Als badischer Hitlerjunge an der Front:"Ich habe noch an den Endsieg geglaubt"

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Karl-Heinz Mehler wurde, noch ein halbes Kind, keine drei Wochen vor Kriegsende als Soldat vereidigt. Rückblickend fragt er sich, was sich seine Vorgesetzten dabei eigentlich gedacht haben.

Da standen wir nun an Führers Geburtstag, am Nachmittag des 20. April 1945, im Hof einer Schule in Schonach im Schwarzwald, ein zusammengewürfelter Haufen von Jugendlichen im Alter von 15 und 16 Jahren. Außer uns, den etwa dreißig Mittelschülern aus dem Kinderlandverschickungslager Titisee der Mannheimer Mittelschule, waren Jugendliche aus der Umgebung von Donaueschingen, Villingen und Triberg eingezogen worden. "Panzervernichtungsregiment 21 - Baden der Hitlerjugend" so nannte sich unsere Einheit. Und jetzt war es soweit, wir sollten vereidigt werden.

Wir hatten einen strengen Winter hinter uns mit Einsätzen beim Schneeräumen auf der Bahnstrecke nach Bärental und Schanzarbeiten. Hunger hatten wir mitunter auch. Die Angriffe von Jagdbombern auf die naheliegende Bahnstrecke hatten wir fast täglich erlebt. Ab Mitte Februar war keine Post mehr von zuhause angekommen. Dass Mannheim am 29. März 1945 von den Amerikanern besetzt worden war, wussten wir. Aber keiner von uns wusste, ob die Eltern die letzten Bombenangriffe und die Besetzung der Stadt gut überstanden hatten.

Zu einer ärztlichen Tauglichkeitsuntersuchung hatten wir Anfang April für einige Stunden den Unterricht unterbrechen müssen. Einer der dabei ausgesondert worden war, hatte bitterlich geweint, als man ihm mitteilte, dass er nicht mit seinen Kameraden in den Krieg ziehen durfte. Ich selbst und vermutlich die meisten meiner Mitschüler waren zunächst einmal froh darüber, nun endlich das Vaterland verteidigen zu dürfen. - Am 19. Oktober 1944 war der Erlass zur Bildung des Volkssturms im Rundfunk verkündet worden. Damals hatte ich in mein Tagebuch geschrieben: "Wir hier möchten am liebsten auch an einer Stelle dem Vaterland helfen. Es wäre bestimmt besser, wir wären in einer Fabrik oder bei den Luftwaffenhelfern, als daß wir hier die Zeit vertrödeln und uns mit Französisch herumärgern."

Anfang März 1945 war ich noch zu einem Führungsnachwuchslehrgang der Hitlerjugend nach Triberg abkommandiert worden, aus dem ich mit Siegeszuversicht nach Titisee zurückgekehrt war. Vermutlich hatte ich weniger Zweifel am "Endsieg" als einige meiner Mitschüler. Denn unter dem Datum 5. April 1945 ist in meinem Tagebuch zu lesen: "Ich war soeben gerade nach dem Wehrmachtsbericht drüben in Stube 2 bei meinen früheren Stubenkameraden. Die Kerle haben schon alles aufgegeben. Sie quatschen blödes Zeug, von wegen Durchschlagen nach Mannheim, also den Amerikanern entgegen. Es sind bereits zu viele, die aufgegeben haben. Ich kann diese Idioten nicht begreifen. Sie glauben wohl, daß es ihnen bei unseren Feinden besser geht." Meine Empörung ist aus diesen Worten zu spüren. Ich hielt diejenigen, die nicht zum Durchhalten bereit waren, für Verräter.

Und nun stand ich mit meinen Mitschülern des Jahrgangs 1929 hier im Schulhof, um auf Führer, Volk und Vaterland vereidigt zu werden. Ich hatte ein eigenartigen Gefühl im Magen. War es Verzagtheit oder gar Angst vor dem, was nun als Soldat auf mich zukommen sollte. Eine starke Bedrückung war es auf alle Fälle. Von Begeisterung war in diesem Augenblick nichts zu spüren, nichts mehr von dem, was mich die Jahre zuvor zu einem eifrigen Mitmarschierer in der Hitlerjugend gemacht hatte, der unbedingt zur Führerschaft im Jungvolk zählen wollte. Wie viele Erwachsene hatte ich unverdrossen all den Parolen von der Überlegenheit der Deutschen, vom Volk ohne Raum und vom Endsieg geglaubt. Auch jetzt so kurz vor Kriegsende glaubte ich noch immer, dass wir den Krieg gewinnen würden.

