Umfrage zum Stress der Deutschen:Wir! Sind! Super!

Lesezeit: 4 min

Viele Menschen streben unablässig danach, perfekt zu sein, immer zu funktionieren. Die Folge: 61 Prozent der Deutschen fühlen sich oft unter Druck. Am schlimmsten ist es bei den unter 40-Jährigen.

Von Christina Berndt

Hans Selye hätte seine Erfindung urheberrechtlich schützen lassen sollen, denn sie war so genial wie nur wenige andere. Hans Selye, ein Arzt aus Wien, hat im Jahr 1936 das Wort "Stress" erschaffen - er wollte ein Zeitgeistphänomen beschreiben, und tatsächlich nahmen die Menschen den Begriff begierig auf. Offenbar half er ihnen, zu sagen, wie sie sich fühlten. "Ich habe allen Sprachen ein neues Wort geschenkt", sagte Selye später. Ein Wort, das 80 Jahre nach seiner Einführung präsenter denn je ist.

In Deutschland sind gerade wieder zwei bemerkenswerte Studien zu diesem Thema veröffentlicht worden. Am Dienstag zeigten AOK und Deutsches Studentenwerk, dass das mitunter vergnügliche Studentenleben von einst dem Gefühl von Dauerstress gewichen ist: Manch ein junger Mensch fürchtet sich gar vorm Semesterbeginn und dem damit verbundenen Leistungsdruck. Und am Mittwoch präsentierte die Techniker-Krankenkasse ihre neueste Umfrage, für die das Meinungsforschungsinstitut Forsa 1200 volljährige Personen befragt hat: 61 Prozent der Deutschen, so heißt es darin, fühlen sich gestresst. Besonders hoch ist der Stresspegel bei den Erwachsenen unter 40 Jahren, von ihnen stehen drei Viertel unter Druck. Insgesamt gab fast jeder vierte Befragte an, häufig gestresst zu sein.

Das mag einem merkwürdig vorkommen. Zur Jahrhundertwende hatten gewöhnliche Häuser keine Terrassen, weil Ausruhen nicht zum Plan des Lebens gehörte, und später, um die 1960er-Jahre, war die Sechs-Tage-Woche selbstverständlich. Und wir sind heute gestresst?

Ein besonders häufig genannter Stressfaktor: "Termindichte in der Freizeit"

"Unser Problem ist, dass wir überall performen wollen", sagt Klaus Lieb, Direktor der Psychiatrischen Klinik an der Universität Mainz. Das gelte vor allem für die jüngere Generation: "Man will toll im Job sein, ein guter Partner, ein guter Vater und auch noch sportlich top." Und gewiss sind auch die Anforderungen im Beruf zum Teil stressiger geworden - vor allem, wenn man nie richtig abschalten kann. "Ständige digitale Erreichbarkeit" gaben 28 Prozent der Befragten in der TK-Studie als Stressfaktor in ihrem Leben an. Vor allem aber sind die Anforderungen im Privatleben größer geworden. Ein großer Stressfaktor für beachtliche 33 Prozent der Befragten: "Termindichte in der Freizeit".

Psychiater Lieb sagt, das Problem sei, "dass uns heute oft die Inseln der Erholung in unserem Alltag fehlen". Heute sei auch die Freizeit zum Optimierungsfeld geworden, auf dem man ständig Leistung bringt: "Ich wundere mich immer, dass ein Manager, der sich am Wochenende einfach um seine Familie kümmern könnte, meint, da auch noch Marathon laufen oder stundenlang Fahrrad fahren zu müssen."

Dass Menschen sich gestresst fühlen, hat allerdings durchaus auch mit Hans Selye selbst zu tun - mit der Erfindung des überall zu hörenden Wortes "Stress": Wer ängstlich fordernde Situationen in seinem Leben beäugt und dabei stets den drohenden Burnout fürchtet, der nimmt Stress nun einmal häufiger und zugleich negativer wahr. Das hat nur zum Teil sein Gutes, weil Menschen sich eher gegen einen zu hohen Druck wehren und mitunter die Reißleine in Form einer Krankmeldung ziehen. "Stress ist eben auch eine Frage der Haltung", sagt Steffi Riedel-Heller, Direktorin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health an der Universität Leipzig. Wie begegne ich den Herausforderungen im Leben? Kann ich auch etwas Positives daraus ziehen? Da lassen die Zahlen aus der TK-Umfrage zu den Kinderlosen tief blicken: Während Eltern, die neben ihrem Job auch noch die große, anstrengende und zeitfressende Aufgabe der Kindererziehung in ihr Leben integrieren, nur zu einem Drittel über Stress klagen, tun dies unter den Kinderlosen 49 Prozent.

Lebensumstände beurteilt man eben sehr unterschiedlich - je nachdem, ob man sie selbst gewählt hat oder ob man das Gefühl hat, nur noch der Getriebene zu sein und nichts mitentscheiden zu können. Das ist eine Lehre, die in Firmen noch viel zu wenig umgesetzt wird: Mitarbeiter, die wenigstens ein bisschen Entscheidungsspielraum haben und sich aktiv einbringen können, leiden erheblich weniger an Stresserkrankungen als die gegängelten.

Auffällig an der TK-Umfrage ist, dass die Menschen sich offenbar zum großen Teil selbst Stress machen. 46 Prozent sagen, dass ihr Job sie stresse, aber gleich an zweiter Stelle folgen schon "hohe Eigenansprüche" mit 43 Prozent. Frauen sind hier besonders anfällig: Von ihnen klagen 48 Prozent, dass sie sich selbst unter Druck setzen, unter Männern sind es nur 37 Prozent. Tatsächlich haben Frauen oft besonders hohe Ansprüche an sich selbst - und sie sind auch seltener mit dem, was sie erreichen, zufrieden. Das lässt sich mitunter an objektiven Dingen feststellen - und nicht nur beim Körpergewicht, bei dem sich Frauen oft mit dem Foto einer viel dickeren Person vergleichen, während Männer tendenziell glauben, dass sie von Brad Pitt in seinen besseren Zeiten gar nicht so weit entfernt sind.

Und noch etwas macht in der modernen Welt Stress: die große Wahlfreiheit. Diese Erkenntnis ist als "Paradox of Choice" in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen. Dass der moderne Mensch in einem reichen Land unendlich viele Möglichkeiten hat, sein Leben zu gestalten, macht es ihm eher schwerer als leichter. Denn die Angst, die falsche Entscheidung zu treffen, schwingt immer mit, wie der US-amerikanische Psychologe Barry Schwartz als Erster beschrieben hat. Und der Stress hält auch an, wenn die Entscheidung längst getroffen ist, weil wir uns immer wieder fragen, ob wir nicht mit einer anderen Entscheidung besser gefahren wären.

Da hilft nur mehr Gelassenheit. Muss wirklich alles perfekt sein? Kinder freuen sich auch auf ihre Geburtstagsfeier, wenn nicht alles durchgestylt ist, in einer unaufgeräumten Wohnung lässt es sich auch leben, und wenn man die Arbeit mit leichter Qualitätsminderung erledigt, merkt das niemand außer einem selbst. Also: Auf zur Insel der Unvollkommenheit!

Die seltsame Lust auf Stress kommt sowieso von selbst.

© SZ vom 13.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: