António Guterres:"Chaotische Welt"

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Der neue UN-Generalsekretär übernimmt das Amt in stürmischen Zeiten. Guterres will wieder Schritte in Richtung einer friedlichen Ordnung ermöglichen. Doch hat er die nötigen Partner?

Interview von Gilles Paris, Julian Borger, Paolo Mastrolilli und MATTHIAS KOLB

SZ: Sie haben es gleich zu Amtsantritt mit zwei großen Krisen zu tun: Syrien und Jemen. Glauben Sie daran, dass dort Fortschritte möglich sind?

Guterres: Wir müssen engagiert sein, wir müssen alles tun, was möglich ist, weil diese beiden Konflikte nicht nur beiden Bevölkerungen extremes Leid zufügen, sondern sich auch destabilisierend auf die Region auswirken. Es war kein Zufall, dass Mossul vom IS eingenommen wurde, der aus Raqqa in Syrien gekommen ist. Es gibt auch keinen Zweifel daran, dass das destabilisierende Potenzial dieser Konflikte - vor allem Syrien - inzwischen Quelle einer neuen, globalen Form des Terrorismus ist.

Was muss jetzt geschehen?

Es ist sowohl im Interesse der Konfliktparteien als auch der Parteien, die einen Einfluss ausüben auf die Konfliktparteien, zusammenzutreffen. Egal wie groß die Widersprüche, Interessen, Visionen sind: Es gibt ein gemeinsames Interesse, das wichtiger ist als alles andere: die globale Sicherheit zu wahren. Meine Hoffnung ist, dass die zentralen Länder, die direkten oder indirekten Einfluss in solchen Konfliktsituationen ausüben können, in der Lage sind, zu kooperieren und Bedingungen zu schaffen, solche Konflikte zu beenden. In Jemen hatten wir jüngst eine Roadmap, die aber leider nicht dazu geführt hat, dass die Feindseligkeiten aufhören, aber ich denke, wir müssen darauf bestehen und neue Wege finden, um voranzukommen. Für mich persönlich ist es schmerzvoll zu sehen, wie die Bevölkerungen leiden. Alles was ich tun kann, um zu helfen, damit diese Konflikte gelöst werden, empfinde ich als meine moralische Verpflichtung.

Am Wochenende diskutieren Staats- und Regierungschefs in München auf der Sicherheitskonferenz. Was erwarten Sie sich davon?

Wir leben in einer Welt, in der wir eine Vervielfachung neuer Konflikte erleben. Gleichzeitig scheinen alte Konflikte wie Afghanistan und Somalia nicht aufzuhören, um nur zwei Beispiele zu nennen. Es ist keine polare Welt, es ist keine bipolare Welt, es ist noch nicht eine multipolare Welt, es ist in vielerlei Hinsicht eine chaotische Welt. Und nicht nur die Konflikte greifen mehr und mehr ineinander. Daher halte ich es für wichtig, die internationale Zusammenarbeit zu verstärken, um den Herausforderungen zu begegnen, die präventive Diplomatie zu stärken und die Fähigkeiten internationaler Gemeinschaften innerhalb von Organisationen.

Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: Dimitrov)

Was ist erforderlich?

Es ist ein neuer Ansatz zur Entwicklungs-Kooperation nötig, ein neuer Ansatz zur Prävention, und ich glaube, dass die Länder zusammenkommen müssen, Organisationen wie die UN zusammenkommen müssen, um ernsthaft über die aktuellen Herausforderungen zu reflektieren. Die Welt hat sich geändert, die Welt ist gefährlicher geworden, und wir brauchen einen umfassenden Ansatz, um mit den globalen Problemen umzugehen. Ein multilateraler Ansatz ist heutzutage wichtiger denn je.

Sie beschreiben eine chaotischere Welt, die weder unipolar noch multipolar ist. Glauben Sie, dass wir am Ende einer Epoche stehen, am Ende der liberalen Ordnung?

Je chaotischer eine Situation ist, desto mehr politische Initiative ist gefragt. Ich sehe den Generalsekretär der Vereinten Nationen nicht als den Protagonisten beim Lösen der Probleme, aber ich sehe ihn als einen Brückenbauer, einen Einberufer, einen ehrlichen Makler, um Lösungen zu finden. Wir bewegen uns in dieser relativ chaotischen Situation in Richtung einer multipolaren Welt. Manche Leute glauben, dass eine multipolare Welt die Lösung für die Probleme sein wird. Aber meiner Meinung nach ist die multipolare Welt ohne starke multipolare Institutionen nicht unbedingt eine friedliche Welt. Europa war vor dem Ersten Weltkrieg multipolar, aber es gab keine multilateralen Regierungsmechanismen. Das Ergebnis war der Erste Weltkrieg. Selbst wenn Multipolarität ein Faktor für Gleichgewicht sein kann, ist es auch wahr, dass ohne ein multilaterales Regierungssystem die Gefahr einer Konfrontation erhöht sein kann.

Lassen Sie uns noch einmal auf aktuelle Probleme zu sprechen kommen: Sehen Sie eine Zukunft für Assad in Syrien?

Wir müssen sicherstellen, dass das, was in der Resolution 2254 des Sicherheitsrates und im Genf-Kommuniqué beschlossen wurde, umgesetzt wird. Und das bedeutet: ein Mechanismus des Übergangs, der die syrische Bevölkerung repräsentiert. Das wiederum heißt dann eine neue Verfassung und Neuwahlen. Ich will sicherstellen, dass dieser Prozess vorankommt.

