Tag der vermissten Kinder:"Warten ist das Schlimmste"

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1700 Kinder gelten derzeit in Deutschland als spurlos verschwunden. Eine Initiative versucht, den verzweifelten Eltern zur Seite zu stehen - bei der Suche, beim Hoffen und Trauern.

Johann Osel

Die Spur von Deborah Sassen verliert sich vor ihrer Grundschule in Düsseldorf. Im Februar 1996 hatte eine Freundin die damals Achtjährige dort noch gesehen, doch Deborah kam nie mehr zuhause an. Auf dem Suchbild, das ihre Eltern anfertigen ließen, sieht man ein schüchtern wirkendes Mädchen mit einem bunten Schulranzen. Inzwischen steht auf der Internetseite der Initiative "Vermisste Kinder" ein anderes Bild: Zu sehen ist dort ein blonder Teenager, fast schon eine junge Frau. Dass das vermisste Mädchen heute so aussehen könnte, hat die Initiative durch Fotos der Eltern und Großeltern Deborahs konstruiert. Die Mitarbeiter stehen verzweifelten Eltern zur Seite, vermitteln Hilfe und organisieren die Suche. Am heutigen Montag, dem "Tag der vermissten Kinder", plant die Initiative bundesweite Aktionen. Und vielleicht kommen gar neue Hinweise, sagt Mitbegründer Carl Bruhns.

Menschen, die fehlen: Auf der Seite www.vermisste-kinder.de stellt die gleichnamige Initiative das Schicksal verschwundener Kinder vor. (Foto: screenshot: sueddeutsche.de)

sueddeutsche.de: Knapp 100.000 Vermisstenanzeigen gehen in Deutschland pro Jahr bei der Polizei ein, nur 1700 Kinder gelten aber als vermisst. Wie kommt dieses Verhältnis zustande?

Bruhns: Etwa 98 Prozent der Vermisstenfälle klären sich innerhalb der folgenden Stunden und Tage. Die Kinder melden sich selbst oder werden gefunden. Zwei Prozent bleiben längerfristig verschwunden. Spurlos.

sueddeutsche.de: Welche Gründe gibt es für das Verschwinden von Kindern?

Bruhns: Ein Teil reißt von zuhause aus. Da stecken oft Schulprobleme dahinter. Bei jungen Mädchen kommt es oft vor, dass die erste Liebe in die Brüche gegangen ist. Erst kürzlich haben wir einen Fall betreut, bei dem ein Hamburger Mädchen wegen Liebeskummer nach Berlin ausgebüxt ist. Und von Jahr zu Jahr steigt der Anteil von Kindern, die von einem Elternteil verschleppt werden. Oft ins Ausland, vor allem bei islamischen Ländern ist es dann fast unmöglich, die Kinder wieder zurückzubekommen. Aber es können auch Verbrechen dahinter stehen. Dass Kinder auf dem Heimweg von der Schule überfallen werden oder nach Besuchen bei Freunden und Verwandten.

sueddeutsche.de: Wie gehen Sie persönlich damit um? Lässt sich immer eine professionelle Distanz wahren?

Bruhns: Vor kurzem hatten wir den Fall einer 14-Jährigen aus dem Ruhrgebiet, die spurlos verschwunden ist. Ihr Fahrrad wurde an einem Fluss gefunden. Die Eltern waren verzweifelt, wir haben sie vier Wochen lang intensiv betreut. Das geht einem schon persönlich sehr nahe, der enge Kontakt mit den Eltern belastet auch uns. Zumal das Ganze ein tragischer Ende hatte: Das Mädchen wurde in Holland aus dem Fluss gezogen, sie war aus Liebeskummer ins Wasser gegangen.

sueddeutsche.de: Wie sieht die Arbeit der Initiative konkret aus?

Bruhns: Wir vermitteln betroffenen Eltern Gesprächspartner, die das gleiche Schicksal erlebt haben. Oder suchen mithilfe des Kinderschutzbunds nach psychologischer Betreuung. Auch die Finanzierung rechtlicher Dinge, etwa die Dienste eines Anwalts, ist wichtig. Hier arbeiten wir eng mit dem Weißen Ring zusammen. Mit einem Notfalltelefon, das Tag und Nacht besetzt ist, bieten wir eine erste Anlaufstelle für Eltern. Und wir haben Möglichkeiten, die die Polizei nicht hat.

sueddeutsche.de: Zum Beispiel?

Bruhns: Wir können innerhalb von drei Stunden bundesweit elektronische Plakate schalten, in S- und U-Bahnen oder auf Flughäfen. Gerade bei Ausreißern ist das erfolgreich: Passanten sehen die Bilder, erkennen die Kinder und sprechen sie an. Oft melden sich die Kinder dann bei den Eltern. Man muss jeden möglichen Weg erschließen, der kleinste Hinweis kann schon helfen. Wir suchen auch über das Internet, etwa auf Videoportalen wie Youtube. Man muss auf jeden Fall sehr schnell handeln. Experten sagen, dass man das, was man in den ersten drei Stunden versäumt hat, im Laufe der Suche nicht mehr einholen kann.

sueddeutsche.de: Doch manche Fälle liegen viele Jahre zurück.

