Zu Besuch beim Zivilcourage-Kurs:"Du kommst hier nicht vorbei, Schnecke!"

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Politiker sind sich stets einig: Zivilcourage fehlt überall. Aber es gibt Abhilfe. Zu Besuch in einem Kurs für Selbstbehauptung - bei dem der nette Polizist plötzlich zum U-Bahn-Schläger mutiert.

Christoph Gröner und Ines Schipperges

Ausgeschrieben ist der Lehrgang ein Ungetüm - und außerdem sprachlich fragwürdig. "Potentielle Opfer lernen individuell Zivilcourage und Eigensicherung im" heißt er in der Langfassung. Auch wenn im Titel verquere Komik mitschwingt: Locker wird der Abend nicht, auch nicht durch Kaffee und den Turm aus Kuchenstücken, auf den die Kontaktbeamten Michael Sommer und Hermine Schachtner hinweisen. Hier, beim "POLIZEI-Kurs" (so die Kurzfassung), ist jeder per Definition ein mögliches Opfer. Und die Arme deshalb verschränkt.

Hinschauen! Zivilcourage muss man lernen, meinen Forscher und die Polizei. (Foto: Foto: ddp)

Polizeiinspektion 42, München-Neuhausen: Fünfzehn Teilnehmer sitzen in einem Besprechungsraum im 2. Stock, um mehr über das Einmaleins der Zivilcourage zu erfahren. Es geht um Momente, die man lieber nicht erleben will, um Pöbeleien und Schlägereien - in einem geschützten Raum.

Schläge gehören unter Umständen auch zur Verteidigung, lassen die Beamten wissen. Deshalb unterschreibt jeder Teilnehmer, dass die Polizei nicht für "etwaige Körper und Sachschäden" haftbar gemacht wird. Bisher habe sich niemand verletzt, beruhigt der Kursleiter Michael Sommer: "Wir hatten schon 80-Jährige, die getreten haben." In der Runde sitzen zwar keine Achtzigjährigen, dafür fast ein Querschnitt der Bevölkerung: Eine Rentnerin, ein Ehepaar in den Fünfzigern, eine Mutter mit ihrem jugendlichen Sohn, Schülerinnen wie Angestellte.

Im Jahr 2007 hat es in München allein 110 solcher Kurse gegeben, mehr als 2000 Menschen haben daran teilgenommen. Bundesweite Zahlen werden nicht erfasst, die Unterschiede zwischen den Städten scheinen aber groß zu sein: in Hamburg etwa veranstaltet die Polizei keine derartigen Lehrgänge, in Köln sind es etwa 20 jährlich.

Eine Erfahrung aber ist gleich: Wenn Meldungen über Prügeleien die Schlagzeilen beherrschen und damit Wahlkampf gemacht wird, steigt die gefühlte Unsicherheit - und damit das Interesse an den Kursen. Selbst wenn, wie die Münchner Polizei immer wieder versichert, die Gewaltkriminalität insgesamt rückläufig ist. Auch für disen Kurs haben sich einige Teilnehmer mehrmals angemeldet, im Januar - kurz nach den bundesweit beachteten Fällen brutaler U-Bahn-Prügeleien - stapelten sich die Anmeldungen.

Wer so einen Abend durchmacht, den treibt allerdings keine traumatisierende Opfererfahrung. Die Teilnehmer werden vorher abgeklopft, in fünf Jahren gab es münchenweit keine Ausfälle, sagt ein Sprecher des Münchner Polizeipräsidiums. Es ist eher eine Unsicherheit über die eigene Reaktion: "Ich will nicht in die Opferrolle fallen", sagt eine Frau über ihr Ziel. Kontaktbeamtin Schachtner schreibt es auf einen Block in der Raummitte, zu den anderen Begriffen: "Richtig helfen" steht dort und "Situationen richtig erkennen".

Es gibt viele Fragezeichen beim Thema Zivilcourage, und der der erste Teil des Abends räumt sie keinesfalls aus. Statistiken über die Seltenheit von Gewaltverbrechen helfen nicht für den Einzelfall weiter. "Notwehr muss verhältnismäßig sein" sagt die Kontaktbeamtin, und: "Waffen sind gefährlich. Laufen Sie weg." Dann schaut sie betroffen in die Runde. "Wenn Sie Kampfsport können, müssen Sie den Schlag androhen... wenn Sie Zeit haben." Kaum hilfreich, wenn einen die Panik packt. Wie reagiert man, wenn es in einem fast leeren Zugabteil zur Prügelei kommt, wenn Skinheads einen Ausländer vor den eigenen Augen grün und blau schlagen? Kann man sich darauf vorbereiten?

