Vernachlässigte Kinder:Jessica, Kevin, Lea-Sophie

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Immer wieder sterben vernachlässigte Kinder unter den Augen der überforderten Jugendämter. Diese sollten die Öffentlichkeit jetzt nutzen - für einen Aufschrei, nicht für Ausreden.

Ralf Wiegand

Jessica, sieben Jahre, Hamburg. Kevin, zwei Jahre, Bremen. Lea-Sophie, fünf Jahre, Schwerin. Drei Todesfälle aus drei Jahren, 2005, 2006, 2007. Alle drei Kinder stammten aus Familien, die nicht der Norm entsprechen.

"Am Rand der Gesellschaft": Das Jugendamt wusste von Jessica, Kevin und Lea-Sophie, konnte deren Tod aber nicht verhindern. (Foto: Foto: ddp)

Armen Familien, die ihren Unterhalt nicht selbst verdienten oder deren Haushaltsgeld für Drogen drauf ging - für Alkohol wie bei Jessicas Eltern, für harte Sachen wie bei Kevins Eltern. Lea-Sophies Eltern, beide ohne Arbeit, beide in Hartz IV, Plattenbau, leisteten sich neben zwei Kindern auch zwei Hunde und vier Katzen.

Für solche Familien hat sich der Begriff "Rand der Gesellschaft" etabliert, er stammt aus der Gesellschaft selbst, die in ihrer Mitte solche Familien nicht haben will. Für Jessica, Kevin, Lea-Sophie war dieser Rand ein Abgrund. Aber sie hätten trotzdem nicht hinunterstürzen müssen.

Alle drei Kinder waren bei den zuständigen Ämtern ihrer Städte bekannt. Sozial- und Jugendbehörden wussten um Probleme in diesen Familien; mal exakter, wie im Falle Kevins, für den das Jugendamt auf richterliches Geheiß sogar die Amtsvormundschaft übernommen hatte, der aber trotzdem in der Obhut seines drogensüchtigen Ziehvaters blieb und starb. Mal weniger genau wie bei Jessica, die einfach nicht in der Schule erschien. Die Behördenvertreter klingelten dreimal an der Tür, trafen aber nie jemanden an.

Bei Lea-Sophie gab es einen Hinweis, dass die Familie in einer schwierigen Lage steckte. Angeblich haben sich daraufhin die Behörden um den Fall gekümmert. Dass das Kind dennoch zwei Wochen später starb, dass es in einem Zustand ins Krankenhaus gebracht wurde, der den Hospitalsprecher an Bilder aus Gefangenenlagern erinnerte, scheint ein unlösbarer Widerspruch zu sein.

Trotzdem wusste die Stadtverwaltung Schwerin nur Stunden nach dem Tod des unterernährten, dehydrierten Mädchens, dass den Sozialarbeitern vom städtischen Jugendamt kein Vorwurf zu machen sei. Für den Fall "möglicher Kindeswohlgefährdung" gebe es "ein geregeltes Verfahren. Nach diesem ist (...) auch in dem konkreten Fall gehandelt worden".

Besser als mit diesem Satz hätte die Stadtverwaltung das Dilemma gar nicht beschreiben können. Er nennt gleich zwei Gründe, warum Lea-Sophie nicht geholfen wurde. Grund eins: Es gibt Vorschriften, die zwar der Empfehlung des Deutschen Städtetages zur "Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindeswohls" entsprechen - aber nicht ausreichen.

Grund zwei: Die Mitarbeiter haben entweder nicht genug Zeit oder nicht genug Mitgefühl, um jenseits dieser Regularien tatsächlich nach den Kindern zu suchen, deren Wohl sie sich anzunehmen haben.

Nicht erst seit Jessica und Kevin, aber spätestens seitdem müsste klar sein, dass Jugendämter nicht Kinder verwalten sollen, sondern im schlimmsten, nein: im besten Fall deren Lebensretter sein müssen. Dazu braucht es ein Mindestmaß an Überzeugung, so schlimm das Milieu "am Rand der Gesellschaft" auch sein mag, in dem die Not entsteht. Einen Teil dazu müssen die Jugendamtsmitarbeiter selbst leisten, es muss ihre moralische Verpflichtung sein. Daneben müssen sie aber auch ausreichende Mittel an die Hand bekommen. Geld, Personal.

Es braucht Courage, um diese Bedingungen zu kämpfen. Es braucht den Mut der Mitarbeiter, aus den Jugendämtern heraus deren Umbau zu fordern und die Politik zu zwingen. Ein Jahr nach Kevin hat erst ein Bundesland, Schleswig-Holstein, ein Kinderschutzgesetz beschlossen. Sich frustriert hinter viel zu hohe Aktenberge zurückzuziehen und auf Vorschriften zu verweisen, ist ein Alibi.

Lea-Sophie aus Schwerin: Die Öffentlichkeit für einen Aufschrei aus den Ämtern wäre jetzt da, schon zum dritten Mal nach Kevin aus Bremen, nach Jessica aus Hamburg. Eine Öffentlichkeit für Ausreden gibt es nicht.

© SZ vom 23.11.07/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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