Stromversorgung:"Stromnetz eines Dritte-Welt-Landes"

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Kein Terroranschlag lag vor, sondern eine verheerende Kettenreaktion, die Experten auf die Überlastung und Überalterung des amerikanischen Stromnetzes zurückführen.

Schlug ein Blitz in einem Kraftwerk ein oder schaltete sich ein Atommeiler nach Überhitzung automatisch ab?

Nach Ansicht des Experten Philipp Harris muss der Zusammenbruch des Netzes von einem großen Kraftwerk im Norden des US-Bundesstaates New York oder in Kanada ausgegangen sein. Nachgeschaltete Generatoren hätten vermutlich ihre Leistung heraufgefahren, um die fehlende Energie zu kompensieren, sagte der Chef des Regionalnetzes PJM Interconnection der "Washington Post". Dies habe Stromleitungen und Transformatoren schnell überfordert. Daraufhin seien im Netz ähnlich wie in einem Haushalt die Sicherungen herausgeknallt. Stück für Stück habe sich die Stromversorgung zum Schutz der Kraftwerke selbst abgeschaltet.

Die Suche nach der Ursache

Fast so schnell wie die Drähte liefen die Spekulationen über den Auslöser heiß. Die kanadischen Behörden sorgten mit widersprüchlichen Angaben für Verwirrung. Erst hieß es von höchster Stelle, in einem Kraftwerk des Konzerns Con Edison auf der US-Seite der Niagarafälle sei ein Feuer ausgebrochen. Doch der Konzern hat in dieser Gegend gar kein Werk.

Wenig später hieß es aus dem kanadischen Verteidigungsministerium, ein Blitz sei in ein US-Kraftwerk eingeschlagen. Der Minister selbst spekulierte, der Ausfall habe in einem Atommeiler im US-Bundesstaat Pennsylvania begonnen. Die US-Behörden dementierten Verschulden auf ihrer Seite, trugen aber zunächst nichts zur Aufklärung bei.

Immerhin waren sich die Experten schnell einig, dass der Stromausfall ein Schlaglicht auf die Vernachlässigung des nordamerikanischen Energienetzes geworfen habe. Denn normalerweise dürfe der Ausfall eines Kraftwerks allein nicht einen solchen Zusammenbruch verursachen. Einerseits wachse die Bevölkerung und verbrauche mit ihren Klimaanlagen, Computern und Haushaltsgeräten immer mehr Strom, sagt T.C. Cheng, Professor für Ingenieurwissenschaften an der Universität von Südkalifornien (USC).

Andererseits verzögerten Geldmangel und Umweltbedenken seit Jahren die Erneuerung des Systems. Wenn dann ein Blitzschlag, heißes Wetter und das Versagen eines Computers zusammenkämen, könne das Netz nicht standhalten. "Wir sind eine Supermacht mit dem Stromnetz eines Dritte-Welt-Landes", klagt der Gouverneur von New Mexico und ehemalige Energieminister Bill Richardson.

Bewährter Heimatschutz

Nicht für alle Beteiligten war der Stromausfall am Donnerstagabend ein Ärgernis. Der von US-Präsident George W. Bush nach dem 11. September forcierte Heimatschutz nutzte ihn als erste Bewährungsprobe. Binnen weniger Minuten sei der Kontakt zu den Stromversorgern hergestellt worden, sagte ein Ministeriumssprecher der "Washington Post". Noch am Abend konnte Bush höchstpersönlich Entwarnung geben: "Ich kann sicher sagen, dies war nicht das Werk von Terroristen", erklärte er auf einer Wahlkampfreise vor Journalisten.

Hoher Stromverbrauch

"Das US-Netz arbeitet stets an der Grenze. Speziell an den heißen Sommernachmittagen, wenn alle Klimaanlagen laufen, entsteht in den USA der höchste Stromverbrauch", sagte Werner Leonhard, emeritierter Professor für Regelungstechnik an der TU Braunschweig. Dann könne es schnell zu einer Überlastung einer der großen Leitungen kommen, die dann aus Sicherheitsgründen automatisch abgeschaltet werde. Dadurch verteile sich die Last auf die verbleibenden Leitungen, die ihrerseits überlastet würden. "Schließlich schaltet auch diese parallele Leitung ab", sagte Leonhard.

Dies setze sich binnen Minuten und über weite Entfernungen fort und führe zum Ausfall großer Teile der Stromversorgung. In den riesigen USA komme hinzu, dass es mehr und wesentlich längere Stromleitungen gebe. "In Deutschland gibt es dagegen eine viel enger vernetze Stromversorgung mit mehr Kraftwerken", ergänzte der Professor.

Strom muss Rendite abwerfen

"In den USA ist die Energieversorgung durchweg privatwirtschaftlich organisiert", sagte Leonhard. "Deshalb gibt es ein großes Interesse an einer gesunden Rendite." Aus diesem Grund würden Kraftwerke und Leitungsnetz "dicht am Limit" betrieben, was schneller zu einer Überforderung des ganzen Systems führen könne. "In Deutschland haben wir zurzeit noch mehr Reserven." Wenn hier zu Lande aber auch künftig weniger in neue Kraftwerke und Leitungen investiert werde, könne es auch in Deutschland zu ähnlichen Problemen kommen.

Nach Angaben Leonhards nutzen einige Stromproduzenten der USA die maximale Kapazität ihrer Kraftwerke gar nicht aus, um die Großhandelspreise für den Strom künstlich hoch zu halten. "Da wurden Spielchen mit dem Strom getrieben." Die Folgen dieser Politik seien bislang besonders im US-Staat Kalifornien sichtbar geworden.

Kraftwerke müssen langsam hochgefahren werden

Das Wiederanfahren der Kraftwerke wird nach seinen Angaben viele Stunden dauern. Diese Zeit sei nötig, damit sich die Kraftwerke untereinander koordinieren können. Wenn Spannung, Frequenz und Phase des Stroms nicht übereinstimmten, käme es erneut zu Störungen und Abschaltungen. "Wahrscheinlich werden einige Kraftwerke mit Notstromaggregaten wieder gestartet, um dann benachbarte Werke mit Energie zu versorgen." Die auf diese Weise entstandenen so genannten Inselnetze müssten dann nach und nach miteinander verbunden werden.

(sueddeutsche.de/ dpa/ AFP)

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