Drei Tage zuvor, am 17. April 1945 hatte uns der Lagerleiter, einer unserer Lehrer, mit den salbungsvollen Worten verabschiedet: "Nun ziehet dahin und lebet wohl. Kämpfet tapfer für das Vaterland und kehret gesund wieder." Glaubte er, ein engagiertes Mitglied der NSDAP, zu diesem Zeitpunkt wirklich noch immer an den "Endsieg"?

Mit der Bahn und einem längeren Fußmarsch waren wir am 18. April in Triberg angekommen, dem Ort, an dem ich einige Wochen zuvor die letzte Erziehung im Sinne des Nationalsozialismus erfahren hatte. Die französischen Truppen standen nicht mehr weit entfernt, Kanonendonner war mitunter zu hören. In aller Eile hatte man uns in eine ungewöhnliche olivfarbene Uniform gesteckt, die vermutlich aus Restbeständen der "Organisation Todt" stammte. Jeder hatte ein Gewehr erhalten, teilweise Beutewaffen. Dass wir zu einem Panzervernichtungsregiment gehörten erfüllte mich mit Stolz. Einer kurzen Ausbildung am Karabiner und an der Panzerfaust durch einen Unteroffizier und einen Feldwebel, war dann der Abmarsch nach Schonach gefolgt. Woher unsere Vorgesetzten zu diesem Einsatz gekommen waren, wussten wir nicht. Sie trugen die normalen Uniformen der Wehrmacht. Wir folgten ihren Befehlen, so wie wir das jahrelang in der Hitlerjugend gelernt hatten. Der raue Ton und auch die Lautstärke störten uns nicht, denn wir waren beides gewöhnt.

Wenn ich heute über die Tage nach dem Verlassen des Kinderlandverschickungslagers nachdenke, kommt mir all dies wie ein Traum vor. Die Ereignisse überschlugen sich. Ich erinnere mich noch gut an das Aussortieren der wenigen Kleidungsstücke, die wir als Handgepäck mitnehmen konnten, an das Bedauern, einiges zurücklassen zu müssen, an die Abholung im Lager Titisee durch einen Soldaten, an die Bahnfahrt und an die letzte Strecke unseres Fußmarsches nach Triberg. Ich sehe die Aushändigung der Uniformen und der Waffen vor mir. Ich höre noch das Gebrüll bei der doch sehr kurzen Ausbildung, und ich erinnere mich an den überstürzten Abmarsch nach Schonach, der vermutlich damit zusammenhing, dass sich französische Truppen bereits Triberg näherten.

Das alles lag an diesem 20. April 1945 hinter uns. Was bisher anscheinend noch gefehlt hatte und zu unserem Erstaunen nunmehr erfolgen sollte, war die Vereidigung. Selbst dann, wenn Gefahr im Verzug war und der Feind jederzeit auftauchen konnte, mussten die militärischen Vorschriften eingehalten werden. Mit dem Eid wollte man uns Jugendliche offenbar noch in letzter Minute auf den Kampf für das Vaterland einschwören. Die Ordnung wurde noch immer aufrechterhalten. Unnachgiebig wurden auch in diesen letzten Tagen vor Kriegsende Fahnenflüchtige aufgehängt, auch wenn es sich um Jugendliche handelte. Viel Zeit, über die Konsequenzen unseres Schwurs nachzudenken, blieb uns nicht.

Die Ansprache eines Hauptmanns, vermutlich unser Kompaniechef, war kurz. Was hätte er auch Besonderes sagen sollen? Er sprach von dem Siegeswillen der deutschen Jugend, vom bevorstehenden Einsatz neuer Waffen und wie üblich vom Endsieg, der gewiss sei. Natürlich habe ich mit erhobener Schwurhand laut und feierlich gelobt, mich für "Führer, Volk und Vaterland" einzusetzen. Der Glaube an Hitler und an den Sieg bestand bei mir noch immer. Schlagworte tauchten in meinem Gehirn auf: "Verteidigung des Vaterlandes", "Viel Feind viel Ehr'", "Totaler Krieg", "Durchhalten bis zum Letzten", "Ja die Fahne ist mehr als der Tod. - Die Bedrückung war plötzlich weg. Ich wollte kein Feigling sein und auch kein Verräter. Die langjährige Erziehung im Sinne des Systems funktionierte noch immer.

Vom Tag unserer Vereidigung bis zum Weg in die Kriegsgefangenschaft dauerte es keine zwei Wochen. Der Rückzug unserer Einheit in die "Alpenfestung", die wir verteidigen sollten, erfolgte in Fußmärschen, auf LKW und mit requirierten Fahrrädern. Schließlich erreichten wir Maierhöfen im Allgäu. Hier wurde unsere Ausbildung noch kurze Zeit fortgesetzt. Von den Mannheimer Mittelschülern kam ich mit drei meiner Kameraden zu einer Einheit, die am 27. April 1945 nach Immenstadt in Marsch gesetzt wurde. Alle anderen verließen Maierhöfen einen Tag später. Auf unserem Weg zum Einsatz wurden wir von älteren Soldaten belächelt. Für sie waren wir Kinder. Väter unter ihnen, die Kinder in unserem Alter hatten, werden erschrocken sein, als sie uns mit unserem Kriegsgerät sahen.

Der Krieg endete für uns vier am 1. Mai 1945 in Oberstaufen, wo wir uns, nachdem wir unsere Waffen weggeworfen hatten, ohne jede Dramatik als Gefangene in die Hände der französischen Armee gaben.

Kurz zuvor waren wir bei Blaichach nahe daran, noch in den letzten Kriegstagen den Tod fürs Vaterland zu sterben. Man hatte uns befohlen, ein Dorf zu verteidigen. Wir lagen in Alarmbereitschaft, aber zu unserem Glück tauchten in dieser Nacht die angekündigten französischen Panzer nicht auf. Mit absoluter Sicherheit hätten wir den Ort nicht kampflos aufgegeben, und vermutlich wäre keiner von uns unerfahrenen Kriegern mit dem Leben davongekommen. Bewusst war uns das damals allerdings nicht. Was dachten sich unsere Vorgesetzten, die wir an diesem Tag zum letzten Mal sahen, bei dem Befehl zu einer solch sinnlosen Aktion?

Drei unserer Mitschüler, die wir in Maierhöfen verlassen hatten, trafen wir einige Tage später im Gefangenenlager Tuttlingen wieder. Sie waren über das Lager Konstanz dorthin gekommen. Beim Transport nach Kehl und dem anschließenden Weg über die Behelfsbrücke nach Straßburg wurde uns klar, dass mit einer schnellen Rückkehr nach Mannheim nicht zu rechnen war. In offenen Waggons ging unser Transport in den Süden Frankreichs. Fast verdurstet kamen wir am 20. Mai 1945 in Tulle, einer Stadt südlich von Limoges an.

Der Prozess der Aufarbeitung des Geschehenen begann dann für mich und für meine Kameraden im Gefangenenlager von Tulle, der Stadt, in der am 9. Juni 1944 die Waffen-SS als Vergeltungsaktion für einen Angriff der französischen Widerstandsbewegung 99 Männer an Laternenpfählen aufgehängt hatte. Danach waren 149 Männer nach Dachau deportiert worden. Von ihnen haben nur 48 das Konzentrationslager überlebt. Der Empfang unseres Gefangenentransports durch die Bevölkerung von Tulle war dementsprechend.

Es war ein schreckliches Erwachen als ich kurze Zeit später die ersten Bilder von Auschwitz sah und von all den mir bis dahin unbekannten Gräueltaten erfuhr. Andere können so etwas tun, wir doch nicht, die edlen Deutschen, so hatte ich das gelernt. Es dauerte einige Zeit, bis ich frei kam von der jahrelangen Indoktrination und bis mir die Verführung von uns Jugendlichen bewusst wurde. Die persönliche Begegnung mit den "Feinden" in den zwei Jahren meiner Kriegsgefangenschaft hat mir dabei sehr geholfen. Die Freundschaft mit einigen der Leute, die ich damals und auch später bei Besuchen kennen lernte, lässt mich hoffen, dass unsere Kinder und Enkel auch nur ähnliches wie wir, nie erleben werden.

Die Vereidigung vom 20. April 1945 und das was unmittelbar danach kam, liegt nunmehr 60 Jahre zurück. Geblieben sind die Erinnerungen an einen sinnlosen Krieg und an ein menschenverachtendes politisches System. Zusammen mit meinen sechs Mannheimer Schulkameraden wurde ich im Februar 1947 aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Wir waren noch keine 17 Jahre alt als wir endlich bei unseren überglücklichen Eltern in Mannheim eintrafen. Erst jetzt fühlten auch wir uns befreit.

Karl Heinz Mehler, Mannheim

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