Süddeutsche Zeitung Junge Bibliothek:Band 38: Saids Geschichte von Sigrid Heuck

Lesezeit: 19 min

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits erreicht, als die fünf Reiter an einer geheimnisvollen Lehmburg vorüberkamen. Über einem ihrer Türme flatterte eine goldene Taube. Sie war an einer Stange befestigt, doch im gleißenden Licht der Sonnenstrahlen kam es Abouli vor, als sei sie lebendig.

Von diesem Augenblick an grübelte der Junge darüber nach, wer sie dort befestigt haben könnte und warum? Doch er fand keine Erklärung dafür. Der Wüstenwind scheuchte die feinen Sandkörner über die Dünenbuckel und ließ sie in langen Fahnen über die Kanten schwirren. Alles war in Bewegung. Wie ein Hirte seine Schafe, so trieb der Wind die Dünen vor sich her und zwang sie zu wandern. Nur selten gönnte er ihnen eine Ruhepause. Aboulis Vater Achmed führte die kleine Karawane nach Südwesten. Die hohen Dünen umging er, weil er wusste, dass die Kamele weder den mühseligen Anstieg noch das Rutschen des Sandes beim Abstieg liebten. Beides kostete Kraft. Achmed war der Anblick der Sandbuckel, denen der Wind Wellen in die Haut blies, vertraut. Er kannte die Wüste mit ihrer unendlichen Weite, die Stille, die Einsamkeit und die tödliche Gefahr, die demjenigen drohte, der sich täuschen ließ und den richtigen Weg verfehlte. Ein Karawanenführer musste mit allem sparsam umgehen, mit dem Wasser, dem Futter für die Kamele, der Nahrung, dem Feuerholz und der Kraft des Schwächsten unter ihnen. Der Schwächste in Achmeds Karawane war Abouli, sein jüngster Sohn. Für ihn war es der erste lange Wüstenritt. Sie hatten die Kel Adjer besucht, einen Stamm, der seine Herden weit im Norden weiden ließ, viele Tagesritte von ihren ei genen Weidegründen entfernt. Die Kel Adjer gehörten wie Achmed und seine Familie zum Volk der Tuareg. Ein heftiger Windstoß peitschte Sand in das Gesicht des Jungen. Rasch zog er sich seinen Gesichtsschleier über die Nase, sodass nur ein kleiner Sehschlitz offen blieb. In seinem am Sattel befestigten Wasserkanister gluckerte es. Er war fast leer, aber morgen Abend sollten sie einen Brunnen erreichen. In cha' allah, wie Allah es fügt, dachte Abouli. Hoffentlich ist er nicht ausgetrocknet. Er war zwölf. Dreimal so alt wie Arusha, seine Kamelstute. Sein Vater hatte sie ihm als Fohlen geschenkt und Abouli hatte sie selbst aufgezogen. Als sie alt genug war, hatte er sie unter der Anleitung Khalids, seines älteren Bruders, zugeritten. Abouli hing sehr an Arusha. Sie war sein kostbarster Besitz. "Urd! Urd!", feuerte sie der Junge an. "Vorwärts! Schneller!" Arusha beschleunigte ihre Schritte und verringerte so den Abstand, der zwischen ihr und Khalids zweitem Kamel entstanden war. Alle außer Abouli hatten ein zweites Mehari dabei, dessen Nasenzügel so lang war, dass es sich hinter dem Reitkamel einordnen konnte. Das vergrößerte den Abstand von einem Reiter zum nächsten und machte eine Unterhaltung unmöglich. Vor Khalid ritt Abdullah, Aboulis Großonkel. Er war ein alter weiser Mann, den alle um Rat fragten, wenn sie Sorgen hatten. Er hatte junge, wachsame Augen, denen nichts entging und denen man ansehen konnte, ob er gerade lachte oder böse war, auch wenn er den Schech über die Nase gezogen hatte. An der Spitze des Zuges ritt Achmed und am Schluss Takajedu, der Bruder von Aboulis Mutter, dem sie, seiner gebogenen Nase wegen, den