Sleep Sex:Verbrecher im Pyjama

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Wer schläft, sündigt nicht: Weshalb ein traumwandelnder Vergewaltiger in Großbritannien freigesprochen wurde.

Christina Berndt

Arglos ging die junge Frau mit dem netten Mann nach Hause. Sie hatten viel Spaß gehabt bei ihrer Tour durch die Kneipen von York, und jetzt wollten sie nur noch schlafen. Ganz brav.

Grauen in der Nacht: Wenn der Partner zum Triebtäter wird und nicht zu wecken ist. (Foto: Foto: dpa)

Er auf seinem Sofa, sie in seinem Bett. Allem Anschein nach schliefen beide dann auch. Nur war der junge Mann nicht brav.

Als die Frau irgendwann in dieser Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde, fand sie sich unter ihrem Gastgeber wieder. Der hatte ihr die Hose ausgezogen und war in sie eingedrungen. Auch ihr Schreien und Kratzen konnte ihn nicht dazu bringen, von ihr abzulassen.

Dennoch konnte James Bilton nichts für die Vergewaltigung in seinem Apartment in der Hope Street. So jedenfalls urteilten die zwölf Geschworenen des Yorker Gerichts, vor dem die Vergewaltigung in dieser Woche verhandelt wurde.

Ein Experte aus London hatte den sieben Frauen und fünf Männern versichert, dass der 22-jährige Bilton geschlafen habe, als er seine Bekannte vergewaltigte - "sehr schnell, roh, rücksichtslos und ohne Gefühl", wie die junge Frau aussagte.

Seine Augen hätten in die Leere gestarrt. "Sie sahen wirklich merkwürdig aus, als wäre er auf Drogen gewesen." Später habe er regungslos weitergeschlummert, und am nächsten Tag konnte er sich an nichts erinnern.

Der Fall hat in Großbritannien nicht nur Frauenrechtlerinnen empört. Nicht einmal sechs Prozent aller Angeklagten, die wegen Vergewaltigung vor dem Kadi landen, werden auf den britischen Inseln verurteilt.

Die Quote sei nach Irland die niedrigste in ganz Europa, beklagte auch die Times. Und dann ein Freispruch mit so einer faulen Ausrede?

"So absurd es einem auch erscheinen mag: Es gibt tatsächlich Menschen, die im Schlaf schreckliche Dinge tun", sagt Göran Hajak von der Universität Regensburg. In seinem Schlaflabor hat der Psychiater bereits einige solcher Leute untersucht, die nachts handeln, als wären sie nicht sie selbst.

Das Gewissen schläft

Es war Hajaks Gutachten, das 1999 dafür sorgte, dass ein deutscher Vater freigesprochen wurde, der seine fünfjährige Tochter erwürgt hatte, während das Mädchen schlief - ebenso wie er selbst.

Bis dahin war der Mann ein liebevoller Vater gewesen. Nichts deutete darauf hin, dass die Beziehung zu seiner Tochter oder zu seiner Frau gestört war. "Als der Mann erfuhr, was er da angerichtet hat, war er fassungslos", sagt Göran Hajak. Wie der Vergewaltiger James Bilton konnte er sich an nichts erinnern.

Aggression, Gewalt, Sex: Im Schlaf scheinen mitunter die am tiefsten verwurzelten Triebe des Menschen durchzuschlagen - gerade jene also, die tagsüber meist stark kontrolliert werden.

"Auf den ersten Blick sieht das zwar nach Schlafwandeln aus", erklärt Hajak, "aber medizinisch betrachtet ist es etwas ganz anderes." Zwar gehören die nächtlichen Gewalttaten ebenso wie das Schlafwandeln, das Bettnässen und das Zähneknirschen zu den Parasomnien.

Doch normale Schlafwandler tun anderen im Allgemeinen nichts. Sie verletzen allenfalls sich selbst, wenn sie die Treppe herunterfallen oder über eine Teppichkante stolpern. Mit der sprichwörtlichen "schlafwandlerischen Sicherheit" ist es nämlich nicht weit her.

Und während Schlafwandler nicht vollständig aus dem traumlosen Tiefschlaf erwachen, schlagen die aggressiven Schläfer in ihren Traumphasen zu - im REM-Schlaf.