Alte und neue Wege: Mit Handzetteln bittet die Polizei nach dem Verschwinden eines Mädchens in Hannover die Bevölkerung um Mithilfe. Die Initiative "Vermisste Kinder" setzt zudem auf die digitale Suche, zum Beispiel über Videoplattformen. (Foto: Foto: dpa)

Bruhns: Wir haben etwa den Fall eines Mädchens, das vor zehn Jahren in der Silvesternacht verschwunden ist. Die Eltern wollten sie von einer Party abholen, doch weil in der Nacht starker Eisregen herrschte, konnten sie das nicht sofort. Das Mädchen ging zu einer Bushaltestelle, dort verliert sich die Spur. Ein anderer Vater hat die Suche nach seinem Sohn zu seinem Lebensinhalt gemacht. Der Junge war im Urlaub auf Korsika plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, am helllichten Nachmittag. Der Vater hat inzwischen über Jahre hinweg beinahe die ganze Bevölkerung von Korsika angeschrieben. Ohne Erfolg.

sueddeutsche.de: Macht das Warten die Sache für die Angehörigen noch schwerer?

Bruhns: Das quälende Warten und die Unsicherheit sind für die Eltern mit das Schlimmste. Einige geben die Hoffnung auf, dass ihr Kind noch auftaucht. Sie sagen auch tatsächlich, dass ihnen eine Todesnachricht mehr innere Ruhe bringen würde als die Ungewissheit. Damit sie endlich trauern könnten. Andere geben die Hoffnung nicht auf. Deswegen lassen wir auch alle Langzeitvermissten auf unserer Homepage stehen. Wenn es mal eine Störung mit dem Internet gibt, kommen oft ängstliche Anrufe von Eltern. Sie brauchen auch die Suche selbst zur Bewältigung des Verlusts.

sueddeutsche.de: Wie stehen die Chancen, die Kinder so spät noch zu finden?

Bruhns: Ziemlich schlecht. Wenn ein Kind länger als zwei Wochen vermisst wird, schwinden die Chancen erheblich. Wir hatten einen Fall, bei dem das Kind nach eineinhalb Jahren wieder aufgetaucht ist. Solch ein Erfolg nach dieser langen Zeit ist aber die Ausnahme.

sueddeutsche.de: Bei Langzeitvermissten spielt das Processing eine Rolle. Was ist das genau?

Bruhns: Fotos von dauerhaft vermissten Kindern werden am Computer bearbeitet und an das tatsächliche Alter der Verschwundenen angepasst. Bestimmte Gesichtsmerkmale verändern sich, die Augenpartie, der Mund, die Nase. Dazu braucht man Bilder des vermissten Kindes, und am besten welche der Eltern und der Großeltern. Das Anfertigen erfordert viel Fingerspitzengefühl und Geschick. Wir haben gerade eine Mitarbeiterin zur Fortbildung in die USA geschickt, wo die Methoden schon ausgereifter sind.

sueddeutsche.de: Wie gehen die Eltern damit um, wenn sie zum Beispiel die Pubertät ihres Kindes am Bildschirm und nicht in der Realität miterleben müssen?

Bruhns: Es ist für viele ein harter Prozess, sie können die Veränderung am Bildschirm mental nicht richtig verarbeiten. Wir sprechen aber immer mit den Eltern ab, ob sie sich vorstellen können, dass ihr Kind jetzt so aussieht. Nach dem anfänglichen Schock können die meisten das Processing gut nachvollziehen. Und viele drängen sogar darauf, dass das Alter der Vermissten regelmäßig auf den Bildern aktualisiert wird.

sueddeutsche.de: Was erhoffen Sie sich nun vom heutigen Aktionstag?

Bruhns: Der internationale Tag der vermissten Kinder wird seit 1983 am 25. Mai begangen. Der damalige US-Präsident Reagan hat ihn initiiert. Er soll weltweit ein Zeichen gegen das Vergessen setzen. Wir haben eine zentrale Kundgebung in Hamburg und weitere Veranstaltungen in Berlin, Frankfurt am Main, Dresden und Karlsruhe. Es gibt Informationen über vermisste Kinder und die Arbeit der Initiative. Vielleicht kommen neue Hinweise. Wir lassen auch Luftballons steigen, auf denen die Bilder verschwundener Kinder aufgedruckt sind. Es geht uns darum, ein Zeichen zu setzen. Kein vermisstes Kind soll vergessen werden. Deshalb ist das Symbol unseres Aktionstages auch das Vergissmeinnicht.

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