Spitznamen "Geier" gegeben hatten. Manchmal trieb Abouli Arusha an, ritt an Khalid und Abdullah vorbei zu seinem Vater nach vorne, doch Achmed war schweigsam. Er hatte auf den Weg zu achten. Da redete er nicht gern. Die Sonne stieg höher. Achmed verzichtete auf eine Rast. Er trieb zur Eile. Sie hatten nur noch wenig Wasser. Ab und zu ließ er sich aus dem Sattel gleiten. Dann ging er mit weiten wiegenden Schritten vor seinem Kamel her. Wie immer beobachtete er seinen Schatten, achtete auf die Richtung des Windes und die Neigung der Dünen, suchte nach Landmarken, einem Kameldornbusch, einem besonders geformten Fels oder einem Hügel in der Ferne, der, zuerst nur als Schemen erkennbar, über dem wabernden See aus erhitzter Luft auftauchte. Erst wenn Achmed glaubte, dass er dem Tier sein Gewicht wieder zumuten konnte, zog er im Gehen den großen Kopf zu sich herunter, setzte mit einem langen Schritt den linken Fuß in den Kamelnacken und schwang sich hoch, ohne den Fluss der Vorwärtsbewegung zu stören. Es war ein fließendes Heraufschwingen, ein leichtes In-den-Sitz-Gleiten, weich, ohne zu stoßen, ein Ergebnis jahrelanger Übung, das Abouli sehr bewunderte und das er sich vergeblich nachzuahmen bemühte. Allmählich ließen sie das Dünengebiet hinter sich. Die Gegend wurde flacher und war bald von vielen Steinen übersät, zwischen denen ab und zu gelbe Grasbüschel wuchsen. So war es auch am Morgen gewesen. Der wabernde See war zurückgewichen und ein Hügel, den Achmed schon lange erspäht hatte, nahm deutliche Formen an. Abouli konnte sich nicht daran erinnern, die großen, von Sand und Wind rund geschliffenen Felsbrocken auf dem Hinweg gesehen zu haben. Erst als sie näher gekommen waren, hatte er die Lehmburg erkannt. Eine lang gestreckte, zerbröckelnde Mauer verband drei Türme miteinander. Einer von ihnen verjüngte sich nach oben und endete in einer von Eckzinnen begrenzten Plattform. Alles sah so aus, als sei es unbewohnt, die zerbröckelnden Mauern und verfallenen Türme sowie ihre Farbe, die sich kaum von der Farbe des Felsfundaments unterschied. Aber da war die Taube gewesen, die goldglänzende, an einer Stange befestigte Taube. Die Stange stand auf der Plattform des höchsten Turmes. Das sah aus wie ein Zeichen, das nur der verstand, dem es galt. "Sieh mal!", hatte Abouli seinem Vater zugerufen. "El-Hamama! Wohnt da jemand?" Doch Achmeds Antwort musste der Wind verschluckt haben. Die Karawane ritt in einem Bogen um den Hügel herum. "Niemand weiß genau, ob da jemand wohnt", erklärte der alte Abdullah später dem Jungen. "Wir Kel Air meiden diese Stelle, weil viele von uns die Türme für eine Geisterburg halten, für die Behausung der Kel Essouf, der Leute des Windes und der Einsamkeit. Sie wollen in Frieden gelassen sein. Niemand darf sie stören." Während dieser Unterhaltung war ein anhaltender Ton an ihre Ohren gedrungen. Zuerst schien er nur wie entferntes Weinen, das an- und abschwoll. Doch kurze Zeit darauf hatte es sich zu einem Jaulen verstärkt, das plötzlich abbrach, dann wieder begann und schließlich in einem langen Seufzer erstarb. "Hört ihr den Wind?", hatte Khalid den anderen zugerufen. "Wie er sich in den Felsen fängt?" Doch Abouli war es so vorgekommen, als sängen die Geister. Im grellen Licht unter dem fast weißen Himmel waren die Mauern mit den darunter liegenden Steinen zu einer Einheit verschmolzen. Obwohl