Wenn man Konfliktforscher wie Gerhard Schwarz fragt, dann muss man das sogar. "Zivilcourage ist erlernbar und sollte auch gelernt und gelehrt werden", sagt Schwarz, der zahlreiche Fachbücher zum Thema verfasst hat: "Am besten schon in der Schule." Die Gesellschaft habe den Umgang mit Gewalt verlernt, schließlich sei Gewaltanwendung in der humanistischen Tradition verpönt. "Der Mensch ist angelegt auf Flucht und Kampf", erläutert der Spezialist. Zivilisierte Verhaltensweisen haben das Hauen und Stechen aber ersetzt. Um so schwerer wird es, wenn das Gegenüber sich nicht an diese Verhaltensregeln hält - wie im zweiten Teil des Trainings, der plötzlich zu unangenehmen Einsichten führt

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Was passiert, wenn der nette Polizist plötzlichen einen U-Bahn-Schläger mimt.

Aus Michael Sommer, dem Helfer im mit locker geknöpftem Kurzarmhemd, wird da ein Angreifer, der seine Rolle ohne Ironie ausfüllt. Überzeugend genug, um manche Teilnehmer gehörig aus der Ruhe zu bringen. Nicht die leichten Schläge, die an diesem Abend kurz geübt wurden, tun weh, dafür wird es bei den psychologischen Experimenten unangenehm.

Das Rollenspiel heißt U-Bahn-Fahren, Sommer kommt einer Frau ganz nahe, fragt im Flüsterton: "Schon mal 'nen richtigen Mann im Bett gehabt?" Die Frau versteinert, eine andere soll eingreifen, doch sie fühlt sich genau so unsicher als Retterin: "Ich wusste nicht so recht, was los war, ob das Opfer überhaupt Hilfe wollte", sagt sie später. "Sie hat ja gar nichts gesagt und saß nur da wie ein hypnotisiertes Kaninchen." Klappe auf, lautet also die erste Regel. "Sprechen Sie konkret Ihre Mitmenschen an", rät Hermine Schachtner.

In der nächsten Situation legt Sommer die Beine auf den Sitz gegenüber und versperrt einer Teilnehmerin den Weg. Verwirrt und bedrängt bleibt sie stehen. "Einfach durchlaufen!", rät Polizistin Schachtner. "Hier kommst du nicht vorbei", grinst Sommer. "Schnecke", fügt er langsam hinzu. Zögernd tritt die Frau einen Schritt nach vorne. Sommer rührt sich nicht von der Stelle. "Nochmal! Aber mit Schmackes!", fordert die moderierende Polizistin darauf hin. Die Frau marschiert los - und schmeißt den Polizisten vom Stuhl. "Super!", freut sich der.

Und dann ist die Journalistin selbst mittendrin im Nervenspiel. Es heißt nicht mehr "Die", sondern "Ich". Ganz konkret. "Her mit der Uhr", droht Sommer einer Frau, ich soll eingreifen. Der Moment der Überwindung wird qualvoll. Als die Bewegung endlich einsetzt, stößt der Polizist mich zurück. Der Hals ist trocken.

Und das Opfer sitzt da wie versteinert. "Gib ihm die Uhr, gib ihm doch einfach die Uhr", ist schließlich mein Rat. Danach fühlt sich das Opfer "echt beschissen und erstarrt." Nicht einmal die Uhr hätte sie noch abnehmen können. Diese Passivität, so die einfach und heftige psychologische Lehre, verstärkt sich gegenseitig. In der Anonymität des öffentlichen Raums noch mehr.

Konfliktforscher Schwarz will solche Reaktionen durchbrechen. Wichtig aber: "Von Seiten des Helfers sollten aggressivitätsfördernde Töne vermieden werden." Nicht selbst emotional reagieren, bedeutet das, und sich nicht von der Aggression einer Gruppe vereinnahmen lassen. Wer allein gegen eine Gruppe antritt, ist schnell auf verlorenem Posten. "Suchen Sie sich Mitstreiter", raten Forscher und die Polizei deshalb. Im Ernstfall ist das leichter gesagt als getan: Am Ende dieses Abends fühlt sich fast jeder ein wenig schlechter, aber auch ein wenig vertrauter mit den eigenen Grenzen.

Denn Zivilcourage, das lässt sich scheinbar üben. Und wenn man vorerst nur Herrn Sommer Paroli bietet. Eine einzige Statistik weist den Weg dafür, über "Tatabbrüche in München". 68 Prozent aller Angreifer in der Stadt lassen demnach wegen verbaler Gegenwehr von ihren Opfern ab: Oft reicht schon ein mutiges Wort zur Zivilcourage.

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