Sommerloch 1989:Striptease und andere Formen der Freiheit

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Im Sommer 1989 stimmten Tausende DDR-Bürger mit den Füßen ab. Helmut Kohl brach einen innerparteilichen Konflikt vom Zaun - und Wimbledon war ganz in deutscher Hand.

Bernd Oswald

"Genossen - was nun?", fragte im Sommer 1989 die SZ zehn sozialistische beziehungsweise kommunistische Staaten. Es kriselte unübersehbar in Moskau, Havanna, Prag. Vor allem die DDR-Führung kam in Not - angesichts von Menschenströmen: Die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest sowie die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin quollen mit flüchtigen Landsleuten über. Sie mussten geschlossen werden.

DDR-Flüchtlinge mit ihren Kindern gehen durch ein geöffnetes Grenztor. Etwa 600 DDR-Bürger nutzten das "paneuropäische Picknick" an der ungarisch-österreichischen Grenze, bei dem ein Grenztor symbolisch geöffnet wurde, zur Flucht in den Westen (Foto: Foto: dpa)

Die meisten Flüchtlinge fanden einen besonderen Weg: Ungarn hatte am 27. Juni seine Grenze zu Österreich zwar nicht geöffnet, aber den Stacheldrahtzaun symbolisch durchtrennt und die Überwachungsmaßnahmen heruntergefahren.

Als aus der "DDR" die DDR wurde

Kaum ein Tag verging, ohne dass nicht eine neue Hundertschaft DDR-Bürger über die (grüne) Grenze nach Österreich und von dort in die Bundesrepublik pilgerte. Die SZ sprach im Sommer 89 von einer "Fluchtflut aus Hoffungslosigkeit" und machte eine Reihe von Motiven aus: "Die Reisebeschränkungen, die diktatorischen Verhältnisse, das ewige Warten auf die Wohnung und aufs viel zu teure Auto, die Machenschaften derjenigen, die halt die richtigen Beziehungen haben, die Hoffnungslosigkeit".

Am 1. August verzichteten die Postillen des Axel Springer Verlages darauf, die DDR in Anführungszeichen zu setzen. Der selbst ernannte Bannerträger der deutschen Einheit, Axel Springer, hatte damit den provisorischen Charakter des Arbeiter- und Bauern-Staates verdeutlichen wollen. Und ausgerechnet nun, da der Zusammenbruch der DDR bevorstand, verzichteten die Springer-Chefs auf ihren jahrzehntelang bewusst gesetzten publizistischen Nadelstich.

Auch abseits der Kalten-Krieg-Schauplätze verfolgten die westdeutschen Medien das Leben in der DDR, etwa mit einem Blick in die ostdeutsche Zeitschrift Journal für die Unterhaltungskunst. Dort stand zu lesen, dass der Striptease in der DDR zunehmend in Mode komme. Der Entkleidungstanz werde immer häufiger als "Krönung" von Erotik-Shows geboten; Sexualwissenschaftler Rainer Nabielek konstatierte einen "großen Bedarf an erotischen Darbietungen".

Grüne provozieren Grauen-Gründung

Mit Liebesentzug bestrafte hingegen Bundeskanzler und CDU-Chef Helmut Kohl seinen Generalsekretär Heiner Geißler. Im August überraschte Kohl seine Partei mit der Ankündung, Volker Rühe zum neuen Generalsekretär machen zu wollen. Kohl hatte Geißler wohl übelgenommen, dass sein langjähriger Paladin sich zusehends zu einer Art "geschäftsführendem Vorsitzenden" entwickelt hatte.

Auch im linken Spektrum der Bundespolitik kriselte es. Seit Jahren hatten der Seniorenschutzbund Die Grauen Panther und die Grünen zusammengearbeitet. Doch im Sommer 1989 funktionierte Trude Unruh die Grauen Panther zur Partei um. Den Grünen, für die die parteilose Unruh seit 1987 im Bundestag saß, missfiel eine Quotenregelung für Vertreter der Grauen Panther. Eine der wenigen Quotenregelungen, die die Grünen abgelehnt haben ...

Schrotkugel-Lemond besiegt Sonnenkönig Fignon

Kurios ging es bei der Tour de France zu. Damals beherrschte nicht (das sicher auch schon praktizierte) Doping die Schlagzeilen, sondern das packende Duell zwischen dem französischen Intellektuellen-Radstar Laurent Fignon und dem nach einem Jagdunfall mit 30 Schrotkugeln im Rücken angetretenen Amerikaner Greg Lemond.

Dreimal wechselte das gelbe Trikot zwischen den beiden, bevor Fignon mit 50 Sekunden Vorsprung in die letzte Etappe ging. Der Franzose, der zwei Semester Mathematik studiert hatte, rechnete seinem Rivalen vor: "Ich müsste im Zeitfahren pro Kilometer zwei Sekunden gegen Greg Lemond einbüßen, das sind 30 Meter pro Kilometer, und das ist nicht möglich." Auch die SZ sprach schon vom Sonnenkönig Fignon.

Doch am letzten Tourtag startete Lemond mit windschnittigem Helm, Triathlon-Lenker und Schwungrad und strafte Fignon Lügen: 58 Sekunden nahm er dem Lokalmatador ab - und damit auch den Sieg.

Gleich einen deutschen Doppelsieg gab es beim Tennisturnier von Wimbledon zu bestaunen: Deutschland war Tennis-Weltmacht. Zum Champions Dinner gaben sich Steffi Graf und Boris Becker in ungewohnter Abendgarderobe die Ehre.

Vom Siegeszug der Techno-Bewegung ahnte die Öffentlichkeit noch nichts, als am 1. Juli in Berlin die erste Love Parade stattfand. Für Schmunzeln sorgten die 257 Toiletten im Palast des Sultans von Brunei, und in Iran wurde der Ayatollah Khomeini wenige Wochen nach seinem Tod auf Briefmarken verewigt - zu Lebzeiten hatte er es abgelehnt, dass der Staat Geld für den Abdruck seines Konterfeis ausgab.

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