Abouli die Füße vom Nacken seines Kamels nahm, ein Bein über das Sattelhorn schlug und schließlich seitlich im Sattel gesessen hatte, konnte er nichts anderes erkennen als zerbröckelnde Mauern, Türme und darüber die goldglänzende Taube. Trotz der sie umgebenden Helligkeit und Weite hatte das alles auf ihn einen geheimnisvollen, fast unheimlichen Eindruck gemacht. Waren sie nicht mindestens einen Tagesritt von einem Brunnen und viele Tagesritte von der nächsten Siedlung entfernt? Abouli nestelte den weißen Plastikkanister vom Sattel und nahm einen Schluck. Er rollte das Wasser eine Weile im Mund hin und her, um die trockene Zunge aufzuweichen. Mehr als einen Schluck gönnte er sich nicht. Dass es abgestanden und scheußlich nach heißem Plastik schmeckte, nahm er nicht zur Kenntnis. Natürlich ist das Wasser aus einem Ziegenhautsack kühler und schmackhafter, aber die Gerbas hingen an Achmeds Hand-Kamel. Nur am Abend erhielt jeder von ihnen eine Ration Wasser daraus. Unterwegs mussten sie aus den Kanistern trinken. Sie ritten weiter. Der Steinhügel mit der verfallenden Burg war hinter ihnen im Dunst verschwunden. Solange den Reitern die Sonne auf den Rücken schien, brachte der Wind etwas Kühlung. Doch bald stand sie schräg vor ihnen und ohne die weiten Baumwollgewänder und ohne den Schech wäre die Hitze nur schwer zu ertragen gewesen. Der alte Abdullah begann einzudösen. Khalid erging sich in Erinnerungen an ihren Besuch bei den Kel Adjer und an ein Mädchen, das er dort kennen gelernt hatte. Abouli hing eben falls seinen Gedanken nach und der "Geier" summte ein Lied vor sich hin. So verging Stunde um Stunde. Der wabernde See aus heißer gleißender Luft umgab sie nun auf drei Seiten. Wer seinen Anblick nicht gewöhnt war, konnte annehmen, er befände sich auf einer Halbinsel. Aber sie schienen nicht vorwärts zu kommen. Ständig wich er vor ihnen zurück. Abouli hatte die nackten Füße locker auf Arushas Nacken gelegt. Er blickte über ihren Kopf nach vorne, aber er schaute in die Ferne, ohne etwas zu erkennen. Abdullah hatte von den Kel Essouf gesprochen, von denen er annahm, dass sie die verfallene Burg bewohnten. Die Kel Essouf waren keine Menschen aus Fleisch und Blut, so wie es die Kel Air oder die Kel Adjer, die sie gerade besucht hatten, waren. Es waren Geister, Unsichtbare oder Djinn, wie sie auch genannt wurden. Doch was hatte die Taube mit ihnen zu tun? Es war eine Taube im Flug, wie sie die Falken zu jagen lieben. Aber sie sah aus, als sei sie aus Gold. Eine Stange hielt sie am Boden fest. Erst durch einen Ausruf des ,Geiers' schreckte Abouli hoch und entdeckte die schwarze Gestalt, die aus dem flirrenden See auf sie zukam. Achmed, der gerade zu Fuß ging, schwang sich rasch in den Sattel. Im schrägen Licht erschien ihm der fremde Reiter nur als dunkle Silhouette, deren Ränder von der flimmernden Luft in ständiger Bewegung gehalten wurden. Es schien, als löse sich die Gestalt gleich wieder auf, als flösse sie auseinander, würde durchsichtig und verschmelze mit den Hügelketten im Hintergrund. Sie tauchte aus dem spiegelnden See auf, als käme sie von unten aus dem Nichts. Der Fremde näherte sich rasch. Achmed hielt an und erwartete ihn. "Assalamu aleikum! Friede sei mit dir!", sagte der Fremde. Sein schwarzer, über die Nase gezogener Schech ließ weder erkennen, wie alt er war, noch, ob er gute oder böse Absichten hatte.

"Aleikum assalam!", grüßte Achmed zurück. "Darf ich den Weg mit euch teilen?" Die weite indigoblaue Gandoura des Reiters wurde mit einem Gürtel zusammengehalten, in dem ein silberner Dolch steckte. Noch nie hatte Achmed ein ähnlich schönes Stück zu Gesicht bekommen. "A'kid", antwortete er. "Gewiss." Es gab keinen Grund, die Begleitung des Fremden abzulehnen. Er ritt ein starkes weißes Kamel, das außer dem Reiter und der fast leeren Gerba noch eine prall gefüllte Satteltasche trug. An ihren Nähten hingen lange Fransen. Der fremde Reiter setzte sich an den Schluss des Zuges. So verlangte es die Ordnung. Nur mit Mühe unterdrückte Abouli seine Neugier. Er hätte gern gewusst, wer der Reiter war, woher er kam und warum er allein unterwegs war. Allein durch die Wüste zu reiten erforderte große Erfahrung. Vielleicht war er ein großer Caid, ein Stammesführer? Oder ein Räuber? Er hätte ihm gern einige Fragen gestellt, doch er hielt sich zurück. Er wusste, dass sein Vater dies nicht billigen würde. Allmählich senkte sich die Sonne im Westen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie hinter den Hügeln verschwand. Der See aus heißer Luft hatte sich aufgelöst. Der weiße Himmel färbte sich wieder blau und Achmed begann sich nach einem Lagerplatz umzusehen. Er fand ihn in einer Senke, am Rande eines Wadis. "Usch-sch-sch!", zischte er seinem Kamel zu, das sich gehorsam niederlegte. Da forderten alle anderen ebenfalls ihre Kamele zum Hinlegen auf. Sie nahmen ihnen die Sättel und Packtaschen ab, auf denen die Gerbas, das Brennholz, die Grasbündel sowie die Säcke mit Hirse, Datteln und Trockenfleisch festgebunden waren. Dann knoteten sie die Zügel vom Nasenring und banden damit den Tieren die Beine zusammen. Kaum waren sie mit allem fertig, berührte die Sonne die oberste Kante der Hügelkette im Westen. Es wurde Zeit für das Abendgebet. Sie wendeten sich nach Osten. Mekka lag dort, das größte Heiligtum aller Muselmanen. Dann hoben sie die Hände mit den Handflächen nach außen und beteten still. "Allahu akbar", beteten sie. "Gott ist groß. Eshadu la allah illa'allah! Ich bezeuge, dass nur Gott der Herr ist. Allahu akbar! La allah illa'allah!" Sie knieten sich hin und verbeugten sich dreimal so tief, dass ihre Stirnen den Sand berührten, und jeder fügte noch eine ganz persönliche Bitte an sein Gebet. Khalid bat ihn um Hilfe bei der Gewinnung einer Braut. Takajedu, der "Geier", wünschte sich eine fette Ziege, die er nach ihrer Heimkehr schlachten könnte. Achmed hoffte, dass die Brunnen auf ihrem Weg nicht ausgetrocknet wären, und Abouli auf eine Gelegenheit, mit dem Fremden in ein Gespräch zu kommen. "Oh Allah", betete der Fremde. "Der erbärmlichste deiner Diener sagt dir Dank dafür, dass er diese Reiter getroffen hat. Die Einsamkeit ist oft schwer zu ertragen." Danach stand Achmed auf und gab damit das Zeichen, an die Zubereitung des Abendessens zu denken. Khalid zündete ein Feuer an, während der "Geier" die Kamele fütterte. Abouli schleppte einen Sack mit der Hirse und den getrockneten Datteln herbei und reichte seinem Vater alles zu, was er sonst noch brauchte. Nur der alte Abdullah blieb mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden sitzen. Er beobachtete mit müden Augen, wie sich das Licht hinter die Berge zurückzog, wie sich der Himmel über ihnen allmählich verdunkelte und dort, wo die Sonne gerade untergegangen war, ein rosafarbener Schimmer den Horizont erhellte. Der alte Abdullah genoss den Vorzug des Alters, sich von den Jungen bedienen zu lassen. Die Wüstennacht umgab sie wie ein schwarzes Zelt. Nur die schmale, auf dem Rücken liegende Mondsichel und ein paar Sterne standen über dem Lager. Der Wind hatte sich gelegt und es war still. "Du bist unser Gast", sagte Achmed zu dem Fremden, als er sah, dass dieser Anstalten machte, sich sein eigenes