SZ Serie "Die Sinne"- Teil 3:Berührungen für das Leben

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Ohne den Tastsinn könnte der Mensch nicht existieren.

Von Christopher Schrader

Der Kerl sieht aus wie eine Mischung aus Mick Jagger und Muhammed Ali - wie Karikaturisten sie sehen. Er hat einen großen Kopf mit wulstigen Lippen und Hände wie Abrissbirnen.

Ein Blinder liest Braille-Schrift. (Foto: Foto: dpa)

Der Rest des Körpers ist schmächtig, die Arme sind dünner als die Daumen, die Füße kaum so groß wie die Ohren. Bemerkenswert ist nur das Geschlechtsteil: Die Proportionen des Penis scheinen einem schlüpfrigen Cartoon entnommen zu sein.

Doch der Homunculus, wie das Männchen gern genannt wird, ist keine Witzfigur. Man findet ihn in Lehrbüchern der Sinnesphysiologie; auch das Nürnberger Museum "Turm der Sinne" zeigt ihn demnächst als lebensgroßes Symbol für den Tastsinn.

"Seine Hände sind fast so groß, dass man sich hineinsetzen könnte", sagt die Museumsdirektorin Elisabeth Limmer. Der eigenartige Körperbau zeigt die Prioritäten der Wahrnehmung: Je größer ein Körperteil des Homunculus dargestellt ist, desto sensibler ist der Mensch dort, desto mehr Nervenzellen im Gehirn verarbeiten die Wahrnehmung.

Eigentlich ist der ganze Körper das Sinesorgan für den Tastsinn: Anderthalb bis zwei Quadratmeter Haut enthalten Millionen von Sensoren für Druck, Temperatur und Schmerz; in jedem Gelenk registrieren Fühler, wie stark es gebeugt ist, Muskeln und Sehnen erfassen ihre eigene Anspannung.

Aber Lippen, Hände und Geschlechtsorgane, das zeigt der Homunculus, sind besonders empfindlich.

Dennoch ist das Tasten ein vernachlässigter Sinn. Seit Jahrhunderten wird es als niedere Wahrnehmung betrachtet. Der Natur als "Nahsinn" entsprechend taugt die taktile Wahrnehmung kaum für die Erkundung der großen Welt, für tiefere Einsicht oder effektive Kommunikation.

Der Verbindung zu Genuss und Sexualität hat das christlich geprägte Abendland von jeher misstraut. Noch heute gibt es kaum einen Wirtschaftszweig, der seine Produkte auf Fingerspitzen zuschneidet: Es gibt kein Äquivalent zu Gemälde oder Konzert, weder Schokolade noch Parfum für den Tastsinn.

Allenfalls die Wellness-Industrie nutzt mit ihren Massage-Angeboten die Marktlücke.

Magersucht und Tastsinn

Doch wer mit Forschern spricht, erkennt schnell die zentrale Bedeutung, die der Tastsinn für die Entwicklung des Menschen und das ganze Leben besitzt.

Da ist zum Beispiel Martin Grunwald. Der Psychologe von der Universität Leipzig glaubt, dass die lebensbedrohliche Magersucht junger Mädchen und Frauen mit einer Störung des Tastsinns einhergeht.

"Diese Patienten haben ein gestörtes Körperbild - sie fühlen sich fett und aufgedunsen. Und wenn sie versuchen, Formen mit geschlossenen Augen zu ertasten, versagen sie."

Beide Wahrnehmungen, sagt Grunwald, werden im selben Zentrum im rechten Gehirn verarbeitet, die Magersüchtigen hätten dort ein mit dem EEG, also in den Hirnstromwellen, erkennbares funktionelles Defizit.

Darum hat Grunwald im vergangenen Jahr eine betroffene Studentin mit einem Neoprenanzug "behandelt". Dreimal am Tag, 15 Wochen lang, zwängte sich die junge Frau in den engen Dress, jeweils eine Stunde lang hat die Kunststoffhülle dann gegen die Haut gedrückt.

Am Ende zeigten die EEG-Wellen deutlich mehr Aktivität, "und auch das Gewicht ging nach oben", sagt Grunwald. Er erwartet nicht, dass die Frau nun geheilt sei: "Sie war 14 Jahre krank, das dreht man nicht in vier Monaten zurück. Aber es ist ein Hinweis, dass die Idee richtig ist."

Was im Gehirn der jungen Frau passiert sein könnte, zeigt auch die Arbeit von Hubert Dinse. Der Forscher von der Universität Bochum schnallt seinen Versuchspersonen kleine Lautsprecher auf die Fingerkuppen.