Kaum zu wecken

Eigentlich sorgt bei den allermeisten Menschen ein simpler Mechanismus dafür, dass sie ihre Triebe in diesen Phasen gar nicht ausleben können. "Wenn Menschen träumen, sind normalerweise alle Muskeln lahmgelegt", sagt Hajak. Nur das Zwerchfell, das zum Atmen nötig ist, arbeitet und die Augen zucken. Bei Leuten wie James Bilton aber ist der Körper nicht abgeschlafft.

"Ganz im Gegenteil", sagt Hajak. "Menschen mit einer REM-Schlaf-Verhaltensstörung sind in ihren aktiven Phasen oft sehr gewalttätig und sehr schnell."

Obwohl diese Leute schlafen, kann man sie kaum aufwecken. Deshalb hatte auch die junge Britin keine Chance gegen ihren Vergewaltiger. Im Schlaflabor der Universität Regensburg hat einmal ein Mann im Traum heftig mit seinem Bett kopuliert.

Fünf Minuten lang versuchte ein stämmiger Pfleger mit allen Mitteln, den Patienten aus dem Land der Träume zurückzuholen - chancenlos.

"Die Weckschwelle ist im REM-Schlaf oft extrem hoch. Das dient dazu, dass Menschen überhaupt sehr bewegende Dinge in ihren Träumen verarbeiten können, ohne aufzuwachen", vermutet Hajak.

Zwar ließen sich die schlafenden Akteure mitunter ansprechen. "Aber sie antworten dann allenfalls automatisch. Es gibt keine Möglichkeit, ihr Verhalten zu steuern." Während die Muskeln hochaktiv sind, schlafen Gewissen, Scham und Unrechtsgefühl weiter.

Gewalt und Sex während der Traumphase sind Raritäten. "So etwas kommt vielleicht bei einem von einer Million Menschen vor", schätzt Hajak. Doch wenn sich so ein seltener Fall ereignet, ist das Leid oft groß.

Es tröstet kaum einen Ehepartner, wenn Psychiater ihm versichern, dass die aggressiven Übergriffe von der anderen Seite der Bettritze gar nicht gegen ihn persönlich gerichtet sind. "Die Aggressionen treffen den Bettpartner meist nur, weil er einfach in der Nähe ist", sagt Hajak.

Ans Bett gefesselt

Der Schlafforscher kennt Paare, bei denen ein Partner den anderen jeden Abend ans Bett fesselt, damit ihm nichts geschieht. "Die Leute nehmen mitunter Handschellen und verstecken die Schlüssel, weil der Gefesselte sogar die dicksten Knoten aufmacht", sagt er. Die Energie, die durch die Träume freigesetzt wird, scheint grenzenlos.

Dabei leben die Betroffenen gar nicht unbedingt ihre Träume aus. "Wenn ein Mann im Schlaf eine Frau vergewaltigt, heißt das noch lange nicht, dass er von einer Vergewaltigung träumt", sagt Christian Guilleminault.

Der Mann träume oft einfach nur von Sex. Oder auch von gar nichts dergleichen. Der Psychiater und Verhaltensforscher von der Stanford-Universität hat jahrelang Fälle von sexueller Gewalt im Schlaf gesammelt und die Fachwelt mit einem neuen Krankheitsbegriff überrascht: dem Sleep Sex.

"Sleep Sex scheint ein durchweg physiologisches Phänomen zu sein", sagt Göran Hajak. Aus dem Verhalten der Sex-Schläfer lässt sich deshalb seiner Meinung nach auch nichts schließen - anders als etwa bei der Traumdeutung.

"Die Handlungen sind mitunter völlig autonome Verhaltensmuster, die plötzlich und ohne einen psychischen Auslöser auftreten." Schließlich sei sexuelle Erregung im Traumschlaf etwas ganz Normales. In der Regel haben Männer und Frauen nachts Erektionen.

Der Sleep Sex artet auch keineswegs immer in Aggressionen aus. Vor allem die Frauen unter Guilleminaults Patienten onanierten nur - allerdings fast jede Nacht und so intensiv, dass ihre Lustgeräusche ihre Familien aufweckten. Mitunter riefen sogar Nachbarn die Polizei.

Selbst wenn ein Mensch mit einer solchen Störung wie James Bilton nachts zum Tier wird, schlummern in ihm nicht unbedingt unzähmbare Aggressionen.

"Die Leute sind keineswegs gewalttätiger als andere", versichert Göran Hajak. "Das Phänomen kommt bei den harmlosesten, nettesten Menschen vor." James Bilton jedenfalls weinte, als er den Gerichtssaal in York verließ.

© SZ vom 23.12.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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