Transsexuelle in der Schweiz:Das Recht, Frau zu sein

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67 Jahre fühlte sich Nadine Schlumpf gefangen im Körper eines Mannes. Jetzt lebt sie frei - als Frau. Doch die Krankenkasse weigerte sich, die Kosten für die Geschlechtsumwandlung zu übernehmen.

K. Haimerl

Vielleicht sollte man diese Geschichte beginnen mit dem Moment, an dem Max Schlumpf endgültig zu Nadine Schlumpf wurde. Das war im November 2004 in einem OP-Saal in der Schweiz. Da war Max Schlumpf 67 Jahre alt.

Nadine Schlumpf hat es geschafft: Mit neuem Äußeren konnte sie ein Leben als Frau beginnen. (Foto: Foto: iStock)

Nadine Schlumpf wacht aus der Narkose auf. Als erstes fühlt sie nach ihren Brüsten. Es sind zwei Implantate, die Nadine das richtige Körpergefühl geben. Ihre Geschlechtsorgane sind einbandagiert, darunter verbirgt sich die neu geformte Scheide mit den Schamlippen. Nadine spürt keinen Schmerz. Nur Glück. Und Freude. Es ist der Start in ein neues Leben. Als Frau.

Doch nicht alles war positiv an diesem Ereignis. Kurz vor dem großen Moment offenbarte ihr ein Arzt, dass die Krankenkasse die Kosten für die Geschlechtsumwandlung nicht übernehmen würde. Sie muss alles selbst bezahlen - den Krankenhausaufenthalt mit 42.000 Franken (28.000 Euro), genauso Monate später die Stimmenkorrektur für 14.000 Franken (10.000 Euro).

Mit dem neuen Leben begann auch Nadines Kampf. Der Kampf um die Anerkennung als Frau. Sie klagte bis zum Bundesgericht gegen die Zahlungsverweigerung der Krankenkasse. Doch die Schweizer Gerichte einschließlich der höchsten Instanz gaben der Kasse Recht. Die Begründung: Frau Schlumpf habe vor der OP nicht - wie im Schweizer Recht vorgesehen - die zweijährige Beobachtungsphase eingehalten. Eine Art Probezeit: Die betroffene Person soll in dieser Zeit täglich im jeweils empfundenen Geschlecht leben. Am Ende wird eine Diagnose erstellt. Die entscheidet, ob die Krankenkassen zahlen.

Am Donnerstag hat Nadine Schlumpf einen Erfolg verbucht: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied für sie. Die Schweiz muss der Frau 15.000 Euro Schadensersatz und 8000 Euro Kostenersatz zahlen.

Das alles erzählt Nadine Schlumpf langsam, bedächtig, unaufgeregt. Ihre Worte wählt sie bewusst. Die Stimme ist tief, weich, dazu der Schweizer Akzent - sie sagt Spital, nicht Krankenhaus. Man ertappt sich dabei, nach den Spuren des Männlichen zu horchen. Doch diese Gedanken unterbricht sie mit einem damenhaften Kichern.

Rüffel für das Bundesgericht

In seinem Urteil rügt der EGMR das Bundesgericht der Schweiz: Es habe mit seinem rigiden Beharren auf Einhaltung der Zweijahresfrist das Recht der Betroffenen auf Achtung des Privatlebens verletzt - und damit Artikel 8 der Menschenrechtskonvention. Nach Ansicht der Richter in Strassburg wäre angesichts des Alters der Betroffenen und ihrem dringenden Wunsch nach einer raschen Umwandlung ein flexiblerer Umgang mit der Zweijahresfrist angebracht gewesen.

Denn Nadine Schlumpf beobachtet sich selbst schon wesentlich länger als zwei Jahre. Mehr als ein halbes Jahrhundert hat sie sich im eigenen Körper fremd gefühlt.

Nadine Schlumpf ist in der Schweiz, im Kanton Aargau, geboren - 1937 in einer 3000-Einwohner-Gemeinde. Von Transsexualität hat damals noch nie jemand etwas gehört.

Im Alter von 22 Jahren heiratet Nadine. Sie glaubt, das Heilmittel gegen den inneren Unfrieden gefunden zu haben, hofft, dass das Unwohlsein dadurch irgendwann verschwinden würde. Gemeinsam mit ihrer Frau zieht sie vier Kinder groß. Doch das Gefühl ist nach wie vor da. Nadine leidet an Depressionen, hat keine Lebenslust mehr, verliert an allem das Interesse. Mit 30 hört sie zum ersten Mal von Transsexualität - und weiß sofort, dass auch sie zu den Betroffenen gehört. Mit 40 beginnt sie, mit ihrer Frau darüber zu sprechen. Diese reagiert verständnisvoll, auch sie ahnt längst, dass Nadine versucht, etwas zu unterdrücken. Der gemeinsame Entschluss: Das Leben weiterleben wie bisher - und das Problem weiter unterdrücken.

2002, die Kinder sind längst erwachsen, stirbt Nadines Frau. Es ist eine Zäsur in Nadines Leben. Was davor war, erzählt sie distanziert, aus der Entfernung. Irgendwann, sagt sie, hätte sie nur noch zwei Auswege gesehen: "Entweder ich mache die OP, oder ich bringe mich um."

Nun, als Frau, wirkt sie gelöst. Sie geht mit ihrem Leben offen um. Gemeinsam mit Freundinnen hat sie die "Transgender Association Switzerland" gegründet, einen Verein für Menschen mit Störung der Geschlechtsidentität. Die Mitglieder wollen über Transsexualität aufklären. Und: "Wir wollen, dass man uns als Frauen wahrnimmt", sagt Nadine Schlumpf.

Und da ist Schlumpf zumindest bei der Schweizer Polizei vollkommen richtig: Noch vor ihrer OP war sie einmal in eine Verkehrskontrolle geraten. Zu diesem Zeitpunkt kleidete und gestaltete sie ihr Äußeres bereits als Frau.

Der Polizist sah den Ausweis an, blickte ihr ins Gesicht, sah wieder auf den Ausweis. Sein Kommentar: "Sie haben sich aber mächtig verändert!" Als er ihr den Ausweis zurückgab, sagte er: "Und jünger sind Sie auch geworden!" Was für ein Kompliment. Da muss Nadine wieder kichern.

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