Ständig feinfühliger

Die Membran drückt etwa einmal pro Sekunde sanft auf die Haut, und innerhalb von drei Stunden werden die Probanden feinfühliger. "Die Fähigkeit, zwei nebeneinander liegende Spitzen beim Tasten auseinander zu halten, nimmt um 15 bis 20 Prozent zu", erzählt Dinse, "von einem durchschnittlichen Mindestabstand von 1,5 Millimeter auf etwa 1,2 Millimeter."

Diese Änderung der Sensibilität korrespondiere mit einer Zunahme des zuständigen Bereichs in der Großhirnrinde, wie Kernspin-Bilder belegten. "Das Areal der Fingerkuppe, also quasi der Finger des Homunculus, wird größer - umso größer, je mehr sich das Tastvermögen der Versuchsperson verbessert", sagt Dinse.

Der Effekt hält nur einen Tag an, der Bochumer Forscher sucht daher nach Mitteln, die Veränderung zu stabilisieren. Interessant wäre das vor allem für alte Menschen, deren Tastsinn nachlässt.

Ständige Rückmeldung

Sie können oft nicht einmal Spitzen unterscheiden, die drei Millimeter auseinander stehen. Eine bessere Wahrnehmung könnte ihnen zum Beispiel helfen, Hemden oder Blusen zuzuknöpfen. Denn diese Fähigkeit beruht nicht nur auf der Motorik - die Muskeln in den Finger brauchen die ständige Rückmeldung des Tastsinns.

"Wenn sie einem jungen Menschen die Fingerkuppen betäuben, bringt der keinen Knopf mehr zu", sagt Dinse.

Die Verbesserung der Sensibilität hat aber Grenzen, so der Bochumer Forscher: "Für Sehende ist es zum Beispiel extrem schwer, ihren Tastsinn so zu schulen, dass sie Braille lesen können" - die Buchstaben der Blindenschrift bestehen aus erhabenen Punkten.

Wenn jemand erblindet, kann der Tastsinn nicht mehr genutzte visuelle Areale im Gehirn übernehmen; bei Geburtsblinden vermag das Nervenzentrum sogar den primären visuellen Kortex umzuwidmen, wo sonst die Sehnerven Bilder ins Hirn speisen.

Lebenswichtige Streicheleinheiten

Eine zentrale Bedeutung hat die taktile Wahrnehmung auch bei Neugeborenen, ihr Überleben und womöglich die intellektuelle Entwicklung hängen davon ab. "Babys kommunizieren zunächst vor allem über die Haut, erfahren so Geborgenheit und Trost", sagt Christiane Kiese-Himmel von der Universität Göttingen.

Fehlen die liebevollen Berührungen, können Kinder daran sterben. Zudem glaubt die Forscherin, dass Babys mit den Eindrücken, die beim Betasten oder Ablutschen von Spielzeug entstehen, die Basis für abstrakte Konzepte und innere Bilder legen - und damit die Grundlage der Sprachentwicklung.

Auch wenn Kiese-Himmel einräumt, dass ihre These noch nicht bewiesen sei, sprechen viele Indizien dafür. So weist zum Beispiel der Züricher Intelligenzforscher Rolf Pfeiffer darauf hin, dass Babys durch ihre größere Muskelanspannung fast jeden Gegenstand, den sie erwischen, in Richtung Mund bewegen.

Dort liefern dann sowohl Hände als auch Lippen und Zunge Eindrücke, die das Gehirn zum Gesamtbild zusammensetzt.

Die Bedeutung des Tastsinns für die intellektuelle Entwicklung belegen auch die Versuche der französischen Forscher Edouard Gentaz und Pascale Colé.

Sie haben Fünfjährige darin trainiert, die Buchstaben a, i, r, t, p und b zu erkennen. Durften die Kinder die Buchstaben nicht nur ansehen, sondern auch Reliefmodelle von ihnen anfassen, lernten sie in der gleichen Zeit doppelt so viele Phantasiewörter wie "ita" oder "ari" zu lesen.

Erst seit kurzem findet die Erforschung des Tastsinns auch das Interesse von Technikern: Designer verstehen, dass die Fingerspitzen etwa beim Autokauf mitreden.

Offener Kommunikationskanal

Entwickler ferngesteuerter Maschinen erkennen, dass sie den Menschen ein "Gefühl" dafür geben müssen, was sie auslösen - der Bagger oder das Skalpell müssen der Hand am Kontrollhebel zurückmelden, wenn sie auf Widerstand stoßen.

Und Sicherheits-Experten glauben, sie könnten - etwa im Cockpit eines Flugzeugs - zuverlässig die Aufmerksamkeit des Piloten erringen, wenn sie etwas an seiner Hand oder in seinem Nacken vibrieren lassen.

Der Tastsinn, so die gemeinsame Basis all dieser Ideen, eröffnet in der reizüberfluteten Welt einen Kommunikationskanal zum Hirn, der noch nicht verstopft ist.

© SZ vom 30.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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