen 1947 von dem Banditen Giuliano, der die reaktionären Interessen der sizilianischen Großgrundbesitzer und Separatisten verteidigte.

Giuliano wurde jedoch von seinem Vetter und Stellvertreter Gaspare Pisciotta getötet, der die Namen von Mitwissern hätte verraten können - nur dass er seinerseits im Gefängnis vergiftet wurde und die Mitwisser unbekannt blieben. Es handelte sich also unverkennbar um ein italienisches Gefängnis.

Ich übergehe der Kürze halber gewisse besorgniserregende "Unregelmäßigkeiten", die sich in der Zwischenzeit ereigneten, wie etwa die Staatsstreiche, welche von couragierten Journalisten, nicht von den Behörden verhindert (oder aufgedeckt) wurden, und komme zu einem Massaker, das den Auftakt zu einer Serie von Schändlichkeiten bildete, die gegen Italiener begangen wurden: zu dem Bombenanschlag auf die Banca d'Agricoltura in Mailand am 12. Dezember 1969.

Die wahren Verantwortlichen sind bis zum heutigen Tag unbehelligt geblieben. Viele von ihnen sind untergetaucht oder ins Ausland geflüchtet.

General Maletti, ein wichtiger Geheimdienstmann zur damaligen Zeit, der dank der Zusicherung freien Geleits aus Südafrika zurückgekommen ist, wohin er geflüchtet war, hat - ohne Namen zu nennen - enthüllt, dass unsere Geheimdienste in Zusammenarbeit mit einem fremden Land in diese mörderische Operation verwickelt waren.

Das Folgende ist eine Litanei, die wir alle herbeten können. Als erster Bürger unseres Landes sind Sie, Herr Staatspräsident, besser auf dem Laufenden als irgendjemand sonst: das Massaker auf der Piazza della Loggia in Brescia; der Bombenanschlag auf den Eisenbahnzug "Italicus"; das Massaker im Bahnhof von Bologna; das Massaker von Ustica.

Ferner: der ungeklärte Tod Enrico Matteis; die Entführung und Ermordung Aldo Moros; Gladio; die Geheimloge P 2; der Zusammenbruch des Banco Ambrosiano und die Ermordung von Rechtsanwalt Ambrosoli; die Vergiftung Sindonas (ebenfalls in einem italienischen Gefängnis); die Massaker von Capaci und in der Via D'Amelio; Falcone und Borsellino; private und öffentliche Korruption: Tangentopoli, das heißt Schmiergelder auf der ganzen Linie.

Sie wissen, Herr Staatspräsident, dass Italien einen kleinen extra-territorialen Staat in seiner Mitte beherbergt, den Vatikan. Allerdings scheint mir, dass es in Wirklichkeit der Vatikan ist, der uns beherbergt: Nimmt er sich doch heraus, das öffentliche und politische Leben Italiens auf Schritt und Tritt zu reglementieren.

Das geht so weit, dass vor jeder Wahl die Vertreter unserer Parteien (die immerhin von Ihnen, Herr Staatspräsident, ins Parlament berufen worden sind) den Rat eines Kardinals einholen.

Wie Sie wissen, arbeitet in den letzten Jahren eine konzertierte Aktion von Exkommunisten und Rechten auf eine Änderung unserer Verfassung hin, und Herr Berlusconi hat versprochen, sie ins Werk zu setzen, sollte er an die Macht kommen.

Jetzt frage ich Sie: Glauben Sie nicht, dass es angemessener wäre, die Lateranverträge zwischen Kirche und Staat zu kündigen, die von Mussolini geschlossen und von einem Ministerpräsidenten, nämlich Bettino Craxi, bestätigt wurden, der später wegen Korruption verurteilt wurde und auf der Flucht vor seiner Strafe im Ausland starb?

Ist Ihnen bekannt, dass Italien das einzige Land in der Europäischen Union ist, das derartige - einem laizistischen Staat völlig unangemessene - Verträge mit dem Vatikan abgeschlossen hat?

Etwas Dunkles, Mörderisches

Und wenn man sich über Herrn Luttazzi aufregt oder ihn anzeigt, weil er den bewussten Satz gesagt hat: warum zeigt man dann nicht einen Vertreter unserer Institutionen an, der öffentlich behauptet, die jungen Leute von Salò (Mussolinis kurzlebige, von den Nationalsozialisten abhängige Republik - Anm. der Redaktion) hätten auch ihre Ideale gehabt?

Natürlich hatten sie die: Es waren dieselben Ideale von Blut und Tod wie die ihrer deutschen Lehrmeister. Gibt es nicht einen Artikel in unserem Gesetz, der die "Verherrlichung von Verbrechen" unter Strafe stellt?

Wie Sie wissen, Herr Staatspräsident, sitzen in unserem Parlament Personen, die sehr schwerer Verbrechen beschuldigt werden. Sie werden jedoch nie an die Justiz ausgeliefert, weil sie sich einer wunderbaren Sache erfreuen: der "parlamentarischen Immunität".

Wozu diese Immunität, frage ich Sie? Sind Abgeordnete bessere Staatsbürger als die anderen? Finden Sie als oberster Vertreter der Staatsgewalt es in Ordnung, dass ein Abgeordneter der Republik unsere Richter im Fernsehen als "Schweinepriester" diffamieren darf, ohne noch während der Sendung verhaftet zu werden?

Warum gibt es in Italien als einzigem Land der Europäischen Union die Rechtsfigur des "Bußfertigen"? Und warum wird von dieser Rechtsfigur ein so willkürlicher Gebrauch gemacht, dass ein einziger "Bußfertiger" ausreicht, um in Ermangelung reeller Beweise drei Menschen für zweiundzwanzig Jahre hinter Gitter zu schicken, während Dutzende von anderen "Bußfertigen" in derselben Situation keinerlei Glaubwürdigkeit genießen? Was hat das zu bedeuten? Sind manche "Bußfertigen" besser als andere?

Wie Sie wissen, hat der frühere Oberstaatsanwalt von Palermo, Giancarlo Caselli, der in seinem Ermittlungseifer gebremst und nach Brüssel weggelobt wurde, damit er nicht noch mehr Schaden anrichten konnte, vor kurzem ein Buch veröffentlicht, worin er mit bitteren Worten die Kollusion zwischen mafiöser Macht und politischer Macht beklagt und sämtliche Hindernisse aufzählt, die ihm bei dem Versuch, den Knoten zu entwirren, in den Weg gelegt wurden.

Ein Italien, das sich gegenüber einem treuen Diener des Staates so schäbig verhalten hat - ist das für Sie "la bella Italia", Herr Staatspräsident?

Finden Sie es richtiger, dass in einer parlamentarischen Demokratie des Westens, nicht in irgendeiner südamerikanischen Bananenrepublik, ein Mann sich für das öffentliche Interesse stark machen und womöglich Ministerpräsident werden kann, dem Zeitschriften, Verlage und diverse Fernsehanstalten gehören? Scheint Ihnen nicht auch, dass Italien in einem solchen Falle definitiv mundtot gemacht würde? Finden Sie nicht, dass ein derartiges Übermaß an Macht der Anfang eines neuartigen Totalitarismus wäre?

Finden Sie es normal, dass ein kleiner Schlagersänger von heute auf morgen einer der reichsten Männer der Welt wird? Finden Sie es legitim oder nicht legitim, dass die Italiener wissen wollen, wie dieser Mann zu seinem Vermögen gekommen ist?

Bedenken Sie auch dies: Während die Zeitschrift Micromega eine ausführliche Fassung dieses Briefes bringt, haben zwei große italienische Tageszeitungen den Abdruck verweigert.

Unser Land ist das einzige in der ganzen europäischen Gemeinschaft, das sich eine Kommission mit dem Namen "Massakerkommission" leistet - ein gruseliger Name, bei dem jeder Franzose oder Engländer eine Gänsehaut bekäme. Wir allein haben uns ein dickes Fell zugelegt, weil wir mit den Massakern haben leben müssen.

Herr Staatspräsident, das Italien, das ich Ihnen beschrieben habe - in den zornigen Worten Dantes "non Donna di provincie, ma bordello" -, das ist das Italien, das Luttazzi gemeint hat, das Italien, das wir nicht wollen und für das der Ausdruck "Scheiß-Italien" noch ein Euphemismus ist. Denn dieses Italien hat etwas Dunkles, Krankes, Mörderisches an sich.

Ihre Vergangenheit, Herr Staatspräsident, gereicht Ihnen zur Ehre. Sie haben für Demokratie und Freiheit gekämpft. Ich vertraue Ihnen.

Ich hoffe, dass Sie nicht Anstoß nehmen an den Worten eines Komödianten (und was mehr ist: eines Bürgers), der einer Empfindung Ausdruck gibt, welche sich im Laufe der Jahre auf hunderterlei Weise Luft gemacht hat - in Demonstrationen, Umzügen, Versammlungen, Büchern, Filmen, Theateraufführungen -, und dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun werden, damit die Fragezeichen in meinem Text verschwinden. Und damit die Italiener Licht in die schwarzen Löcher bringen können, die unsere jüngste Geschichte verdunkeln.

Mit freundlichen Grüßen,

Antonio Tabucchi

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