Feuer anzuzünden. "Shukran", antwortete er. "Danke." Sie hatten ihre Gesichtsschleier gelockert und sie bis unter das Kinn rutschen lassen. Auch der Fremde hatte das getan und Abouli sah ihn zum ersten Mal unverschleiert im kärglichen Schein des kleinen Lagerfeuers. Es war das Gesicht eines Mannes, der nicht mehr jung und noch nicht alt genannt werden konnte. Und doch hatte er gerade so viele Jahre gelebt, dass seine wesentlichen Charakterzüge ihre Zeichen darin hinterlassen hatten. Mut, aber auch Unmut, Geduld, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, Entschlossenheit und vergangener Kummer waren aus den Falten und Fältchen um Augen, Nase und Mund abzulesen. Er lächelte selten, und wenn er es tat, entblößte er eine Reihe weißer Zähne. Er trug keinen Bart, so wie es viele Männer seines Alters taten, und wenn man von dem silbernen Dolch in seinem Gürtel absah, trug er auch keinen Schmuck. Nur eine kleine Amuletttasche hing um seinen Hals. Sie war verziert mit bunten Lederflecken und langen Fransen. Abouli fühlte sich zu ihm hingezogen. Er wusste nicht, warum. Irgendwie ging ein Zauber von ihm aus. Vielleicht war es auch nur das Fremde an ihm. Er war aus dem See auf sie zugeritten, dem See, der nur eine Luftspiegelung war. Vielleicht war er ebenfalls nur eine Luftspiegelung? Allmählich wurde es kühler. Sie warteten darauf, dass die Hirse gar würde. "Ich heiße Achmed." Aboulis Vater wendete sich dem Gast zu. "Das", er zeigte auf Abdullah, "ist Hadji Abdul Rachman ibn Machmoud und neben ihm sitzen Takajedu, den wir den ,Geier' nennen, sowie Khalid und Abouli, meine Söhne." Er machte eine Pause. "Und wer bist du?", fragte er dann. "Suleiman el-Hakayati", erwiderte der Fremde. "El-Hakayati, ein Märchenerzähler", flüsterte Khalid seinem Bruder zu, worauf Abouli herausplatzte: "Erzählst du uns eine Geschichte?" "Jimkin", antwortete Suleiman. "Vielleicht, irgendwann." Als die Hirse endlich gar war, holte jeder einen Holzlöffel aus der Tasche. Sie aßen den leicht gesalzenen Hirsebrei gemeinsam aus einem Topf. Dazu gab es Wasser aus der Gerba. Danach bereitete der "Geier" noch Tee zu. Er goss ihn in Gläschen, von denen sich jeder eines nahm. Sie schlürften das süße heiße Getränk in kleinen Schlucken. Später suchte sich jeder einen Schlafplatz, der möglichst frei von Steinen war. Auch Abouli wickelte sich in seine Satteldecke und legte sich in die Nähe des Feuers. Eine Weile starrte er noch in die Glut, beobachtete, wie sie beim leisesten Luftzug aufglomm und gleich wieder in sich zusammenbrach. Dann schlief er ein. Abdullah weckte sie noch vor Sonnenaufgang. Nachdem sie Tee und einige getrocknete Datteln zu sich genommen hatten, teilte Achmed jedem noch etwas Wasser zu. Sie verrichteten ihr Morgengebet, sattelten die Kamele und stiegen auf. "Urd! Urd!", riefen sie. "Vorwärts!" Und ritten los, dem nächsten Brunnen entgegen. An diesem Morgen ergab es sich, dass der Fremde hinter Abouli ritt. Der "Geier" zog es vor, am Schluss zu reiten. Es war ihm lieber so. Deshalb brauchte Abouli Arusha nur ein wenig aus der Spur treten zu lassen und sie dann zurückzuhalten, bis Suleimans Mehari mit ihm auf gleicher Höhe lief. Mit der steigenden Sonne verschwand die Kühle der Nacht. Wieder trieb der Wind den Sand hoch und schlug ihn den Männern ins Gesicht. Wie die anderen zog auch Abouli den Schech über die Nase. In seinem Kopf schwirrten viele Fragen herum, doch er wusste nicht, wie er ein Gespräch anfangen könnte. "Du reitest ein schönes, starkes Kamel", sagte er schließlich. "Du auch", gab Suleiman das Lob zurück. Abouli hörte es gern, wenn jemand Arusha bewunderte. Für ihn war sie das schönste Kamel auf der Welt. Er schwieg eine Weile und versuchte dann, das Gespräch von neuem in Gang zu setzen. "Lebst du vom Geschichtenerzählen?", fragte er schließlich. Suleiman