Sommerloch 1964:Das totale Dekolleté

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Zeit für nackte Tatsachen: Ein Österreicher erfindet den Bikini ohne Oberteil. Deutschland ist schockiert, Frankreichs Innenminister alarmiert. Nur der Erzbischof von Canterbury gibt sich tolerant.

Johannes Honsell

Sommer, Sonne, Badewetter. Zeit für nackte Tatsachen. Das zumindest muss sich der österreichische Modeschöpfer Rudi Gernreich gedacht haben, als er im Sommer 1964 den oberteillosen Bikini ersann.

(Foto: Zeichnung: Laura Breier)

Das Ganze sah so aus: Unten ein Höschen aus den Fünfzigern, formverleugnend comme il faut, oben dann im Gegenzug nur zwei Schnüre, überkreuz zu den Schultern, wobei sie auf ihrem Weg dorthin nicht an den Brustwarzen vorbeikamen. Mini-Bikini hieß das. Im Sommer 1964 trauten sich ein paar Damen damit tatsächlich an den Strand. Aufruhr.

Der französische Innenminister erließ ein landesweites Verbot, nachdem mancher Bürgermeister seine Polizei angewiesen hatte, den "Anhängerinnen der neuen Mode möglichst großzügig" zu begegnen.

Der Erzbischof von Canterbury, Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche, bat um Toleranz: "Nur bei ausgesprochenen Unanständigkeiten sollte ein Christ seine Abscheu äußern."

Endlich Tausender

Damit reagierte die englische Kirche entspannter als die deutschen Bademeister. In Bad Godesberg planschte eine Dame leichtgeschnürt: Was tun? Der verstörte Wasserwart befragte die Rechtsabteilung seiner Behörde, die gebar eine Verordnung: Trägerinnen des Mini-Bikinis sollten "Leihbadeanzüge angeboten" werden.

Das "Totale Dekolleté" (SZ) schaffte es nicht ganz in den Modekanon, überhaupt verebbte das Interesse am Mini-Bikini schon Ende Juli, es harrten schließlich noch viele Themen einer Schlagzeile: die Bürgerrechte der Schwarzen ("Negerunruhen in Harlem"), die Telefontarife ("Stoppt den Wucher") oder die kaum zu bändigenden Touristenströme ("Züge bis zu 120 Prozent besetzt").

Letztere schwollen auch dadurch an, dass inzwischen ganz viele Deutsche ein Auto inklusive Wohnwagen hatten, mit dem sie in den Urlaub fuhren. "Aus der Nation der Mitläufer droht ein Volk der Anhänger zu werden", kalauerte der Spiegel und erkannte den Wert des Caravans als Statussymbol: "An der Länge bemisst sich der Rang seines Eigentümers." Im selben Jahr kamen die Tausendmarkscheine in Umlauf.

Es gab eben noch Dinge, die mehr zählten als nackte Tatsachen.

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