Streit um Koma-Patientin:Auf Leben, Tod und Macht

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Seit 15 Jahren wird Terri Schiavo in Florida künstlich ernährt- warum das Schicksal der Wachkoma-Patientin nicht nur George W. Bush, sondern ganz Amerika bewegt.

Von Andrian Kreye

Es war mehr als nur eine dramatische Geste, als Präsident George W. Bush am Sonntagmittag seine Osterferien unterbrach und beherzten Schrittes über den Rasen seiner Ranch im texanischen Crawford zum präsidialen Hubschrauber Marine One eilte. Es war ein Fanal.

Protest vor dem Woodside Hospiz, in dem Terri Schiavo von Apparaten am Leben gehalten wird. (Foto: Foto: Reuters)

Ein einziges Menschenleben wollte der Präsident retten, der solche Ferien sonst weder für Krisen noch Kriege unterbricht. Und mehr noch - mit seinem Kampf für die 41-jährige Wachkoma-Patientin Theresa Maria Schiavo würde er im ideologischen Grabenkrieg zwischen Konservativen und Liberalen an gleich mehreren Fronten politische Siege davontragen.

Als er dann auf dem Rollfeld in Waco bei strahlendem Sonnenschein vom Hubschrauber zur Präsidentenmaschine Air Force One marschierte, winkte er kurz und entschlossen in die Kameras des Pressecorps.

Am Freitag hatten die Ärzte im Hospiz von Pinellas Park in Florida auf Wunsch von Terri Schiavos Ehemann Michael den Schlauch entfernt, mit dem die Frau seit 15 Jahren künstlich ernährt wird. Ein Bezirksrichter hatte nach sieben Jahren erbitterten Prozessierens zwischen Michael Schiavo und den Eltern der Patientin, Mary und Bob Schindler, entschieden, die Beteuerungen des Ehemannes zu akzeptieren, seine Frau habe in ihren gesunden Jahren immer wieder gesagt, sie wolle niemals in dieser Weise dahinsiechen.

Diese Erklärungen entsprächen der Wahrheit, der Ehemann habe deshalb als gesetzlicher Vormund das Recht, den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen zu fordern, auch wenn Terri Schiavo ihren Wunsch nie schriftlich festgelegt habe.

Kurz bevor Bush seine Reise nach Washington antrat, hatte sich der US-Senat in einer Sondersitzung des Falles angenommen und einstimmig ein Eilgesetz erlassen, das den Eltern das Recht einräumt, vor dem obersten Bundesgericht, dem Supreme Court, noch einmal um das Leben ihrer Tochter zu kämpfen.

Zuvor hatte sich dieser für nicht zuständig erklärt, weil die Entscheidung über Sterbehilfe die Sache der Bundesstaaten sei. Das Gesetz wurde am selben Abend in einer außerordentlichen Abendsitzung vom Kongress ratifiziert und schließlich gegen Mitternacht von Präsident Bush im Weißen Haus abgezeichnet. War das nicht die beherzte Entschlossenheit, mit der ein Präsident agieren sollte, wenn es um Leben und Tod einer Bürgerin geht?

Wehrlos im Bett

26 Jahre war Terri Schiavo alt, als sie im Februar 1990 einen Herzinfarkt erlitt, der ihre Hirnfunktionen nachhaltig schädigte. Ein Bild von damals zeigt eine hübsche, junge Frau mit gewellten, dunkelbraunen Haaren und einem strahlenden Lächeln.

Seit ihrem Herzinfarkt lebte Terri Schiavo in einem "anhaltenden vegetativen Zustand" - ein medizinischer Ausdruck, der bewusst darauf anspielt, dass ein solcher Patient nur noch über Hirnleistungen verfügt, die ihn auf das vegetative Funktionieren pflanzlichen Lebens reduziert.

Herzzerreißend sind die Bilder von der Patientin heute - da liegt sie mit weit aufgerissenen Augen wehrlos in ihrem Bett, die kraftlosen Gesichtszüge erinnern nur noch entfernt an die junge Frau von damals. Ihr Blick irrt hilfesuchend umher. Als ihr die Mutter einen zarten Kuss auf die Wange drückt, schließen sich die Augen, und der krampfhaft geöffnete Mund scheint zu lächeln.

Doch wer will so leben? Glaubt man Terris Ehemann, dann hatte sie bei Bewusstsein deutlich gesagt, sie wolle nicht künstlich am Leben erhalten werden. Gerichtliche Untersuchungen ergaben, dass sie das Gleiche bei mehreren Gelegenheiten und bei zwei Begräbnissen von Verwandten auch gegenüber anderen Personen geäußert hatte.

"Terris Gesetz"

Terri Schiavos Eltern und Geschwister lehnen als strenggläubige Katholiken jedoch jede Form von Sterbehilfe kategorisch ab. Unterstützt werden sie darin von der "Recht auf Leben"-Bewegung konservativer und christlicher Amerikaner, die auch gegen die Abtreibung zu Felde ziehen. Zu Hunderten demonstrieren deren Anhänger seit Tagen vor dem Hospiz, vor Michael Schiavos Haus und vor dem Amtssitz des Gouverneurs von Florida, George W. Bushs Bruder Jeb.

Schon zwei Mal war der Schlauch für die künstliche Ernährung in den vergangenen Jahren entfernt worden - einmal nach dem Urteil eines Bezirksrichters in Florida, das andere Mal, nachdem Gouverneur Jeb Bush "Terris Gesetz" erließ, das von einem anderen Gericht später für verfassungswidrig erklärt wurde. Dabei hatte Terri Schiavo sechseinhalb Tage ohne Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr überlebt.

Nach Meinung der Ärzte würde sie auch diesmal ein bis zwei Wochen weiterleben. Doch der Fraktionsführer der Republikaner im Kongress, Tom Delay, wurde nicht müde zu beteuern, die Gesetzgeber würden nicht ruhen, bevor Terri Schiavo "wieder Nahrung und Wasser bekommt" und sie würden "zu Gott beten, dass sie durchhält".

Es war also nicht nur der Präsident, nein sämtliche Zweige des amerikanischen Staates kämpften hier um das Leben einer einzelnen Bürgerin und um ihr Recht, nicht verhungern oder verdursten zu müssen. Wer will dagegen schon argumentieren? Wer will einer hilflosen Kreatur wie der Wachkoma-Patientin Terri Schiavo Nahrung und Wasser versagen?

Der rechtskonservative Nachrichtensender Fox News spielte am Sonntag ein Tonband ab, auf dem Terri Schiavos Vater zu seiner Tochter spricht. Darauf hörte man die leise, liebevolle Stimme des Vaters und schließlich ein gutturales Aufstöhnen. Das sei der Beweis, dass Terri kommuniziere, meldete Fox News. Kurze Zeit später berichtete derselbe Sender, vier Männer seien gewaltsam in das Hospiz eingedrungen, um "ihrer Schwester" Wasser zu bringen.

Terri Schiavo mit ihrer Mutter. (Foto: Foto: dpa)

Das Thema Sterbehilfe wird in den USA schon länger diskutiert. Clint Eastwoods Boxerfilm "Million Dollar Baby" beschäftigt sich auf hochemotionale Weise damit, wurde dafür zwar mit Oscars ausgezeichnet, aber von Konservativen, Kirchen und Behindertenorganisationen scharf angegriffen.

Im Film geht es nicht nur um Leben und Tod, sondern auch um den Gewissenskonflikt eines Katholiken, der mit den Dogmen seiner Kirche hadert. Einen Oscar bekam auch Alejandor Amenabárs Film "Das Meer in mir", in dem Javier Bardem den querschnittgelähmten Ramón Sampedro spielt, der in Spanien 30 Jahre lang darum gekämpft hat, sterben zu dürfen.

Auch das Thema Wachkoma wurde vor kurzem von der Popkultur behandelt. In einer Folge der Fernsehserie "Emergency Room" spielte die aus "Sex and The City" bekannte Schauspielerin Cynthia Nixon eine junge Mutter, die nach einem Hirnschlag ins Wachkoma fällt. In dramatischen Szenen hörten die Zuschauer den inneren Monolog der vermeintlich regungslosen Patientin, die jedoch genau die Diskussionen zwischen den Ärzten und ihrem Mann verfolgt, ob man sie einer riskanten, aber vielversprechenden Operation unterziehen wolle.

Moraldebatte auf politischer Ebene

Nun gibt es in dieser Debatte keine einfachen Antworten. Die Gerichte in Florida haben es sich auch keineswegs leicht gemacht. Sieben Jahre lang hatten sie den Fall erörtert, bevor Gesetzgeber und Präsident an diesem Wochenende so beherzt und rasch handelten. Auch Bush wollte sich ja keineswegs anmaßen, über Leben und Tod von Terri Schiavo zu entscheiden.

"Heute habe ich ein Gesetz unterzeichnet, das dem Supreme Court erlaubt, eine Klage anzunehmen, die im Namen Terri Schiavos gegen die Verletzung ihrer Rechte in Bezug auf den Entzug von Nahrung, Wasser und medizinischer Maßnahmen, die nötig sind, ihr Leben zu erhalten, erhoben wird." Wieder also die Reduktion der Debatte auf den schlichten Tatbestand, dass hier einer wehrlosen Kreatur die grundlegendsten Dinge versagt werden. Dagegen ist nur schwer zu argumentieren.

Doch wie bei den meisten Moraldebatten, die auf politischer Ebene geführt werden, stehen auch hinter dem Kampf um Leben und Tod der Terri Schiavo politische Interessen. Die Mediziner und Experten, die sich konkret mit Terri Schiavo befassten, sprechen eine andere Sprache. Eine Computertomografie hat ergeben, dass ihr Großhirn vollständig abgestorben sei.

Lediglich Klein- und Stammhirn arbeiteten noch, erklärten die Experten. Terri Schiavo empfinde deswegen weder Schmerz, noch könne sie sich ihrer Lage auch nur ansatzweise bewusst sein. Egal, wie entschieden werde, ob sie durch den Abbruch von Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sterbe, oder weiter vor sich hin vegetiere, man könne nicht annehmen, dass sie leide.

Die Bioethikerin Alta Charo von der University of Wisconsin äußerte allerdings Verständnis für die Eltern. Die gesunde Gesichtsfarbe, der warme Körper und Restreflexe wie Schlafzyklen, Augenzwinkern und ein unsteter Blick erweckten den Eindruck, da kämpfe noch ein Mensch um sein Bewusstsein, auch wenn dieses Bewusstsein schon vor Jahren unwiederbringlich verloren ging.

Die Dramatik und der Zeitdruck, mit der George W. Bush und seine Parteigänger im Kongress nun zu Werke gingen, waren jedenfalls übertrieben. Bush hätte das Gesetz auch, wie er es sonst tut, auf seiner Ranch in Texas unterzeichnen können. Die sechs Stunden Flugzeit, welche für den Hin- und Rücktransport der Dokumente zwischen Washington und Crawford nötig sind, hätten bei Terri Schiavo kein Leid verlängert und auch ihr Leben nicht gefährdet.

Signal an die Fundis

Auch der Kongress hatte seine Osterferien unterbrochen. Am Sonntagabend um neun Uhr traten die Abgeordneten des Repräsentantenhauses zusammen. Um 32 Minuten nach Mitternacht segneten sie das Eilgesetz des Senats mit 203 zu 58 Stimmen ab, 174 Abgeordnete enthielten sich. Auch wenn hier nur eine Formalität per Gesetz entschieden wurde, die symbolische und effektive Wirkung ist nicht zu unterschätzen.

Schon die Wahl des letzten Wochenendes vor Ostern ist für religiöse Amerikaner von enormer Bedeutung. Darauf wies Fraktionsführer Tom Delay nebenbei hin, als er sagte: "Terri Schiavo hat das Passionswochenende überlebt und wurde nicht im Stich gelassen."

Für die fundamentalistischen Stammwähler der Republikaner ist die Botschaft klar - der Präsident hat mit der gesetzlichen Verlängerung von Terri Schiavos Leben symbolisch den Leidensweg des Erlösers Jesu Christi aufgehalten.

Auch Bush ließ biblische Töne anklingen: "In Fällen voller Fragen und Zweifel wie diesen sollten unsere Gesellschaft, unsere Gesetze und unsere Gerichtshöfe im Zweifel für das Leben entscheiden. Diese Entscheidung ist vor allem für solche Menschen wie Terri Schiavo wichtig, die auf die Gnade anderer angewiesen sind."

Laut Presseberichten zirkulierte in Washington schon länger das Memorandum eines anonymen Republikaners, der darauf hinwies, dass der Fall Schiavo für die Demokraten "eine harte Nummer" sei. Welcher Politiker will sich schon dafür stark machen, dass einer Komapatientin Nahrung und Wasser entzogen wird, nur um Prinzipien zu verteidigen?

Bush konnte einiges bei seinen christlichen Stammwählern wettmachen. Denn moralische Wahlkampfthemen dienen meist nur dazu, die konservative Basis zu mobilisieren. Nach einem Wahlsieg lassen sich die Versprechungen nur selten einhalten. So sind die Verfassungszusätze wieder in Vergessenheit geraten, welche die Schwulenehe verbieten und die Abtreibung kriminalisieren sollten.

Den wahren Sieg hat George W. Bush allerdings für das Ansinnen seiner Partei davongetragen, eine so überwältigende und dauerhafte Übermacht zu erlangen, dass die Republikaner die amerikanische Gesellschaft in zwei, drei Generationen nach ihren ideologischen Vorstellungen umformen können.

Vorbild dafür ist Präsident Franklin D. Roosevelt, der mit seinem erfolgreichen Kampf gegen die Depression in den dreißiger Jahren eine jahrzehntelange Vorherrschaft der Demokraten begründete, die in dem basiskapitalistischen Staat der USA ein umfassendes Sozialsystem installierten.

Eine der letzten Bastionen der Macht, die der heutigen Oppositionspartei nach der Wiederwahl Bushs, der Übermacht der Republikaner im Senat wie im Kongress sowie der Berufung konservativer Richter an die Bundesgerichtshöfe noch bleibt, sind die Regierungsorgane auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene. Sie haben in den USA weit mehr Macht als in anderen föderalistischen Staaten.

Gewisse Widersprüche

Gerade Entscheidungen über Leben und Tod gehören in den Einflussbereich der bundesstaatlichen Stellen und Gerichte. Diese zeigten sich bisher noch überwiegend liberal. Sollte die Trennung der Machtbereiche zugunsten der Bundesregierung aufgehoben werden, wäre die Vormacht der Regierungspartei so gut wie unbeschränkt.

Die Opposition zeigte sich nach dem Beschluss entsprechend verzweifelt. Der demokratische Abgeordnete Robert Wexler aus Florida hatte in der Debatte noch leidenschaftlich argumentiert: "Wären wir hier, wenn das Gericht für die Eltern gestimmt hätte? Nur weil die Mehrheit mit der Entscheidung eines Gerichtshofes nicht zufrieden ist, werden wir nun über 200 Jahre Rechtsgeschichte unterlaufen."

Womit er nicht ganz Recht hat. Nach einer Umfrage des Nachrichtensenders CNN glauben 64 Prozent aller Amerikaner, dass der Ehemann über Terri Schiavos Schicksal entscheiden sollte, und nur 25 Prozent, dass dies auch Sache der Eltern sei.

Wir haben heute keinen einzigen Experten, keinen einzigen Zeugen gehört", sagt Wexler. Seine Parteikollegin Debbie Wasserman-Schultz klagte:

"Ich bin kein Arzt und kein Bioethiker. Wir sind nicht Gott, wir sind auch nicht Terris Mann, Schwester, Bruder, Onkel oder Cousin. Wir sind Abgeordnete des Kongresses, und als solche haben wir ausschließlich die Aufgabe, Gesetze zu erlassen und die Verfassung aufrecht zu erhalten. Und der haben wir heute die Zunge rausgestreckt."

Sie erkannte gar einen grundlegenden Wandel der Sozialpolitik: "Heute hat sich der Kongress in das Leben aller Familien eingemischt."

Todesstrafe in krassem Widerspruch zum Kampf für das Leben

Damit hat sie auch die Widersprüche angesprochen, die der von Moral und christlichen Werten getragenen Sozialpolitik der Konservativen innewohnt. Während einerseits das Leben in Bezug auf Abtreibung und Sterbehilfe um jeden Preis geschützt wird, verhindern christliche Dogmen eine Forschung, die mit Gentechnologie Heilung bringen könnte.

Gleichzeitig argumentierten die Republikaner im Falle Terri Schiavo, die Medizin sei heute viel weiter als vor 15 Jahren, man müsse ihr die Chance geben, so lange zu überleben, bis vielleicht Heilmethoden gefunden würden. Was im Falle eines abgestorbenen Haupthirnes allerdings medizinisch höchst fraglich ist.

Gleichzeitig steht das Verhältnis amerikanischer Konservativer zur Todesstrafe in krassem Widerspruch zum Kampf für das Leben. Und keiner hat sich so unerbittlich für die Ausführung von Todesurteilen eingesetzt wie George W. Bush als Gouverneur von Texas.

Vor dem Hospiz in Pinellas Park feierten die Demonstranten den Sieg über das Gerichtsurteil mit Kerzen und Jubel. Terri Schiavos Familie trat kurz vor die Presse. Ihre Schwester Suzanne Vitadamo sagte: "Wir sind sehr, sehr, sehr dankbar, dass wir diese Brücke überquert haben. Und wir sind voller Hoffnung, dass der oberste Gerichtshof dem Willen des Kongresses folgen und das Leben meiner Schwester retten wird."

Terri Schiavos Mann Michael gab keinen Kommentar ab. Lediglich sein Bruder Brian trat zornig vor die Kameras. Als er durch den Vorgarten zum Haus zurückging, setzte sich die Sprinkleranlage in Gang. Für die christlichen Demonstranten vor dem Haus ein weiteres Symbol. "Wie kann er seinen Rasen wässern, wenn er seiner durstenden Frauen das Wasser verweigert?", rief eine Demonstrantin. Schiavos Anwalt will nun darauf plädieren, dass das Gesetz vom Sonntag der amerikanischen Verfassung widerspreche.

© SZ vom 22.3.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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