nickte. "Dann geben dir die Leute Geld dafür, dass du sie unterhältst?" "Geld oder etwas zu essen", erklärte der Hakayati. "Ich ziehe von Souk zu Souk, stelle mich dort an eine Straßenecke und fange an. Zuerst bleibt nur einer stehen, dann werden es immer mehr. Je nachdem, wie spannend meine Geschichte ist, sammeln sich oft viele Zuhörer um mich herum. Manchmal werde ich auch in die Khaimas eingeladen oder ein vornehmer Sayid bittet mich in seinen Palast." "Und woher kennst du die Geschichten, die du erzählst?", wollte Abouli wissen. "Ich ging bei einem alten Mann in die Lehre. Er war ein berühmter Hakayati." "Und von wem hatte sie dein Lehrer?" "Von einem anderen Meister." "Und der?" "Wieder von einem anderen." "Aber irgendjemand muss sie doch einmal erfunden haben?" "Das glaube ich nicht. Ich glaube, sie sind mit der Zeit von selbst entstanden." "Von selbst? - Einfach so?" Abouli wischte mit einer großen Handbewegung über die sich vor ihm ausbreitende Wüste. Etwas, das aus dem Nichts entstand, war für ihn gleichbedeutend mit Zauberei. Vielleicht hatten die Kel Essouf damit zu tun? "Du meinst, sie stammen von Geistern?" Obwohl er schon oft zugehört hatte, wenn eine der Frauen am Feuer ein Märchen erzählte, hatte er sich doch noch nie überlegt, woher die Erzählerinnen ihre Geschichten kannten und ob es da jemanden gab, der sie irgendwann einmal erfunden hatte. "Nein, nein, mit Geistern hat das nichts zu tun", erklärte Suleiman ihm. "Der Anfang kann ein Ereignis gewesen sein, vielleicht auch nur ein Traum, den jemand erzählte und in dem wundersame Dinge geschehen waren." "Ein Traum!", rief Abouli ungläubig. "Ja, ein Traum", wiederholte Suleiman. "Mein Lehrer erzählte mir einmal die Geschichte von einem Chinesen, der träumte, er sei als ein Schmetterling über die Wiese geflattert. Und als er wieder aufwachte, wusste er nicht mehr, ob er ein Mensch war, der nur träumte, er sei ein Schmetterling gewesen, oder ob er vielleicht ein Schmetterling war, der gerade träumte, er sei ein Mensch. Lange grübelte er darüber nach. Doch er kam zu keinem Ergebnis. Weil es vielen Leuten so wie ihm erging, erzählten sie sich ihre Träume gegenseitig. Diejenigen aber, die wenig träumten, erzählten die Träume der anderen, so, als hätten diese sie wirklich erlebt. Die Geschichten gingen von Mund zu Mund und mit der Zeit veränderten sie sich." Suleiman holte sich eine kleine lederne Feldflasche, die an einem Riemen über dem Sattelhorn hing. Er schob mit einer Hand den Schech zur Seite und trank. Abouli wartete geduldig, bis er fertig getrunken hatte. "Dann ist jedes Märchen einmal ein Traum gewesen?", fragte er. "Nicht jedes", sagte Suleiman. "Es kann auch eine wahre Geschichte gewesen sein." "Aber wie kommt dann Zauberei hinein?" Ohne Zauberei, ohne Geister, Feen und durch die Luft fliegende Teppiche war ein Märchen kein Märchen für ihn.

"Das geht ganz schnell." Der Junge sah an Suleimans Augen, dass er lächelte. "Erzähl mir irgendetwas!" "Was?", fragte Abouli. "Irgendein Erlebnis, ein Abenteuer, das irgendjemandem in deiner Nähe kürzlich zugestoßen ist!" Der Junge überlegte eine Weile. Mit weichen Tritten folgte Arusha einem Pfad, der über den mit Kieselsteinen bedeckten Boden führte. Dieser Pfad war das erste Anzeichen dafür, dass sie sich dem Wasserloch näherten. Ali fiel ihm ein, ein Junge der Kel Adjer, dem sein Kamel davongelaufen war. Ali hatte ihm erzählt, was er erlebt hatte, bis er es wieder fand. Abouli berichtete Suleiman davon. "Wissen das auch die anderen?", fragte der Hakayati, als Abouli geendet hatte. Der Junge schüttelte den Kopf. "Das ist gut. Erzähle dem ,Geier' die Geschichte und warte dann, was weiter geschieht!" Abouli hielt Arusha zurück, bis sie neben Takajedus Kamel herlief. "He, Abouli", rief der "Geier" erstaunt. "Was gibt mir denn die Ehre?" "Hab