Weißrussland:Das Stigma des GAUs

Lesezeit: 2 min

Seit 14 Jahren reisen so genannte Tschernobyl-Kinder zur Erholung nach Deutschland. Nun hat Präsident Alexander Lukaschenko die Ferien im Westen verboten.

Cathrin Kahlweit

Das Corpus Delicti hat einen Namen: Tatjana Kosyro. Die junge Weißrussin war im vergangenen Sommer nicht von einer Ferienreise so genannter Tschernobyl-Kinder aus den USA zurückgekehrt; die Regierung in Minsk nennt diesen Vorfall "rechtswidrige Nichtrückkehr durch die amerikanischen Seite einer minderjährigen belorussischen Staatsangehörigen".

Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko hat die Erholungsreisen von Kinder in den Westen per Dekret gestoppt. (Foto: Foto: dpa)

In der DDR hieß das Vergehen einst Republikflucht. Und auch wenn Weißrussland im Prinzip die Ausreise aus seinen Staatsgrenzen erlaubt, so wird Tatjana Kosyro doch derzeit von Weißrussland angeführt, wenn jemand nach dem Präsidialerlass Nummer 555 fragt.

Mit diesem Dekret hat Präsident Alexander Lukaschenko im Oktober die seit anderthalb Jahrzehnten durchgeführten und von Zehntausenden Kindern als beglückendes Geschenk empfundenen Reisen nach Westen gestoppt. Etwa 170.000 Kinder wurden allein seit 1994 nach Deutschland eingeladen - als humanitäre Geste gegenüber dem 1986 vom GAU im der Ukraine verseuchten Land und als Beitrag zur Genesung gesundheitlich angeschlagener Kinder.

Im Westen "verdorben"

Dutzende Vereine und Kirchengemeinden haben sich ehrenamtlich engagiert - und immer mal wieder hat Lukaschenko die Kinder-Reisen nach Westen genutzt, um politisch Druck zu machen, immer mal wieder hat er mit einem Njet gedroht. Zuletzt befand er, weißrussische Jugendliche würden im Westen "verdorben". Fahren durften die Tschernobyl-Kinder schlussendlich doch immer.

Diesmal aber sieht die Sache komplizierter aus. Denn Lukaschenko verlangt einen Staatsvertrag von Deutschland, in dem die Bundesregierung eine "Garantie zur Sicherheit des Aufenthaltes und der Rückkehr" der Kinder gibt. Berlin mag sich darauf nicht einlassen; aus dem Außenministerium ist zu hören, der Staat könne keine Garantien für zivilgesellschaftliche Aktivitäten geben.

Derzeit wird offenbar intensiv über ein Moratorium verhandelt, damit die Vorbereitungen für die Besuche der Kinder im Sommer 2009 weitergehen können. Gedacht ist daran, ohnehin bestehende völkerrechtliche Verträge über das Kindeswohl in einen Notenwechsel zu gießen, der dann den von Minsk geforderten Staatsvertrag ersetzen würde. Ob sich das Regime darauf einlässt, ist bislang unklar.

Einerseits steht Weißrussland auf dem Prüfstand der Europäischen Union. Bis zum nächsten Frühjahr muss es beweisen, dass es sich die Offerten aus Brüssel verdient hat, sonst treten die jüngst ausgesetzten Sanktionen gegen das Regime wieder in Kraft. Andererseits ist Lukaschenko für seine erratische Politik bekannt, wie auch die grüne Bundestagsabgeordnete und Weißrussland-Expertin Marieluise Beck weiß: "Seine extreme Schaukelpolitik zwischen Moskau und Brüssel lässt keinerlei Schlüsse darüber zu, ob er das Reise-Verbot der Tschernobyl-Kinder aufrechterhalten wird."

Pastor Burkhard Homeyer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft "Den Kindern von Tschernobyl in Deutschland", hat noch eine weitere Erklärung für den rigiden Kurs Lukaschenkos: Minsk plane ein eigenes Atomkraftwerk, werde aber in ganz Europa immer nur mit Tschernobyl - also mit den katastrophalen Folgen der Atomtechnik identifiziert. "Für Weißrussland soll Tschernobyl aber zuende sein", glaubt Homeyer, und jedes Kind, das nach Westen reise, trage das Stigma des nuklearen GAUs mit sich. Auch deshalb habe Lukaschenko die Reisen gestoppt -zugunsten eines vermeintlichen Imagegewinns, jedoch zu Lasten der Kinder.

© SZ vom 16.12.2008/bre - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: