Agenda 2010:Becks populäre Fehlentscheidung

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Das Arbeitslosengeld I ist das denkbar schlechteste Beispiel, um die Agenda 2010 zu kritisieren.

Thorsten Denkler, Berlin

Die Zahl muss auf Sozialdemokraten wirken wie die Fatamorgana einer Wasserquelle auf den Verdurstenden in der Wüste. Jüngste Umfragen ergeben: 85 Prozent der Menschen wollen, dass ältere Arbeitnehmer wieder ein längeres Anrecht auf das Arbeitslosengeld I bekommen. Ein geradezu trunken machender Zustimmungswert angesichts der 26 Prozent, auf welche die SPD derzeit in Umfragen kommt.

Sozial ist, die Menschen in Arbeit zu bringen und die größten Hartz-Härten zu beseitigen. (Foto: Foto: AP)

Parteichef Kurt Beck hat erkannt: Will er die SPD wieder auf Erfolgskurs bringen, muss er an die verhasste Agenda 2010 ran - also an das Erbe des einstigen Parteichefs und Kanzlers Gerhard Schröder.

Doch nur, weil viele Menschen das genauso sehen, ist es nicht richtig. Die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes hat letztlich dazu geführt, dass heute mehr Menschen über 50 einen Job haben. Das Phänomen der massenhaften Frühverrentung ist praktisch kein Thema mehr.

Andererseits darf die Agenda 2010 deshalb nicht gleich zum Heiligtum erklärt werden, wie es Vizekanzler Franz Müntefering jetzt macht. Es gibt viele Details, die geändert werden sollten, um soziale Härten und Ungerechtigkeiten abzumildern.

Beispiel Kinderarmut: Gemäß einer Studie des Forschungsinstituts für Kinderernährung (FKE) der Universität Bonn stehen Kindern, die von Hartz-IV leben, täglich exakt 2,57 Euro für Lebensmittel zur Verfügung. Erst mit rund einem Euro mehr pro Tag und Kind wäre eine halbwegs ausgewogene Ernährung finanzierbar, sagen die Wissenschaftler.

Beispiel Hartz-IV-Regelsatz: Jeder Erwachsene muss mit 347 Euro pro Monat auskommen. Seit Einführung der Hartz-Gesetze ist dieser Betrag nicht erhöht worden. Die Inflation hat den Wert des Regelsatzes seit 2003 um knapp zehn Prozent gemindert. Wenigstens das muss ausgeglichen werden.

Beispiel Altersvorsorge: Wer das Arbeitslosengeld II bekommt, darf fürs Alter lediglich 250 Euro pro Lebensjahr auf der hohen Kante haben. Wer also mit 55 Jahren in Hartz-IV rutscht, kann schnell in der Altersarmut landen. Besser wäre, die Altersvorsorge unangetastet zu lassen.

Das sind nur drei Beispiele. Sie zeigen: Die Agenda 2010 kann durchaus ein paar Änderungen vertragen.

Dass das nicht populär ist, hat einen einfachen Grund: Angst vor Arbeitslosigkeit hat jeder, der Arbeit hat. Wie schwer es ist, von Hartz-IV zu leben, erfahren nur diejenigen tagtäglich, die Hartz-IV bekommen.

Sozial ist deshalb, die Menschen in Arbeit zu bringen und die größten Hartz-Härten zu beseitigen. Unsozial ist es, allein die gefühlten Ängste von 85 Prozent der Menschen mildern zu wollen. Das wiederum ist reiner Populismus.

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