ich dir schon erzählt, was Ali mit seinem Kamel passiert ist? Du erinnerst dich doch an Ali, den Jungen bei den Kel Adjer?" "Aber natürlich", brummte der "Geier", der gerade wieder an die fette Ziege dachte, die er schlachten wollte. "Was war denn so Besonderes mit ihm?" Und Abouli versuchte dem "Geier" die Geschichte so wahrheitsgetreu wie möglich zu erzählen. "Als Ali eines Morgens erwachte, war sein Kamel verschwunden. Alle anderen Kamele waren da, nur seines nicht. Ali fand die Fußfessel im Sand. Wahrscheinlich war der Knoten aufgegangen. Da stellte er sich vor, was er machen würde, wenn er ein Kamel wäre, dessen Fessel sich gelöst hatte. Weglaufen würde er, irgendwohin, wo es fettes Gras oder Kameldornbäume gäbe. Also machte er sich gleich auf den Weg, weil er eine Stelle kannte, wo so etwas wächst. Unterwegs scheuchte er eine Gazelle auf. Ach, wenn ich sie nur fragen könnte, ob sie mein Mehari gesehen hat, dachte er. Dann ging er weiter. Auf einmal flog ein großer, schwarzer Vogel vor ihm hoch. Er hatte einen roten Schnabel. Mal sehen, wo er hinfliegt, dachte Ali. Der Vogel flog hinter den nächsten Hügel und Ali folgte ihm. Und dort, hinter dem nächsten Hügel, fand er das Kamel. Es stand unter einem großen Kameldornbaum und fraß die Äste ab. Neben ihm stand ein zweites Kamel. Eines, das niemandem gehörte. So bekam Ali sein Mehari zurück und noch ein Kamel dazu. Hamdulillah, Allah sei Dank!" "Da hat er aber Glück gehabt", sagte der "Geier", als Abouli schwieg. "Das finde ich auch", antwortete Abouli. Er trieb Arusha wieder an und zwängte sie hinter Suleimans Mehari in die Reihe der anderen. Die Sonne stieg höher. Der Himmel wurde weiß und in dem See aus heißer Luft spiegelten sich die fernen Hügel. Ab und zu kamen sie an niederen Dornbüschen vorbei, aus denen kleine Vögel aufflogen. Eine Wüstenspringmaus hüpfte in komischen Sprüngen davon. Suleiman gab dem Jungen einen Wink anzuhalten. Takajedu zog vorbei. Er ritt an Khalids Seite. "Hast du die Geschichte schon gehört von Ali, dem Sohn des Amenokal der Kel Adjer?", fragte er Khalid. "Nein, erzähl!" Khalid war um jede Abwechslung froh, die ihm die Zeit verkürzte. "Eines Morgens vermisste Ali sein Kamel. Es hatte in der Nacht seine Fesseln abgestreift und war davongelaufen. Ali überlegte, was er tun könnte, um es wiederzubekommen. Da kam er sich auf einmal selbst wie ein Kamel vor. Er lief davon und begegnete einer Gazelle. ,Hast du mein Mehari gesehen?', fragte er die Gazelle. Aber sie flüchtete ohne zu antworten. Da flog ein riesengroßer, schwarzer Vogel vor ihm auf. Er hatte einen blutroten Schnabel. Ali folgte ihm, so schnell er konnte. Und wirklich, hinter dem nächsten Hügel fand er sein Mehari und neben ihm ein zweites Kamel." "Und der riesengroße, schwarze Vogel, wo war der?", wollte Khalid wissen. "Der war verschwunden. Doch ich vermute, es war der Vogel Greif." "Kennt unser Vater diese Geschichte schon?" "Das glaube ich nicht", sagte der "Geier". "Dann muss ich sie ihm gleich erzählen." Khalid trieb seine Kamele an, bis er Achmed erreicht hatte, der wieder einmal zu Fuß ging. "Der ,Geier' hat mir eben eine Geschichte erzählt, die vor ein paar Tagen bei den Kel Adjer passiert sein soll", begann er. "So", sagte Achmed ohne große Begeisterung. Er behielt einen auffallend geformten Hügel im Blick, der ihm die Richtung anzeigte, die er einhalten musste. "Willst du sie nicht hören?" "Doch, doch." "Also", begann Khalid. "Bei den Kel Adjer gibt es einen Jungen, der heißt Ali ..." Und er erzählte seinem Vater die Geschichte, so wie er sie im Gedächtnis behalten hatte. "Das muss ich Abdullah erzählen", rief Achmed, als Khalid geendet hatte. "Solche Geschichten hört er gern." So gab er Alis Abenteuer an Abdullah weiter. Wieder einmal veränderte sich die Wüste. Das Land wurde flacher. Hie und da