Die neue Regierung in Washington steht dem Klimawandel sehr kritisch gegenüber. Kann der Pariser Klima-Deal Bestand haben, falls die Trump-Administration davon Abstand nimmt?

Schauen Sie sich die globalen Megatrends an - Bevölkerungswachstum, Urbanisierung, Wasser- und Nahrungsknappheit - der Klimawandel ist wahrscheinlich ein wesentlicher Beschleuniger dieser Dinge. Das Pariser Abkommen war ein wichtiger Schritt nach vorn. Es löst nicht alle Probleme, ein Ansatz mit mehr Ambitionen ist noch immer erforderlich. Die internationale Gemeinschaft sollte sicherstellen, dass das Pariser Abkommen vorankommt.

Fürchten Sie sich vor einem außenpolitischen Isolationismus der USA unter Trum p ?

Das war doch schon immer Bestand der amerikanischen Debatte, diese Diskussion über Isolationisten und Internationalisten: Das ist nicht neu. Ich denke, die amerikanische Gesellschaft wird in dieser Debatte die angemessenen Antworten finden.

Aber bereitet Ihnen ein möglicher isolationistischer Kurs Sorge?

Ich denke, die Welt braucht heute ein Amerika, das sich für die Lösung globaler Probleme einsetzt, und ich hoffe, das wird von der amerikanischen Bevölkerung und der amerikanischen Administration verstanden werden.

Glauben Sie, dass der Nuklear-Deal mit Iran fortbestehen sollte und fortbestehen kann, falls sich die US-Regierung davon zurückzieht?

Der Nuklear-Deal mit Iran war ein positiver Schritt in Richtung eines globalen Friedens, und ich hoffe, er bleibt erhalten.

Glauben Sie, die russische Präsenz auf der Krim ist für die internationale Gemeinschaft akzeptabel?

Ich glaube, dass es zentrale Prinzipien gibt und einer dieser Prinzipien ist die territoriale Integrität. Das ist immer noch gültig, und meine Hoffnung ist, dass die internationale Gemeinschaft in der Lage sein wird, diese Prinzipien aufrechtzuerhalten.

Europa durchlebt eine schwierige Phase. Was bedeutet es für Ihre Arbeit als UN-Generalsekretär, wenn Europa sich streitet, schwach ist und sich mehr um sich als um internationale Angelegenheiten kümmert?

Um eine funktionierende multilaterale Welt zu erreichen, ist die Rolle Europas absolut zentral. Ich glaube an ein vereintes Europa, das als solches in der Lage ist, in internationalen Szenarien präsent zu sein, sowohl von der politischen Perspektive als auch von der Entwicklungsperspektive aus betrachtet. Europa durchlebt offensichtlich eine komplizierte Phase. Aber meine Hoffnung als Europäer ist, dass Europa die gegenwärtige Situation bewältigen kann und dass die Europäer verstehen, dass die Probleme, mit denen sie konfrontiert werden, sich so gestalten, dass sie nicht von einzelnen Ländern gelöst werden können. Eines der größten Probleme, mit denen wir in der heutigen Welt konfrontiert werden, ist, dass politische Establishments, überall zumindest ein bisschen, das Vertrauen ihrer Öffentlichkeiten verloren haben. Zu einem gewissen Grad wurde die EU in diesem Zusammenhang zum Sündenbock gemacht.

Glauben Sie, die Menschen in Europa haben vergessen, warum das Europäische Modell einst begonnen worden ist und was es erreicht hat?

Es ist offensichtlich, dass die Globalisierung positive Effekte für den Welthandel hatte und bei der Reduzierung absoluter Armut in vielen Teilen der Welt behilflich war, nehmen Sie China als Beispiel. Die Wahrheit ist aber auch, dass die Globalisierung die Ungleichheit vergrößert hat und viele Leute zurückgelassen wurden. Schauen Sie sich die "Rostgürtel" dieser Welt an, um ein Beispiel zu nennen, das kürzlich direkt an den US-Wahlkampf geknüpft wurde. Die Wahrheit ist, dass die Menschen das Gefühl hatten, das politische Establishment kümmere sich nicht um sie, dass die politischen Führer sich mehr um Umfragen und Wahlen kümmerten, um den Kampf um ihre Macht als darum, die Ängste der Bürger ernst zu nehmen. Das hat zu einem anhaltenden Vertrauensverlust geführt.

Aber was meinen Sie damit konkret - zum Beispiel für Europa?

Ich geben Ihnen ein Beispiel aus meinem eigenen Land - Portugal. Wir haben etwa eine halbe Million Migranten in einem kleinen Land mit zehn Millionen Bewohnern. Wir haben etwa die gleiche Zahl arbeitsloser Menschen. Es wäre also einfach zu sagen: Wenn man das Problem mit der Arbeitslosigkeit lösen will, weist man einfach die Migranten aus. Aber keine populistische Partei war in Portugal jemals in der Lage, erfolgreich zu sein, weil die Mainstream-Parteien, sowohl linke als auch rechte, immer verstanden haben, dass es wichtig war, den Menschen die Wahrheit zu sagen. In diesem Fall war die Wahrheit, dass bei einer niedrigen Geburtsrate Migration ein wesentlicher Teil der Lösung ist.

© SZ vom 16.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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