Sportsoziologe:"Zerstörerisch"

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Gunter Gebauer, 73, ist einer der renommiertesten deutschen Wissenschaftler für Philosophie und Sportsoziologie. Er ist Professor an der FU Berlin. Den Weg Beckers verfolgt er seit dessen Wimbledon-Sieg 1985. (Foto: Martin Hoffmann/imago)

Der Wissenschaftler Gunter Gebauer über Boris Becker, öffentlich inszeniertes Heldentum und kleinbürgerliche Attitüde.

Interview von Gerald Kleffmann

SZ: Herr Gebauer, wie sehen Sie als Soziologe den Fall Boris Becker ?

Gunter Gebauer: Es handelt sich um die klassische Heldengeschichte. Mit 17 Jahren wurde Becker in eine Heldenhülle gesteckt. Er wurde aus einem normalen Lebensabschnitt rausgeschnitten. Ab diesem Moment galten normale Moralgesetze für ihn nicht mehr.

Wie meinen Sie das?

Bei Heldenfiguren wird alles Negative ausgeblendet. Diese Nachsicht reflektiert auf den Sportler. Das ließ sich auch am Fall Beckenbauer verfolgen, der als Heiliger galt. Bei den Betroffenen kann diese Behandlung zu einem Gefühl der Unverwundbarkeit wachsen. Dass sie sich unantastbar fühlen. Grenzen ausreizen. Lange schützt die Hülle. Aber irgendwann kippt die öffentliche Wahrnehmung.

Wann?

Der Sportler Becker wurde für seine Eigenschaften bewundert, Mut, Risikolust, Kaltblütigkeit. Es war mitreißend, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand und zurückkam. Nur: Die Eigenschaften, die im Sport funktionieren, werden oft im privaten Leben nicht mehr geschätzt. Zu viel Risiko wird als verantwortungslos empfunden. Je mehr Angriffsfläche jemand bietet, desto wahrscheinlicher ist, dass die Liebe umschlägt. Die Öffentlichkeit will den Helden nicht zerstört sehen.

Dann ist hier der Täter auch Opfer?

Der Fall ist vielschichtig. Es wäre billig, ihn nur als Täter zu sehen. Becker ist zwischen vielen Schubladen eingeklemmt. Natürlich ist er der Hauptverantwortliche. Er hat sich maßlos Geld geliehen, Vereinbarungen gebrochen, sich offenbar übernommen mit Geschäften. Andererseits: Angebliche Bekannte oder Freunde haben ihm immer wieder Geld gegeben, Abhängigkeiten geschaffen und Beckers Verhalten erst recht gefördert. Das war eine zerstörerische Wechselwirkung. Wenn die Öffentlichkeit empfindet, dass in der Heldenhülle eine Schrumpffigur nur noch steckt, zerbröselt die Hülle.

Über den Fall wird groß berichtet. Ist das gerechtfertigt - oder sind Beckers Schulden seine Privatsache?

Die Suche nach persönlichsten Details ist einerseits eine Zumutung. Andererseits hat sich Becker oft inszeniert und viel preisgegeben. Wer sich auf das Spiel einlässt, muss damit rechnen, dass man sich später nicht darauf berufen kann, man habe diese Öffentlichkeit nie gewollt. Gleichwohl ist klar: Die Öffentlichkeit ergötzt sich auch am Heldenfall. Und das ist eine miese, kleinbürgerliche Attitüde.

© SZ vom 14.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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