hatte der Wind ein paar Sicheldünen zusammengeblasen. In der Gluthitze des Mittags waren die fernen Berge nur noch als Schattenrisse erkennbar. Das rhythmische Knarren der Sättel und das Schleifen und Knirschen der Kamelfüße auf dem harten Boden beherrschten die Stille. Der alte Abdullah hing seinen Gedanken nach. Die Geschichte, die Achmed ihm erzählt hatte, beschäftigte ihn sehr. Es war eine wunderliche Geschichte. Zuerst ging ein Kamel verloren, dann verschwand auch noch eine Gazelle, dafür tauchte ein Riesenvogel auf, dessen Schnabel blutverschmiert war. Er verschwand ebenfalls und an seiner Stelle war auf einmal das verloren gegangene Kamel wieder da und ein zweites auch noch. Der alte Abdullah schüttelte seinen Kopf so sehr, dass sein Schech ins Rutschen kam. Er zog ihn wieder hoch. Die Hitze setzte ihm zu. Manchmal hatte er Mühe, seine Gedanken in Ordnung zu halten. Vieles vergaß er, manches verwirrte sich, kreiselte durcheinander und ließ sich nicht mehr einfangen. Am schlimmsten war es, wenn es heiß wurde. Dann fiel es ihm schwer, sich zu erinnern. Also, was hatte Achmed erzählt: Ein Kel Adjer-Junge verwandelte sich in ein Kamel, das von einem Vogel Greif angegriffen wurde. Der schwarze Vogel konnte nur der Vogel Greif gewesen sein. Was denn sonst? Aber halt, da war doch noch eine Gazelle. Was hatte die damit zu tun? Abdullah fühlte sich schläfrig. Er nickte ein. Sein Kopf sank nach vorne. Er hatte sein Leben lang Zeit gehabt, sich darin zu üben, nicht aus dem Sattel zu rutschen, wenn er schlief. Bald bemerkte er nicht mehr, was um ihn herum vorging. Er spürte nicht, dass die Kamele auf einmal ihre Schritte beschleunigten, sah nicht, dass zwischen den Büschen ab und zu Bäume standen und eine Vielzahl ausgetretener Pfade auf einen bestimmten Punkt hinliefen. Erst als das Mehari stehen blieb, riss er die Augen wieder auf. Die kleine Karawane hatte auf einer von Kameldornbäumen umgebenen Lichtung Halt gemacht. In der Mitte des Platzes bezeichneten drei gegeneinander gestellte Stangen die Stelle, an der sich das Wasserloch befand. "Sieh nach, ob Wasser drin ist!", befahl Achmed seinem jüngsten Sohn. "Usch-sch-sch!", sagte Abouli zu Arusha. Sie legte sich hin. Der Junge sprang aus dem Sattel und lief zu dem Brunnen. Jemand hatte das Loch notdürftig mit ein paar verdorrten Ästen abgedeckt. Abouli räumte sie zur Seite und sah hinunter. Aber er konnte nichts entdecken, nur finstere Tiefe. Da legte er sich auf den Bauch und hängte den Kopf hinein und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er tief unten die dunkle, glänzende Wasseroberfläche. Er erkannte den Himmel in ihr und sich selbst. Doch als ein kleiner Sandbrocken vom Rand abbröckelte und nach einem atemzuglangen Sturz ins Wasser platschte, liefen der Himmel und sein Gesicht in immer größer werdenden Ringen auseinander. "Wasser ist da!", rief Abouli seinem Vater zu, und mit einem erleichterten Seufzer sagte Achmed: "Das ist gut. Hamdulillah! Allah sei Dank!" Sie stiegen ab und fesselten die Kamele. Khalid holte einen an einem langen Seil hängenden Beutel aus einer Tasche, die sein Lastkamel schleppte. Er fädelte das Tau durch die an der Spitze der drei Stangen angebrachte hölzerne Rolle und ließ das Schöpfgefäß hinunter. Mindestens zwölfmal musste er nachfassen, um es wieder hochzuziehen. Doch dann war Wasser darin, köstliches, frisches Wasser. Allahs Geschenk an alle Wüstenbewohner. Zuerst wurden die Kamele getränkt. Sie hatten vor vier Tagen das letzte Mal ihren Durst löschen können und deshalb drängelten sie sich um den vollen Wassersack. Einige von ihnen brauchten zwölf Säcke, bevor sie genug hatten. Takajedu und Achmed lösten Khalid ab, als er müde wurde, und Suleiman und Abouli holten das Wasser für ihre Kamele selbst herauf.

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